A. M. Hocart   Der Zweck des Rituals

 

Wenn wir nach der Theorie fragen, die einem Ritual zugrundeliegt, wenden wir uns für gewöhnlich nicht an diejenigen, die das Ritual ausüben. Dabei sollten sie es doch am besten wissen, besser wenigstens als jene, die das Ritual nie praktiziert haben und es im Grunde ihres Herzens vielleicht sogar verachten.

 

«Schön und gut», wird mir entgegnet, «aber fragen Sie einmal einen Wilden, warum er tauft oder getauft wird, warum er heiratet oder verheiratet wird, warum er begräbt oder begraben wird – entweder er reagiert mit völligem Unverständnis oder er führt eine Scheinbegründung an, die für uns wertlos ist.» Ich lasse dahingestellt, ob Scheinbegründungen wirklich wertlos sind. Die meisten Psychologen würden in ihnen wohl wichtige Hinweise sehen auf die wahren Gründe, die mit ihnen rationalisiert werden. Wie auch immer. Ich möchte hier nur einwenden, daß es nicht so verwunderlich ist, wenn der Wilde (wenn man ihn denn so nennen will) auf eine schwierige Frage nicht wie aus der Pistole geschossen antwortet oder in seiner Not eine Antwort erfindet. Man lege dieselbe Frage einem intelligenten Europäer vor, man frage ihn, warum er zur Kirche geht oder warum er seine Kinder hat taufen lassen – er wird entweder keine Antwort parat haben oder einen Grund anführen, den wir leicht als falsch durchschauen können.

 

Bevor wir uns also fremden Völkern zuwenden, sollten wir uns unter den eigenen Leuten umsehen. Fragen wir eine englische Mutter, warum ihre Kinder getauft wurden. Die Frage wird sie überraschen und vermutlich sprachlos machen. Womöglich empört sie allein der Gedanke, daß eine heilige Handlung in Frage gestellt werden kann. Eine Begründung anzuführen grenzt an Blasphemie, schließlich ist die Taufe der Wille Gottes. Wenn wir etwas Geduld haben, so ergibt sich womöglich bei Gelegenheit eines Familiengesprächs, daß sie davon erzählt, wie ihr Kind, das zunächst durchaus nicht getauft war, in den ersten Monaten nach der Geburt kränkelte, und wie die Großmutter darauf bestand, es zu taufen, da ein ungetauftes Kind nicht gedeihen könne, und wie es dann schließlich getauft wurde und sich seither stets bester Gesundheit erfreut habe. Ohne es zu wollen, hat sie uns auf diese Weise mitgeteilt, was sie für den Sinn der Taufe hält, nämlich lebenspendend zu sein. Doch wenn man sie direkt danach fragte, wäre es ihr, wie zuvor, unmöglich darauf zu antworten.

 

Wir können unser Ziel vielleicht schneller und zuverlässiger erreichen, wenn wir uns, statt an die breite Masse, an die Experten wenden. Sie sind geschult, auf direkte Fragen direkte Antworten zu geben. Sie werden uns sagen, die Taufe verleihe «göttliches Leben». Man frage sie nach der Krankensalbung, und sie werden sagen, «sie helfe dem kranken Leib auf, so dies der Rettung der Seele dienlich ist».[1] Mit anderen Worten: Sie verleiht in jedem Fall göttliches Leben, irdisches Leben hingegen nur in bestimmten Fällen. Eine weitere wichtige Informationsquelle für unsere Recherche stellen die rituellen Texte dar, die Lieder, Gebete und heiligen Bücher. Wenn wir zum Beispiel Tauflieder durchforsten, stoßen wir regelmäßig auf die Bitte nach dem «unsterblichen Leben». Aber mit Texten dürfen wir uns nicht begnügen. Gehen wir hin und hören es uns mit eigenen Ohren an, in der Albert Hall an einem Ostermontag. Sehen wir uns die Menschen an, wie sie auf der Suche sind nach dem «Leben», im emphatischen Sinn, dem körperlichen wie dem geistigen. Hören wir uns den Prediger an, der uns erklärt, wie dieses Leben zu erlangen sei.

 

Wir können weitere Eindrücke gewinnen, wenn wir eine Reise im Geiste unternehmen, wenn wir sie schon nicht körperlich antreten können. Schlagen wir bei den Klassikern nach. Warum widmet der Rhapsode der «Homerischen Hymnen» seine Gesänge den Göttern? Er sagt es jeweils am Ende: «Gewähre mit Wohlwollen im Gegenzug für meinen Gesang, den Wohlstand, der das Herz betört.» Oder: «Gib, daß wir mit Jubel die Wiederkehr der Jahreszeiten begrüßen und dies in der Fülle der Jahre.»

