A. M. Hocart    Dünkel

 

Das Bedürfnis, Eliten nachzueifern, spielt eine überaus große, ja vielleicht die größte Rolle bei der Ausbreitung von Sitten und Gebräuchen, und doch wurde das Phänomen von der Soziologie bislang kaum beachtet. Warum ist das so?

 

Zum einen gewiß, weil wir unehrlich zu uns selbst sind. Nur die wenigsten gestehen sich ein, daß sie ein bestimmtes Verhalten übernehmen, weil sie sich erhoffen, dadurch Ansehen zu gewinnen, oder fürchten, es zu verlieren, wenn sie es nicht tun  – daß sie also dünkelhaft sind. Dies gilt besonders heutzutage, in Zeiten allgemein geforderter Gleichberechtigung, wo nur noch Angehörige der Unterschicht Eliten als solche wahrnehmen, während es gerade zum sozialen Aufstieg gehört, sie zu leugnen.

 

Zum andern hat sich die Kulturwissenschaft noch immer nicht von der Philosophie gelöst. Sie möchte deduzieren wie sie – nicht von eigenen Beobachtungen ausgehend, sondern von Grundbegriffen, die unhinterfragbar und ewig wahr sein sollen. Und die vorherrschende Philosophie in der Kulturwissenschaft ist eine durch und durch utilitaristische, d. h. kulturelle Erscheinungen werden ausschließlich unter dem Aspekt des Nutzendenkens betrachtet, beobachtbare Tatsachen dagegen werden ignoriert.

 

Nehmen wir zum Beispiel Autos. Wenn man einen Kulturwissenschaftler fragt, wie es zu der so allgemeinen Verbreitung des Autos in unserer Gesellschaft gekommen ist, so wird er keine eigenen Beobachtungen anstellen, sondern sich sogleich auf seine Grundbegriffe berufen, und zu denen gehört das Axiom, daß die Menschen neue Erfindungen übernehmen, weil sie nützlich sind, womit in aller Regel «effizient» gemeint ist. Ein Auto ist nützlich, sein praktischer Nutzen ist offensichtlich, deswegen möchte jeder ein Auto haben. In Europa fand das Auto zuerst in England große Verbreitung, weil die Engländer ein pragmatisches Volk sind. Noch größere Verbreitung fand das Auto in Amerika, weil die Amerikaner ein noch viel pragmatischeres Volk sind.

 

Wissenschaftliche Erhebungen erzählen uns eine andere Geschichte. Für ihr Buch ‹Middletown› [1] haben die Autoren R. S. Lynd und H. M. Lynd eine große Anzahl von Autobesitzern aus dem Mittleren Westen der USA befragt. Nützlichkeit, im eigentlichen Sinn des Wortes, spielt unter den Motiven für den Kauf eines Autos nur eine ganz untergeordnete Rolle. Der Hauptfaktor ist die Angst vor einem Statusverlust. Der Kaufimpuls geht dabei vor allem von den jungen Leuten aus: Ein junger Mann kann nun einmal eine junge Frau unmöglich zu Fuß oder mit dem Bus ausführen. Die Familie wird genötigt, ein Auto zu erwerben, damit der Sohn junge Frauen ausführen kann, um so schließlich eine Ehefrau zu finden. Zunächst wird womöglich ein günstiges Auto angeschafft. Doch bald drängt der junge Mann auf ein kostspieligeres, d. h. prestigeträchtigeres Modell. Die Haupttriebfeder ist hier also das Sexuelle, und das Sexuelle verlegt sich auf das Objekt des Autos, weil das Auto Zeichen des Wohlstands ist. Wohlstand ist Beweis für Erfolg, und eine heiratsfähige junge Frau wird keinen Partner wollen, der nicht erfolgreich ist. Erfolg ist in Amerika gleichbedeutend mit Wohlstand. Der Druck, ein Auto anzuschaffen, besteht aber auch dann, wenn nichts Sexuelles im Spiel ist. Ich habe diesen Druck am eigenen Leibe gespürt. Wie oft wurde ich schon aufgefordert, ja mit geradezu missionarischem Eifer dazu gedrängt, mir ein Gefährt anzuschaffen, an dem ich keinerlei Interesse habe. Mir wurde klar gemacht, daß ich mich mit meinem Verzicht wenig standesgemäß verhalte.

