Arthur Koestler ‹5. 9. 1905 Budapest – 3. 3. 1983 London (Freitod)›

 

Mit siebzehn ging Koestler nach Wien, um Naturwissenschaften zu studieren, mit einundzwanzig als glühender Zionist nach Palästina. Von dort schrieb er Reportagen, die in der Berliner ‹Vossischen Zeitung› erschienen. 1930 ging er nach Berlin, wo er stellvertretender Chefredakteur der ‹B.Z. am Mittag› wurde. Im selben Jahr trat er der KPD bei. Er engagierte sich leidenschaftlich in der sogenannten «Kommunistischen Zelle» («Ich stürzte mich in die Aktivitäten der Zelle mit derselben Begeisterung und völligen Selbstaufgabe, die ich mit siebzehn Jahren beim Eintritt in der Wiener Burschenschaft an den Tag gelegt hatte. Ich lebte in der Zelle, mit der Zelle, für die Zelle. Ich war nicht mehr allein; ich hatte das herzliche Kameradschaftsleben gefunden, nach dem ich mich gesehnt hatte; mein Wunsch, irgendwie dazuzugehören, war in Erfüllung gegangen», ‹Als Zeuge der Zeit›, Fischer Taschenbuch, S. 149). 1937 war er als Korrespondent im Spanischen Bürgerkrieg, wurde von den Faschisten als Spion verhaftet und zum Tode verurteilt. Nach monatelanger Haft kam er im Zuge eines Gefangenenaustauschs durch die Briten frei. 1939 wurde er von den Franzosen als Kommunist interniert, obwohl er sich inzwischen, entsetzt über Stalins Säuberungsaktionen, vom Kommunismus abgewandt hatte. Er konnte fliehen und lebte ab 1940 in England. Seine Erlebnisse in der spanischen Todeszelle verarbeitete er in ‹Ein spanisches Testament› (1938), seine Abrechnung mit dem Kommunismus in dem Roman ‹Sonnenfinsternis› (1940). Für den mit Koestler befreundeten George Orwell, seinerseits Anhänger eines demokratischen Sozialismus, war das erfolgreiche Werk eine wichtige Anregung für seine eigene Auseinandersetzung mit dem Stalin-Regime in seinem Roman ‹1984› (1949).

 

Ab den fünfziger Jahren wendete sich Koestler vor allem naturwissenschaftlichen und philosophischen Themen zu. Mitte der sechziger Jahre entwickelte er seine Theorie des Holons und der Holarchie (‹The Act of Creation›, 1964; ‹The Ghost in the Machine›, 1967), die auch im Mittelpunkt seines Buches ‹Janus – A Summing Up› (1978) steht, das auf deutsch etwas reißerisch als ‹Der Mensch – Irrläufer der Evolution› erschien. Als Holon bezeichnet Koestler (ausgehend vom «Holismus»-Begriff des Südafrikaners Jan Smuts aus den zwanziger Jahren) eine sogenannte «Teil-Ganzheit», eine Einheit «mit selbstregulierenden Mechanismen, die ein beträchtliches Maß an Autonomie oder Selbstbestimmung genießt. Zellen, Muskeln, Nerven, Organe, sie alle haben ihre spezifischen Aktivitätsrhythmen und -muster, die oft spontan, also ohne äußere Stimulierung funktionieren; sie sind den höheren Zentren der Hierarchie als Teile untergeordnet, arbeiten aber gleichzeitig als quasi autonome Ganzheiten. Sie sind janusköpfig. Das nach oben, den höheren Stufen zugewandte Gesicht ist das eines abhängigen Teils; das nach unten, zu seinen eigenen Bestandteilen gewandte Gesicht ist das eines bemerkenswert souveränen Ganzen».