 

Nachdem wir diese praktischen Erfahrungen in unserem eigenen Kulturkreis gesammelt haben, können wir uns nun wohl Völkern zuwenden, deren Vorstellungswelt sich von der unseren erheblich unterscheidet und deren Sprache uns wahrlich fremd ist. Von direkten Fragen können wir uns nicht viel erhoffen (und doch ist es einen Versuch wert, nur um zu sehen, was passiert). Aussichtsreicher scheint es zu sein, sehr genau die Struktur ihrer Riten zu studieren, sehr genau alle Spruchformeln aufzuzeichnen und sämtliche Kommentare und Anmerkungen, die im Zusammenhang mit dem Ritual gemacht werden.

 

Die Fidschianer machen keinen Hehl daraus, was sie sich von den Riten versprechen, mit denen einer der Ihren zum Häuptling geweiht wird: Wohlstand. Ich habe mich über derartige Zeremonien bereits so ausführlich geäußert, daß ich nicht noch einmal das gesamte Beweismaterial vorlegen muß. Ich möchte hier nur einige Beispiele anführen. Fragt man einen Fidschianer direkt, erhält man die übliche Antwort: «So macht man es nun einmal auf Fidschi.» Doch der Wortlaut der Rituale zeigt deutlich genug, worum es geht. Der Fidschianer hat sehr konkrete Wünsche. Die Formulierungen mögen im einzelnen variieren, der Grundgedanke ist immer derselbe: «Gib, daß wir leben. Gib, daß das Land gedeihe. Gib, daß Eintracht herrsche.« Und so weiter.

 

Die Eddystone-Insulaner mögen sich um einen Kranken kümmern, sie mögen den Toten Brandopfer bringen, sie mögen einen Priester weihen oder ein Schädelhaus, die Bitte lautet stets: «Bewahre uns vor Krankheit, schenke uns Leben.»

 

Springen wir von der Südsee nach Afrika. Das folgende Gebet der Igbo sagt alles: «Gib mir Kinder, gib mir Yam, gib mir Taro. Verhindere Streit, verhindere Unglück. Leben für die Männer, Leben für die Frauen. Leben für die Kinder, Leben für die Kinder im Bauch.»[2]

 

Man lasse die Zeugen reden, so wie der Psychologe einen Patienten auffordert, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Unter allen Völkern sind es vor allem die indianischen, die uns auf diese Weise mit aller Deutlichkeit zeigen, was sie vom Ritual erwarten. Das Wort «Leben» prangt in großen Lettern über all ihrem Tun. Auf jeder Seite in Alice C. Fletchers bemerkenswerter Monographie über die Hako-Zeremonie stößt man darauf. Fletcher hat sich an den größten Kenner der Zeremonie gewandt, und er hat jedes Bestandteil des Rituals und jedes Wort, das gesprochen wird, kommentiert und erläutert. Was wir lesen, besteht aus unendlichen Wiederholungen, denn das Ritual ist denkbar simpel. Es ist eine fortwährende Variation über das eine Thema – Leben. Der Wind wird beschworen, denn er führt das Leben herbei, die Sonne ist eine Lebenspenderin, und so weiter. Sinn und Zweck der Zeremonie ist in wenigen Worten zusammengefaßt: «Die Hako-Zeremonie ist ein Gebet für die Kinder, auf daß der Stamm wachse und stark sei, und für die übrigen Menschen, auf daß es ihnen an nichts mangle und sie ein langes, glückliches Leben in Frieden führen können.»[3]

 

Wenn man wissen möchte, was es mit dem Medizintanz auf sich hat, muß man keinen Angehörigen der Winnebago befragen, der Mythos sagt es uns. Dort wird einem «Mann im Osten» folgendes in den Mund gelegt: «Wir verkünden ihnen den Sinn des Lebens, auf daß sie ihn weitertragen von Generation zu Generation ... Das Leben (das Leben in Fülle – in Wohlstand, Ehren, Zufriedenheit) sollen sie von nun an haben.»[4]

 

Während der von den Clans zelebrierten «Zeremonie des heiligen Bündels» wird Tabak ins Feuer geworfen mit den Worten: «Ich verbrenne den Tabak, um das Leben zu erlangen für mich und die Meinen.» [5]

 

Ich möchte in diesem Zusammenhang vor allem auf die Bestattungsriten hinweisen, denn daß ausgerechnet hier «das Leben zu erlangen» ist, scheint ganz unwahrscheinlich. Tatsächlich haben unsere Forscher für die Bestattungsriten der Menschen alle mögliche Gründe angeführt, nur nicht das Leben.