 

Noch deutlicher kommt der Dünkel zum Tragen beim Thema Kleidung. Warum tragen junge Mädchen in Middletown Seidenstrümpfe? Weil sie länger halten? Weil sie wärmer sind? Oder weil sie auf irgendeine andere Weise «praktischer» sind als Strümpfe aus anderen Materialien? Nein, der einzige praktische Nutzen von Seidenstrümpfen ist der, daß sie einem jungen Mädchen in der Schule die Peinlichkeit ersparen, als weniger gut gekleidet als ihre Mitschülerinnen zu gelten. Ein junges Mädchen würde eher auf den Schulbesuch verzichten, als sich abschätzigen Blicken auszusetzen. Nahrung ist dagegen zweifellos von großem Nutzen. Sie ist das sine qua non des Lebens, und doch verzichten Familien in Middletown eher auf qualitativ hochwertige Lebensmittel als auf die Anschaffung eines Autos oder von Seidenstrümpfen. Ein voller Speiseschrank und qualitativ hochwertige Lebensmittel sind selbstverständlich ein Zeichen für Wohlstand, aber kein sichtbares Zeichen. Sie nützen einem Amerikaner daher nichts, um nach außen hin Wohlstand zu demonstrieren.

 

In Amerika hängt der Status ab vom Wohlstand, oder vom Anschein von Wohlstand, denn in einer derart großen und durchlässigen Gesellschaft sehen die Leute «nur das Geld, sie sehen nicht den Menschen». In Gemeinschaften, in denen die Menschen einander kennen, hängt der Status viel stärker von persönlichen Eigenschaften ab, zum Beispiel von der Geburt – oder von der Fähigkeit, Regen zu machen, oder zu heilen oder ganz allgemein für Wohlstand zu sorgen. Der oberste Garant für Wohlstand, der König, wie er für gewöhnlich genannt wird, trägt etwas auf dem Kopf. Da es jedermanns Ehrgeiz ist, zu sein wie er, möchte jedermann etwas auf dem Kopf tragen. Es gibt Gemeinschaften, in denen nur der König oder die hochgestellten Persönlichkeiten in seinem Umfeld Kopfschmuck tragen. In unserer Gesellschaft dürfen auch die Ärmsten eine Kopfbedeckung tragen. Aber in Gegenwart des Königs werden auch wir daran erinnert, daß dieses Recht ursprünglich nur einem zustand. Ein Privileg, das allen gewährt wird, hört auf, ein Privileg zu sein. Wenn alle Hüte tragen, ist der Hut nicht länger Statussymbol. Unsere jungen Leute finden Hüte nur noch lästig und lehnen sie daher ab. Aber noch in dieser Ablehnung der Kleidersitten liegt etwas Dünkelhaftes. Man denke an die Anfänge in Oxford.

 

Vieles spricht dafür, daß Kleidung schon immer auf diese Weise «vulgarisiert» wurde. Edward E. Evans-Pritchard berichtet, daß unter den Burun im Dar-Fung «nur der Häuptling und zwei Würdenträger ihre Lenden mit kleinen, rot und gelb gefärbten Tüchern umgürten, alle übrigen gehen nackt.» [2] In den meisten Ländern tragen die Menschen Kleider, doch wer in der Hierarchie oben steht, trägt dann für gewöhnlich mehr Kleider als die unten. Entsprechend nimmt die Kleidung zu, vom bloßen Lendenschurz bis hin zur vollständigen Tracht. Man könnte dies auch in der Kunstgeschichte verfolgen. Die höheren Ränge geben immer die Richtung vor. In Ceylon sehen wir noch heute die ganze Palette – vom Stammesoberhaupt mit Hut, Jacke, Hemd und Schuhen bis hin zum Bauern mit Lendenschurz und allenfalls noch einem Tuch um die Hüften und dem noch tiefer stehenden kastenlosen Rodiya, der nichts oberhalb der Hüften tragen darf.

 

Im Nahen Osten werden europäische Kleider mit Staatsbeamten assoziiert, und der Staatsdienst ist höher angesehen als jeder andere Brotberuf. Ich habe einen Laufburschen in einem Büro gekannt, der, als er schließlich fest angestellt wurde, von einem Tag auf den anderen seinen dhoti eintauschte gegen Tuchhose, Rock und feste Stiefel. Er opferte also seine bequeme Kleidung auf dem Altar des Dünkels. In Ägypten könnte man sagen: «Die Leute sehen nur die Kleider, sie sehen nicht den Menschen.» Wer eine einfache Mütze trägt, ist ein Bauer, wer einen Turban trägt ist ein Scheich und wer einen Fez trägt ein Effendi. Auch bei uns versäumen es die Schneider nicht, den ehrgeizigen Beamten darauf hinzuweisen, daß es immer noch Kleider sind, die Leute machen.

