A. M. Hocart   Ackerbau

 

Eines Tages werden die Studenten einer Vergleichenden Anthropologie durch bloße Strukturanalyse zeigen können, daß das Ritual älter ist als der Ackerbau. Gegenwärtig können wir dies nicht, da die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, daß die heute noch existierenden jagenden Völker ihr Ritual von ackerbauenden Völkern übernommen haben. Dies ist zweifellos der Fall bei den Veddas von Ceylon, die ihr Ritual von den Singhalesen und deren neolithischen Vorfahren haben, und gilt vermutlich ebenso für die australischen Ureinwohner und die afrikanischen Buschmänner.

 

Hier kommt die Archäologie der komparatistischen Methode zur Hilfe, denn sie läßt keinen Zweifel daran, daß das Ritual wesentlich älter als der Ackerbau ist. Was sie nicht erklärt, ist, wie der Ackerbau aufkam. Die Archäologie sagt uns nur, aus welcher Zeit die frühesten Getreidefunde stammen. Sie beschreibt keine Entwicklungsprozesse. Die Archäologen haben sich daher auf ihre Vorstellungskraft besonnen und Spekulationen darüber angestellt, wie der Ackerbau aufgekommen sein könnte. Sie haben spekuliert und spekuliert, aber da sie so wenig vertraut sind mit der «Wissenschaftstheorie» des Menschen auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, sind sie zu keinem Ergebnis gekommen. Man bemüht daher für gewöhnlich den «glücklichen Zufall»: Ein Mensch wirft eines Tages ein paar Samen fort, die er als Nahrung gesammelt hat, die Samen sprießen in der Nähe seines Hauses und produzieren neue Samen, was besagten Menschen auf die Idee bringt, das Ganze zu wiederholen. Natürlich sind solche Zufälle nie beweisbar. Ohne schriftliche Zeugnisse können wir keine Einzelereignisse dingfest machen. Es sind nicht Zufälle, die uns interessieren, sondern Entwicklungen, und eine solche hat zweifellos stattgefunden. Der Ackerbau «wuchs» und nahm Formen an, die wir nicht mit noch so vielen glücklichen Zufällen erklären können. Ein glücklicher Zufall ist nur glücklich, wenn er jemandem widerfährt, der die nötigen geistigen Voraussetzungen besitzt, um den Zufall zu nutzen. Affen mögen noch eine Million Jahre Samen fortwerfen und sie sprießen sehen, sie werden dadurch nicht zu Landwirten. Der Mensch war mit der Erscheinung der Elektrizität mindestens zweitausend Jahre lang vertraut, doch bis im letzten Jahrhundert kam ihm nie der Gedanke, daß er sie für seine Zwecke nutzen könnte. Kein Zufall mochte daran etwas ändern, nur jahrhundertelange physikalische Forschung, die ihn in den Stand setzte, aus dem Zufall die richtigen Schlußfolgerungen zu ziehen.

 

Es sind diese geistigen Voraussetzungen, die den Anthropologen interessieren und die er zu rekonstruieren versucht. Er teilt nicht die Sicht der Archäologen, die davon ausgehen, daß der frühe Mensch zu seinen Erkenntnissen auf anderem Wege gelangt sei als der moderne Mensch, daß es ihm an Intelligenz gemangelt habe, Theorien zu bilden und diese anzuwenden. Kein Mensch – weder der prähistorische noch der moderne – interessiert sich für Dinge, die nicht zu den Vorstellungen und Ideen passen, die ihm bereits geläufig sind.

 

Betrachten wir zum Beispiel die Verwendung von Dünger. Archäologen würden argumentieren, daß sich die Einführung des Düngens der bloßen Beobachtung verdankt. Irgendwer mußte beobachtet haben, daß dort, wo Rinder ihren Dung hatten fallen lassen, Pflanzen besser wuchsen, woraufhin er überall Dung verteilte, um das Wachstum zu befördern. Doch wie sollte er dies beobachtet haben? Die auffälligste Wirkung von Kuhdung ist, daß kein Gras mehr wächst, wo er hinfällt, und die Wirkung des Urins ist erst recht nicht nachweisbar. Selbst wenn er gezielt danach suchte, hätte ein Mensch Mühe, die Wirkung zu beobachten, und er würde nur gezielt suchen, wenn er irgendeine Theorie hätte.