 

Was haben die Winnebago zu diesem Thema zu sagen? Ein Redner richtet sich etwa mit folgenden Worten an den Toten: «Kümmere dich darum, daß alles, was dein war und was du genossen hättest, hättest du länger gelebt – die Siege auf dem Kriegspfad, deine irdischen Güter, das Leben –, daß alles, was du hinterläßt, nun von uns genossen werden kann.» Der Tote wird angewiesen, der Alten Frau in der Unterwelt auszurichten: «Ich habe die Meinen einsam gemacht, meine Eltern, meine Brüder und all die anderen. Ich möchte daher, daß sie siegreich im Kampf sind und Ehren erringen ... Ich wünsche, daß sie das Leben erhalten, das ich auf Erden zurückgelassen habe.»[6]

 

Die Inka begegneten ihren toten Herrschern mit großem Respekt, in dem Glauben, «daß die kommende Generation gedeiht, wenn ihre Leichname konserviert und verehrt werden». [7]

 

Die Verfasser des «Rigveda» beschreiben im Grunde dasselbe, wie wir aus den Bestattungshymnen in Buch X erfahren. Der 14. Hymnus bittet (in Vers 11) um das Leben für sowohl den Toten wie die Hinterbliebenen: «Verleihe ihm Glück und Gesundheit.» Und weiter (V. 12): «Mögen uns Yamas Boten heute hier das schöne Leben wiedergeben, auf daß wir die Sonne sehen können.» Oder nehmen wir den 16. Hymnus (V. 5): «In Leben sich kleidend soll er seine Hinterbliebenen aufsuchen; er soll sich mit deinem Leib vereinigen.» Mit anderen Worten, er soll in einem Nachfahren wiedergeboren werden mit seiner ganzen Lebensfülle. In 18,5 heißt es: «Wie die Tage in richtiger Folge erscheinen, wie die Jahreszeiten um Jahreszeiten richtig kommen, also, o Schöpfer, fülle die Lebenszeit von diesen.» Dann, an die Hinterbliebenen gewandt: «Möge Tvastri, der gute Geburten gibt, damit einverstanden, euch hienieden lange Frist zum Leben gewähren.»

 

Die Verehrung Buddhas ist die Verehrung eines Verstorbenen. Seine Hinterlassenschaften werden angebetet wie Heiligenreliquien, wie die Mumien der Pharaonen, die Schädel der Toten auf der Insel New Georgia. Es ist vor allem ein Zahn Buddhas der im Mittelpunkt von Kulthandlungen im Zahntempel von Kandy steht. Hier wird zwar das spirituelle Heil gesucht, weil das Ritual umgedeutet wurde von Philosophen, für die das Leben Leiden ist, das es zu überwinden gilt. Doch alle Philosophen der Welt können nicht den Lebenshunger der Menschen hinwegphilosophieren. Die Huldigungszeremonie endet mit den Worten: «Möge der Gott Regen bringen und für reiche Ernte sorgen; möge alle Welt frohlocken und der König gerecht sein.»

 

Der Lebenshunger ist in der Arktis nicht geringer als in den Tropen. Die Wal-Zeremonie der Korjaken dient dazu, den Bestand an Walen für das kommende Jahr zu gewährleisten, aber die Gebete enthalten auch die Bitte, Krankheiten und böse Geister abzuwenden während des kommenden Winters. Die Zeremonie hat also einerseits ein ganz konkretes, enggefaßtes Ziel: Wale, und darüber hinaus ein weiter gefaßtes: Gesundheit. Die Verbindung ist offensichtlich: Keine Gesundheit ohne ausreichende Lebensmittelvorräte.

 

In vielen Ritualen kommen nur die enggesteckten Ziele zur Sprache. Die Eddystone-Insulaner haben zwar Zeremonien, die das Leben als solches befördern, aber viele Rituale konzentrieren sich auf ein einzelnes Lebens-Mittel – etwa Thunfisch. In ihrer Struktur unterscheiden sich diese nicht von jenen Ritualen, nur ihre Anwendung ist beschränkt – etwa wie die überall anzutreffenden Talismane, die nur bei ganz speziellen Krankheiten ihre Wirkung zeigen. Oder denken wir an die australischen Aborigines, die mit ihren Ritualen die Vermehrung einer bestimmten Tierart bewirken. Diese Rituale sind zum Teil hochgradig spezialisiert. So etwa bei den Aranda, die in ihren Ritualen nicht nur um Nahrung allgemein bitten oder um fleischliche Nahrung allgemein oder um Känguruhs allgemein, sondern um braunhaarige Känguruhs oder grauhaarige. Laut den Biologen ist Spezialisierung ein sicheres Zeichen dafür, daß ein Typus nicht zum ursprünglichen Stamm gehört. Demnach dürften die Rituale der Aranda alles andere als ursprünglich sein, denn sie sind so spezialisiert, wie nur irgend möglich. Wir müssen also die weiter gefaßten Rituale betrachten, wenn wir das Ritual in seiner ursprünglichen Form studieren wollen, denn es wendete sich an das Leben im weitesten Sinne, an das Leben in seiner ganzen Fülle.