 

Dünkel spielt noch im Tod eine Rolle. Bekanntlich waren die großen Pyramiden ursprünglich Königsgräber. Die Vornehmen des Landes ließen sich dann wenigstens kleine bauen. Diese Gepflogenheit der Oberschicht ist längst in Vergessenheit geraten, lebt aber weiter in der einfachen Bevölkerung. Der älteste Pyramidentypus in Ägypten, die Stufenpyramide, findet sich noch heute auf ländlichen Friedhöfen.

 

Dünkel führt nicht nur zur Verbreitung von Umgangsformen und materiellen Gütern, er verändert auch Recht und Gesetz. Der «altenglische Landbrauch» – die Ultimogenitur – wurde auf diese Weise aus England verdrängt. Nichts spricht dafür, daß die Primogenitur «nützlicher» wäre als die Ultimogenitur. Im Gegenteil, es gibt gute Gründe, warum Haus und Hof dem Jüngsten zufallen sollten statt dem Erstgeborenen – er ist von den Gebrechen des Alters noch am weitesten entfernt und kann noch lange zur Mehrung des Wohlstands beitragen. Selbst die Herzen favorisieren für gewöhnlich den Benjamin der Familie, wie wir aus Märchen wissen. Die Ultimogenitur war nun aber Gepflogenheit eines besiegten Volkes, die Primogenitur die Gepflogenheit einer siegreichen Aristokratie. «Wenn daher Grund und Boden an den Jüngstgeborenen vererbt wurde, so wurde geschlossen, daß es sich nicht um freien Grundbesitz handele.» [3] Der «altenglische Landbrauch» wurde mit Leibeigenschaft assoziiert, und damit war sein Ende besiegelt. Wer etwas auf sich hielt, machte es in der Folge wie die Aristokratie.

 

Unsere Hochzeitsbräuche oder die der Inder und Malaien und anderer Völker mit einer ähnlichen Tradition sind ohne Frage royalen Ursprungs. Mit anderen Worten: Wir würden heute nicht in der uns bekannten Form Hochzeiten feiern, wenn die Eheschließung nicht ursprünglich ein Privileg der Aristokratie gewesen wäre. Noch heute spielen Hochzeiten in der Oberschicht eine besonders wichtige Rolle, während proletarische Revolutionäre dem Hochzeitszeremoniell ablehnend gegenüberstehen.

 

Polygamie ist ebenfalls zunächst ein Privileg der Aristokratie gewesen, und noch heute gibt es Gebiete auf der Welt, wo die Vielehe dem Stammesoberhaupt vorbehalten ist. In Ägypten ist das Gegenteil der Fall, hier ist sie gerade auf dem Land allgemein verbreitet, denn sie hat wirtschaftliche Vorteile und fördert zudem das Prestige – die Kinder können frühzeitig bei der Arbeit helfen, sichern also den Wohlstand. In Europa hat man hingegen die Einehe zum Ideal erhoben, so daß – durch eine nicht unübliche Umkehrung der ursprünglichen Verhältnisse – die Monogamie «aristokratisch» wird und die Polygamie, wie die Pyramiden in Ägypten, nur noch in den unteren Schichten überlebt.

 

Es mag übertrieben klingen, dem Dünkel sogar eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der Nationen zuzusprechen, aber die Fakten sprechen dafür. Die Sprache ist gewiß ein Hauptbindemittel staatlicher Einheiten, da die Grenzen einer Nation für gewöhnlich auch ihre Sprachgrenzen sind. Wie aber sind die Sprachgebiete entstanden? Durch die Verbreitung der Sprache einer Elite. Auf diese Weise wurde in England das Kornische, Gälische und Walisische verdrängt. Noch immer verdrängt die Sprache der Oberschicht den Dialekt, denn Dialekt gilt als «schlechtes Englisch». Natürlich ist der Dialekt ebenso gutes Englisch wie jede andere Varietät. Aber Dialekt ist die Sprache der Unterschicht und damit ein Hindernis auf dem Weg nach oben. Mit der Standardisierung der Sprache geht eine Standardisierung der Sitten und Gebräuche einher und damit eine allgemeine Zentralisierung.