 

Doch einmal angenommen, er hätte durch reine Beobachtung die Wirkung des Dungs entdeckt, so müßte er noch immer seine Zeitgenossen dazu bringen, seine Entdeckung zu übernehmen. Wer glaubt, daß dies einfach sei, gehe hin und versuche die Bodendüngung in einem Volk einzuführen, das noch nie von dergleichen gehört hat. Er wird auf Unverständnis, um nicht zu sagen Abscheu stoßen. Die Fidschianer reagierten jedenfalls entsetzt, als ich versuchte, Yam-Wurzeln mit Rinderkot zu düngen. Wenn die Menschen bereit sind, eine neue Theorie zu übernehmen, dann deswegen, weil eine allgemeine geistige Strömung der Zeit sie dafür empfänglich gemacht hat. Die Theorie der Evolution konnte sich in England erst durchsetzen, als die Biologie und die Paläontologie die alten Glaubensvorstellungen erschüttert hatten und die Begeisterung für den wirtschaftlich-technischen Fortschritt so allgemein geworden war, daß man überall nach Belegen für ebendiesen Fortschritt suchte.

 

Das Prinzip des Düngens konnte nicht ohne Experimente gefunden werden, und Experimente können nicht ohne eine Theorie durchgeführt werden. Die Theorie der «Lebenssäfte» lädt geradezu ein zum Experiment. Wenn man davon ausgeht, daß jedes Tier, jede Pflanze und desgleichen der Mensch von lebenspendenden Flüssigkeiten durchströmt wird, die beim Tier durch Ausscheidungen austreten, dann ist es durchaus naheliegend, auszuprobieren, wie diese Flüssigkeiten auf die Erde wirken. Wir wissen, daß diese Theorie auf den Menschen angewandt wurde – sie führte zu Lustrationspraktiken und rituellen Waschungen –, und sie ist älter als das Prinzip des Düngens, denn sie findet sich in Teilen der Welt, in denen das Düngen unbekannt ist. Urin und Dung verwenden die dortigen Völkern zur Reinigung, nicht zum Düngen.

 

Wenn unsere These richtig ist, dann sollte man erwarten, daß mit verschiedenen Körperflüssigkeiten experimentiert wurde, und tatsächlich haben einige Völker tierischen und menschlichen Samen verwendet, um die Erde zu befruchten.

 

Es ist leicht einzusehen, warum Sperma wenig geeignet ist für umfangreichere Versuche; und Menstruationsblut galt als unrein und durfte mit dem Ackerboden nicht in Berührung kommen. Urin und Kot sind die einzigen Ausscheidungen, mit denen man Versuche im großen Stil durchführen konnte. Und sie haben den Test bestanden; sie sind rituelle Flüssigkeiten, die ihre Wirksamkeit in reichem Maße unter Beweis gestellt haben. Der am weitesten verbreitete Dünger ist Kuhdung, nicht zuletzt, weil er so reichlich vorhanden ist. Doch die leichte Verfügbarkeit erklärt noch nicht, warum Urin und Kot vom Rind so besonders wirksame Mittel der Reinigung sind. Dies, sowie die rituelle Verwendung von Milch, ist nur erklärlich im Zusammenhang mit der rituellen Bedeutung des Rindes, die noch weitgehend im Dunkeln liegt; ein Thema zu dem ich mich an anderer Stelle ausführlicher äußern werde.

 