 

Der Mensch kennt kein vordringlicheres Bedürfnis, als zu leben. Ist es da verwunderlich, daß das Ritual, welches ebendieses Leben gewährleisten soll, vom Gesellschaftlichen nicht zu trennen ist? Ein guter Freund von mir ist der Meinung, daß ich dem Ritual zu viel Bedeutung beimesse. Wenn wir sehen, wie jemand alles und jedes auf einen einzelnen Aspekt reduziert, reagieren wir zurecht beunruhigt. Wir argwöhnen, dass der Mensch von einer idée fixe beherrscht ist. Aber mein Freund vergißt, daß wir alle beherrscht sind von dieser idée fixe, die das Leben ist, unser eigenes Leben, das Leben unserer Nachkommen, das Leben in seiner größtmöglichen Fülle, mit einem möglichst großen Überschuß über das Existenzminimum hinaus. Wenn wir etwas wollen, ersinnen wir Mittel, um es zu erlangen. Die Technik zur Erlangung und Gewährleistung des Lebens nenne ich Ritual. Der Terminus ist vielleicht nicht ganz glücklich, da wir ihn uns fast immer in seiner spezialisierten Form vorstellen. Er läßt an provinzielle Absonderlichkeiten und sektiererische Animositäten denken. Wenn wir aber die Theorie, die dieser Technik zugrundeliegt, die «Wissenschaft vom Leben» nennen und die Technik selbst die «angewandte Wissenschaft vom Leben», dann wird der Freund vielleicht verständnisvoller reagieren, wenn wir die weitreichendsten Erkenntnisse an diese «Wissenschaft vom Leben» knüpfen, Erkenntnisse die lebenspendenden Eigenschaften von Nahrungsmitteln betreffend, von Mineralen, von Wärme und von Licht, Erkenntnisse nicht zuletzt die gesellschaftliche Institution selbst betreffend. Denn der Mensch ist ein soziales Tier und kann nur leben, indem er sozial ist. Die «Wissenschaft vom Leben» ist in ihrer Anwendung folglich immer auf die Gesellschaft gerichtet. Man kann einen Hirsch auch allein erlegen. Man kann auch allein den Speer herstellen, mit dem man den Hirsch erlegt. Aber man kann nicht allein ein Ritual ausführen, denn das Leben braucht mindestens Zwei zu seiner Vermehrung, und die Zwei zeugen neues Leben, das vom ersten abhängig ist. «Dies ist eine Paarung», so lautet der Kommentar einer alten indischen Schrift zu einem Ritual, «denn durch die Paarung erzeugt er ihn, mit Nachfahren und Vieh von Generation zu Generation.» Da diese Wissenschaft in ihrem Wesen gesellschaftlich ist, braucht sie gesellschaftliche Strukturen, um zur Anwendung zu gelangen. Der heilige Johannes Chrysostomos hat also lediglich die Grundbedingung jedweden Rituals zum Ausdruck gebracht, als er betete: «Du hast uns diese gemeinsamen und einmütigen Gebete geschenkt. Du hast auch versprochen, daß wo zwei oder drei in deinem Namen sich versammeln, du sie erhörst ...» Die Winnebago drücken dieselbe Idee etwas anders aus: «Fleht darum, daß euch das Leben geschenkt wird, so wie der Feind und sein Volk es vor euch getan hat ... Handelt so, daß ihr einander behilflich seid, so wie unsere Vorfahren in alten Zeiten einander behilflich waren. Wenn Menschen gemeinsam handeln, erreichen sie ihr Ziel.» [8]

 

Das Ritual ist nicht nur eine Suche nach Leben, es ist eine gesellschaftliche Suche.

 

‹A. M. H., The Purpose of Ritual (1935), in: The Life-Giving Myth and other essays, London 1952. Deutsch von H. A.›

 


[1] «The Catholic Faith», S. 100.

[2] Mitteilung von Dr. M. D. W. Jeffreys.

[3] Alice C. Fletcher, «The Hako: A Pawnee Ceremony», Washington 1905.

[4] Paul Radin, «The Winnebago Tribe», Washington 1923, S. 358.

[5] A. a. O., S. 453.

[6] A. a. O., S. 142 f.

[7] Rafael Karsten, «The Civilization of the South American Indians», New York 1926, S. 35.

[8] Radin, a. a. O., S. 515.