 

Der Erfolg christlicher Missionare hängt wesentlich davon ab, ob der Dünkel für oder gegen sie arbeitet. In der Südsee waren Missionare lange Zeit erfolglos, bis die Stammeshäuptlinge oder ihre einflußreichen Verwandten sich zum Christentum bekehrten. Daraufhin wurde die Parole ausgegeben, daß alle Welt sich zum Christentum bekehren soll, und die Mehrheit gehorchte. Dünkel war hier nicht der einzige Faktor. Loyalität und Gehorsam spielten gewiß die größere Rolle, dennoch kommt auch hier das Bedürfnis zum Tragen, so zu sein wie die «besseren Leute». Vielen Fidschianern ist der Gedanke unangenehm, daß sie als Methodisten nicht der «königlichen Kirche von England» angehören, und wenn es einen freien Wettbewerb unter den verschiedenen Sekten gäbe, würde die Anglikanischen Kirche allein ihres royalen Charakters wegen gewiß viele neue Anhänger gewinnen.

 

Anders in Indien, wo die Missionare Institutionen angreifen, die gleichsam das Gütesiegel der besseren Kasten sind: Witwenverbrennung, Kinderehe, das hierarchische Kastensystem als solches. Inder, so konservativ sie auch sind, sind durchaus fähig zur Konversion, wie die häufig anzutreffende Konversion zum Hinduismus zeigt, aber auch das Aufkommen immer neuer Sekten. Doch der Hinduismus befördert selbst den Dünkel und verurteilt ihn nicht. Ein Stamm, der keinerlei Ansehen genießt, kann einen höheren Status erlangen, indem er die Kinderehre einführt oder Vegetarismus praktiziert oder irgendeinen anderen Brauch übernimmt, der typisch ist für den Hinduismus. In England wechseln die Menschen von der Freikirche zur Amtskirche, wenn sie ihren sozialen Aufstieg gleichsam absichern wollen. Das Christentum wird im übrigen immer mehr die Religion der unteren Schichten, ihre Erfolgschancen sind also geringer denn je.

 

Reformen scheitern so häufig, weil die Reformer den großen Einfluß des Dünkels nicht bedenken. In Indien wurde von der britischen Kolonialregierung der Versuch unternommen, die sati, die Witwenverbrennung, abzuschaffen – per Gesetz, statt darauf hinzuarbeiten, das hohe Ansehen dieses Brauchs zu untergraben, indem man ihn als vulgär hinstellt, zum Beispiel. Das Resultat ist, daß vornehme Hindus sati heute im geheimen praktizieren, und dies ohne jedes Bedenken. Würde man morgen das Gesetz aufheben, würde sati sofort wieder öffentlich praktiziert werden – weil nur die Praxis unterdrückt wurde, nicht die eigentliche Ursache des Brauchs. Es wäre so, als wollte man einem britischen Offizier verbieten, seinem Ehrenkodex zu folgen – also den «Heldentod» zu sterben, statt zu kapitulieren, mit dem Schiff unterzugehen, oder was man sonst mit «soldatischen Tugenden» verbindet. Auf dem Wege des Verbots erreichen wir hier gar nichts, aber wir könnten ihn davon überzeugen, daß sein Vaterland ihn noch braucht und daß es unehrenhaft wäre, das Vaterland in der Stunde der Not im Stich zu lassen.

 

Erst kürzlich wurde in Indien ein Gesetz zum Verbot der Kinderehe verabschiedet. Sinnvoller wäre es gewesen, auf die Besten der «besseren Leute» einzuwirken, daß sie mit der Praxis brechen. Genau dies läßt sich heute in Syrien beobachten: Die angesehensten Familien in den Großstädten haben weitgehend aufgegeben, ihre Kinder vor der Pubertät zu verheiraten, und da die Großstädte für gewöhnlich den Standard setzen für die Kleinstädte und die Kleinstädte fürs Land, wird die Kinderehe in Syrien wohl bald eines natürlichen Todes sterben.[4]

 