Eine interessante Theorie zum Ursprung des Aussäens von Getreidesamen hat Sir James Frazer formuliert. Während der zeremoniellen Essenszubereitung pflegen die australischen Aborigines Samen zu verstreuen, so wie während der traditionellen Regentänze Daunen verstreut werden. Das Säen von Getreide dürfte zunächst eine solche rituelle Handlung gewesen sein, analog zu vielen anderen rituellen Handlungen dieser Art. Unglücklicherweise hat diese Theorie nicht die Beachtung gefunden, die ihr gebührte; sie wird en passant in Frazers «Totemism and Exogamy» erwähnt und wurde nie weiter ausgearbeitet. Was sie illustriert ist indes von größter Bedeutung, die Tatsache nämlich, daß das Säen mit dem Ritual untrennbar verwoben ist. Die landläufige Begründung, daß der primitive Mensch seinen Handlungen nun einmal gern einen «religiösen Anstrich» gebe, ist inakzeptabel. Es ist eben keine Begründung, sondern nur Gerede. Saat ist in Europa für gewöhnlich gleichbedeutend mit Samen, und Samen bezeichnet selbstverständlich das Samenkorn ebenso wie die Samenflüssigkeit. Die Jukun glauben, daß das geerntete Getreide nach dem Tod des Königs dessen Samen sei.[1] Im indischen Ritual spielen Getreidekörner die gleiche Rolle wie Wasser und andere Flüssigkeiten. In der Hochzeitszeremonie wird das Haupt des Bräutigams mit Reiskörnern bestreut, ein Brauch, der bis nach Europa gelangt ist.

 

Es scheint, daß ursprünglich – zu einer Zeit, da man noch nichts vom Vorgang des Keimens wußte – das Aussäen von Samenkörnern als Befruchtung des Bodens angesehen wurde, wie durch Regen. Womöglich sind die alten Griechen erst durch das Wissen um die Keimung zu der Vorstellung gelangt, daß der Vater für die Zeugung seines Kindes verantwortlich ist. Das Säen und das Düngen könnten somit ein und denselben Ursprung haben. In beiden Fällen ging es um das Bestreuen der Erde mit fruchtbringenden Substanzen.

 

Düngen setzt die Existenz von domestizierten Rindern voraus, und wie sehr die Domestizierung Einfluß auf das Ritual genommen hat, zeigt sich unter anderem in der Vorstellung vom Himmel als einer Kuh. Diese Vorstellung findet sich in Ägypten und ebenso in den hinduistischen Schriften. In letzteren[2] wird die Kuh als Himmel dargestellt, das Euter als Regenwolke, die Euterzitzen sind Blitze, und der Milchstrahl ist der fallende Regen. Wie stets ist diese Vorstellung nicht Ausdruck einer blühenden poetischen Phantasie, sondern stellt eine Theorie dar, welche die Form des Ritus bestimmt, und diese Theorie führt uns zurück zu den Lebenssäften, zu denen auch die Milch gehört. Milch und Regen sind austauschbar, deswegen ist der Spender der Milch, die Kuh, rituell gleichbedeutend mit dem Spender des Regens, dem Himmel.

 

Das Pferd wird ähnlich betrachtet: «Schenkt uns den himmlischen Regen, o ihr Maruts. Laßt die Ströme des Hengstes anschwellen.»[3] Jedes Körperteil des Pferdes wird mit einem Teil der Welt identifiziert, sein Bauch ist der Himmel. In diesem Fall ist allerdings Samen die fruchtbringende Flüssigkeit, nicht Milch.

 

Von allen Domestizierungen zu Nahrungszwecken war die des Rindes die folgenreichste. Einige Völker haben ihr gesamtes Gesellschaftssystem darauf ausgerichtet, zum Beispiel die Massai in Ostafrika und die Todas in den Nilgiri-Bergen, die fast ausschließlich von Rindern leben. Man hat lange gedacht, daß solche Völker eine bestimmte Entwicklungsstufe der Menschheitsgeschichte repräsentieren – der Mensch war zunächst Jäger und Sammler, dann nomadischer Hirte, dann seßhafter Ackerbauer; und alles endet in der Industrialisierung. Inzwischen gilt als anerkannt, daß Völker wie die Massai alles andere als «primitiv», also «ursprünglich», sind (also «ursprünglicher» als alle anderen Völker außer den Jägern und Sammlern). Vielmehr sind sie gerade ein hochgradig spezialisierter Nebenzweig eines unspezialisierten Stamms. Die Domestizierung von Tieren und Pflanzen lief vermutlich parallel nebeneinander her. Spezialisierte Völker wie die Massai und Todas helfen uns zweifellos bei der Rekonstruktion der Geschichte der Viehzucht, aus ebendem Grund: weil sie einen Nebenzweig darstellen. Man kann nicht oft genug darauf hinweisen, daß wir nur, indem wir die verschiedenen Nebenzweige zurückverfolgen, zum eigentlichen Stamm gelangen. Besagte Völker haben bestimmte alte Eigenarten bewahrt oder besonders herausgebildet, die bei Völker verloren gegangen sind, in denen die Viehzucht keine so große Rolle spielt, oder die, wie in unserem Fall, die Viehzucht auf ein gänzlich neues theoretisches Fundament gestellt haben. Unser Umgang mit Rindern ist für die Forschung des Prähistorikers von keinerlei Nutzen, da wir die «Lebenstheorie» aufgegeben haben, welche die frühesten Viehzüchter ihrem Tun zugrunde legten.