Auch bei der Beurteilung weltpolitischer Ereignisse greift der Utilitarismus grundsätzlich zu kurz, denn nicht nur Menschen leiden unter Dünkel, sondern auch ganze Nationen. Gemäß der utilitaristischen Sichtweise ziehen Nationen in den Krieg, um irgendeine Art von Gewinn zu erringen. Politische Experten haben daher mit viel Aufwand zu belegen versucht, daß in jedem Krieg der Verlust überwiegt, in der Hoffnung, die Menschen auf diese Weise von ihrer Kriegsbegeisterung zu kurieren. Wenn wir aber – wie im Fall des Autos – die Menschen fragen, warum sie diesen oder jenen Krieg gutheißen, so lautet die Antwort selbstverständlich nicht, weil sie sich einen Gewinn von ihm erhoffen. Im Gegenteil, wenn man die Menschen auffordern würde, aus diesem Grund in den Krieg zu ziehen, würden sie wohl geradezu empört reagieren. Wenn jemand eine Nation in den Krieg führen will, weil er sich einen materiellen Vorteil davon verspricht, tut er gut daran, seine Absichten zu kaschieren. Am besten macht er den Menschen klar, daß nicht in den Krieg zu ziehen mit einem empfindlichen Ansehensverlust einherginge. Was hat die Franzosen seit 1871 dazu getrieben, Jahr für Jahr Unsummen in die Aufrüstung zu stecken? Es war die Angst davor, eine Vormachtstellung zu verlieren, zu einer zweit- oder gar drittrangigen Nation zu werden.

 

Seit dem letzten Jahrhundert erfreut sich das Schlagwort vom «Wirtschaftskrieg» großer Beliebtheit unter utilitaristischen Historikern. Keine Frage, die Profitgier der Banken und Handelsunternehmen führt immer wieder zu Krisen. Aber hat man je erlebt, daß sich eine Nation hinter seine Bankiers und Händler stellt, in der Hoffnung auf irgendeinen Gewinn? Wirtschaftliche Auseinandersetzungen interessieren die breite Masse nur, wenn Eitelkeiten mit im Spiel sind. Nationen – wie Individuen – sehen sich nun einmal gern als große Händler, und sie sind bereit, jedes Opfer zu bringen, um nur ja nicht zum Kleinkrämer degradiert zu werden. Wenn Statistiken publiziert werden, die zeigen, daß der Tonnengehalt der britischen Handelsflotte unter den der anderen Handelsnationen sinkt – warum ärgert uns dies? Weil wir befürchten, nicht mehr so viele «nützliche» Waren erwerben zu können? Oder ist nicht eher unser Stolz gekränkt, der gern überall auf der Welt den Union Jack sehen möchte und keine andere Flagge?

 

Großbritannien, die Führungsmacht unter den Nationen, hatte einst die schnellsten, größten und besten Liniendampfer, und sie waren auf allen Weltmeeren zu Haus. Weniger große Nationen beschlossen, den Briten nachzueifern. Heute bauen zahlreiche Nationen bessere, schneller, luxuriösere Schiffe. Nicht, daß es sich rentieren würde – die Geschäfte sind in der Regel defizitär und werden am Ende vom Steuerzahler getragen. Doch das scheint diesem recht zu sein, solange er das befriedigende Gefühl hat, einen Großen übertrumpft zu haben.

 

Großbritannien, die Führungsmacht unter den Nationen, hat Kolonien. Die konkurrierenden Nationen ziehen nach. Es ist fortan das Zeichen einer Großmacht, Kolonien zu haben, so wie es das Zeichen eines erfolgreichen Mannes ist, neben seinem Haus in der Stadt eins auf dem Land zu haben. Folglich ging jede Nation mit Ambitionen auf die Suche nach Kolonien. Diejenigen, die in dem Rennen die Nase vorn hatten, bekamen reiche, profitable Territorien, die Nachzügler nahmen, was übrig blieb, und scheuten dabei keine Kosten. Kolonien waren für eine Nation, die zu den Großmächten dazugehören wollten, so wichtig wie der Gesellschaftsanzug für einen Mann, der in den besseren Kreisen verkehren will. [5]

 

Man mag das alles für lächerlich halten, doch es ist nicht Aufgabe des Soziologen zu entscheiden, ob Nationen sich vernünftig oder absurd verhalten. Er soll lediglich beschreiben, wie sie sich verhalten und warum. Er soll mit Fakten arbeiten, nicht mit Werturteilen. Nationaler Dünkel ist ein Faktum, und seine Bedeutung ist heute größer denn je.

 

Es ist ein Faktum, das von der europäischen Kolonialpolitik geflissentlich übersehen wurde. Die kolonialen Statthalter waren durch und durch Utilitaristen, fest davon überzeugt, daß das einzige, was ein Volk begehrt, Wohlstand ist. Man gebe dem Volk Wohlstand, und es ist zufrieden. Tatsächlich liegt im Wohlstand aber bereits der Keim zu neuer Unzufriedenheit. Dafür gibt es viele Gründe. Einer ist, daß wachsender Wohlstand mit wachsenden nationalen Ambitionen einhergeht. Ein Volk armer Ackerbauern, das dem kargen Boden das Nötigste zum Überleben abtrotzt, hat weder Zeit noch Muße, sich Gedanken um nationale Größe zu machen. Sobald dieses Volk aber nur einen geringen Gewinn erwirtschaftet, verändert sich sein ganzes Auftreten, es blickt mit Verachtung auf Völker, die noch immer unter Bedingungen leben, denen es selbst gerade glücklich entkommen ist, und fühlt sich bereits zu Höherem berufen. Am Ende verlangt es nach einer Armee, einer Marine, einer Luftwaffe, nach Liniendampfern und einer heimischen Industrie, nicht weil dies sein vordringlichstes Interesse wäre, sondern weil große Nationen derlei haben. Allem voran verlangt es aber nach Unabhängigkeit, denn um mit den anderen Nationen souveränen Umgang pflegen zu können, muß man unabhängig sein. Wer einwendet, daß Unabhängigkeit bedeutet, auf Wohlstand zu verzichten, stößt auf taube Ohren. Man wird auch keinen Sklaven davon abhalten können, sein gesamtes Erspartes herzugeben, wenn er sich damit seine Freiheit erkaufen kann. Der Status zählt mehr als der Wohlstand, also verfängt das Argument nicht. Natürlich möchte das Volk wirtschaftlichen Wohlstand, aber der Status des souveränen Staates ist ein so hohes Gut, daß nichts die Menschen davon überzeugen kann, daß sich Unabhängigkeit und Wohlstand ausschließen. Im Gegenteil, die Menschen werden sich sagen, jetzt hätten sie noch keinen Wohlstand, sondern erst die Freiheit werde ihn bringen. Versuche, sie eines Besseren zu belehren, erregen ihren Unmut, besagen diese doch nichts anderes als: «Du bist dort unten, und du sollst dort bleiben». Das aber kann der aufwärtsstrebende Mensch – wie ein Bergsteiger – nicht akzeptieren. Der Indikator für den kollektiven Status wird «Kultur» oder «Zivilisation» genannt. Eine Nation ist zivilisiert, wenn sie sich kleidet, Autos baut und in Flugzeugen fliegt. Fast ohne Ausnahme sind die Völker der Welt entschlossen, «zivilisiert» zu sein – koste es, was es wolle.

 

Da Argumente nichts fruchten, scheint als Alternative nur die gewaltsame Unterdrückung zu bleiben. Doch diesen Weg gehen nur die Unwissenden. Die Psychologie hat diese Möglichkeit längst diskreditiert, und es ist höchste Zeit, daß die Soziologie dies ebenfalls tut. Statt zu versuchen, den Dünkel zu unterdrücken, sollte man ihn in Bahnen lenken. Schließlich ist der Geltungsdrang des Menschen nicht an sich schlecht, sondern nur in seiner übertriebenen Form. Wir nennen es Dünkel, wenn er uns lächerlich erscheint, als sportlichen Wetteifer hingegen bewundern wir ihn.

 

Ziel dieses Aufsatzes war es, zu zeigen, daß der Dünkel einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der Zivilisation genommen hat. Als Individuum sind wir es gewohnt, ihm sinnvolle Formen zu verleihen. Und was dem Individuen möglich ist, sollte wohl auch Nationen möglich sein.

 

‹A. M. H., Snobbery (1936), in: The Life-Giving Myth and other essays, London 1952. Deutsch von H. A.›



[1] Robert Staughton Lynd und Helen Merrell Lynd, «Middletown – A Study in Modern American Culture», New York 1929.

[2] E. E. Evans-Pritchard, «Ethnological Observations in Dar-Fung», in: «Sudan Notes and Records», Vol. XV, 1, 1932.

[3] Frederick Pollock u. Frederic William Maitland, «The History of English Law before the Time of Edward I», Cambridge 1895, S. 356.

[4] In Ägypten wurde die Kinderehe per Gesetz verboten. Seither werden einfach die Altersangaben gefälscht.

[5] «Es ist für Deutschland eine Frage der Ehre, seine Kolonien zurückzugewinnen.» (Deutsche Allgemeine Zeitung)