 

Was für das Düngen gilt, gilt ebenso für das Pflügen. In der Natur kommt es nicht vor, daß systematisch Erde gewendet wird. Der Mensch konnte sich also nicht mit Beobachtungen begnügen, um den Pflug zu entwickeln, er mußte Versuche unternehmen, und um die Versuche zu unternehmen, braucht er zuvor irgendeine Theorie.

 

Der Vorgang des Pflügens wurde oft mit dem Geschlechtsakt verglichen. Es war ein gängiges Motiv bei den Griechen. Plato spricht etwa von der «Bestellung des Bodens» und meinte die Frau. Es läßt sich bis zu Shakespeare verfolgen, bei dem sich die Zeile findet: «Er pflügte sie, sie erntete». Am Anfang von Metaphern stand oft eine wörtliche Bedeutung, und es ist sehr gut vorstellbar, daß die Technik des Pflügens sich dem Versuch verdankt, die Erde zu befruchten. Ein solches Ritual – die Erde mit menschlichem Samen zu befruchten – wird von afrikanischen Negern und vom Volk der Papua praktiziert, was die Frage nahelegt, ob das Pflügen und Säen nicht ähnliche Versuche der Fruchtbarmachung waren, nur im größeren Stil. In Europa, wo der rituelle Charakter des Ackerbaus verloren gegangen ist, sind Pflügen und Säen verschiedene Arbeitsschritte, die auch zeitlich getrennt sind. Auf ägyptischen Wandmalereien wird hingegen beides nebeneinander darstellt. Während der «Zeremonie des ersten Pflügens» in Siam zieht ein Mann, der zu diesem Zweck auserwählt wurde und den König repräsentiert, mit einem Stock drei konzentrische Furchen in den Boden. Darauf sät er heilige Reissamen aus und zieht drei weitere Furchen. Zur gleichen Zeit besprengt ein Würdenträger den Boden mit geweihtem Wasser.[4] Wir wissen, daß in Indien rituelles Weihwasser gleichbedeutend ist mit Samen, so daß wir also sagen können, daß in der siamesischen Zeremonie drei Arten von Samen gleichzeitig zum Einsatz kommen.

 

Wir werden nie den Ursprung des Pflügens ermitteln können, wenn wir nicht das mit ihm verbunden Ritual kennen, denn es wäre nicht zum Ritual gekommen, wenn der damalige Mensch das Pflügen als solches für ausreichend gehalten hätte. Der Pflug, so viel steht fest, ist nur ein Gerät das dem Ritual dient, so wie ein Sprengwedel dem Besprengen von Weihwasser dient und das Weihrauchfaß dem Beräuchern. Seine Bedeutung findet all das nur im Ritual. Das Ritual des Pflügens muß als ein Zeugungsakt angesehen werden. Die These, daß der Pflug das männliche Glied repräsentiere, ist daher sehr wahrscheinlich. Sie zu beweisen (oder auch zu widerlegen) sollte leicht möglich sein durch ein vergleichendes Studium sämtlicher Details der verschiedenen Pflugzeremonien und der mit ihnen verbundenen Legenden.

 

‹A. M. H., Agriculture (o. J.), in: Social Origins, London 1954. Deutsch von H. A.›



[1] Charles Kingsley Mee, «A Sudanese Kingdom», London 1931, S. 166.

[2] «Satapatha-Brâhmana», IX, 3, 3, 15 u. 16.

[3] «Rigveda», V, 23, 6.

[4] Horace Geoffrey Quartich Wales, «Siamese State Ceremonies», London 1931, S. 257.