 

Nach Koestler ist ein Grundprinzip der lebenden Natur dieses System der hierarchisch geordneten «Organisationsstufen», wobei auf jeder nächsthöheren Stufe neue organisierende Beziehungen zwischen «Teil-Ganzheiten» von zunehmender Komplexität entstehen, «deren Eigenschaften nicht auf die untere Stufe zurückgeführt und nicht von der unteren Stufe prognostiziert werden können». «Organellen und morphologische Felder sind ontogenetische Holons; die ‹starren Aktionsmuster› der Verhaltensforscher und die Sub-Routinen, aus denen erworbene Fertigkeiten bestehen, sind Verhaltens-Holons; Phoneme, Morpheme, Worte, Wendungen sind sprachliche Holons; Individuen, Familien, Stämme, Nationen sind soziale Holons.» Auf individueller Ebene erleben wir das holistische Prinzip ganz unmittelbar: «Nach innen blickend, erfährt man sich als einzigartiges, autarkes und selbstständiges Ganzes; nach außen blickend, erfährt man sich als abhängiges Teil seiner natürlichen und sozialen Umwelt.» Das Entscheidende ist nun, daß jedes Holon, nach Koestler, zwei widersprüchlichen Tendenzen gehorcht: einer «selbstbehauptenden» Tendenz, die die individuelle Autonomie zu wahren versucht, und einer «integrativen» Tendenz, um als Teil des übergeordneten Ganzen zu funktionieren. Überlebensfähig ist ein Holon nur, wenn es auf Dauer einen Ausgleich herstellt zwischen beiden Tendenzen. «Die häufigsten Verwirrungen des menschlichen Geistes zeigen sich darin, daß eine Teilwahrheit zwanghaft so verfochten wird, als wäre sie die ganze Wahrheit – wir haben es mit einem Holon zu tun, das sich als das Ganze kostümiert und aufführt.» Für Koestler sind es die «Eskapaden der integrativen Tendenz», die vor allem für das Dilemma des Menschen verantwortlich sind, die «bereitwillige Unterwerfung» des Menschen «unter eine Autorität und seine gleichsam hypnotische Empfänglichkeit für Doktrinen und moralische Gebote ... (sein) Drang nach Zugehörigkeit, nach Identifizierung mit einer Gruppe und ihren Glaubenssätzen».

 

Koestler schildert in diesem Zusammenhang das berühmte Experiment von Stanley Milgram im Psychologischen Institut der Yale-Universität (erstmals 1961), bei dem Freiwillige im Rahmen eines vorgeblichen wissenschaftlichen Versuchs aufgefordert wurden, einem vorgeblichen Probanden eine Reihe von Aufgaben zu lösen zu geben und ihn jeweils mit einem zunächst sehr leichten, dann zunehmend stärkeren Stromstoß zu bestrafen, wenn dieser die Aufgaben nicht richtig löste. Die vorgeblichen Probanden saßen in einem separaten Raum und waren nur akustisch zu vernehmen, die Fragesteller, also die eigentlichen Testpersonen, befanden sich mit dem leitenden Wissenschaftler im Raum nebenan. Das Milgram-Experiment wurde in vier Ländern durchgeführt, und immer mit dem gleichen Ergebnis: Zwei Drittel der Freiwilligen verabreichte den vorgeblichen Probanden zunehmend stärkere Stromstöße bis hin zur (vorgeblich) stärksten Stufe von 450 Volt. Und das, wohlgemerkt, nicht unter Zwang. «Es gab keine Einschüchterungsversuche» von seiten des «leitenden Wissenschaftlers»; er durfte «keine Überredungskünste anwenden». Wenn die Freiwilligen Bedenken anmeldeten, insistierte der «Wissenschaftler» lediglich – mit ruhiger Stimme, betont vernünftig –, daß die Freiwilligen mit den Stromstößen fortfahren sollten, weil der Versuch dies nun einmal erfordere.

 

Das Experiment zeigte, wie wenig es bedarf, «um Menschen über die psychische Barriere zu drängen, die das Verhalten ehrenwerter Bürger vom Verhalten entmenschter SS-Henker trennt».

 

Koestler folgert: «Es ist die integrative Tendenz als Medium oder Katalysator, die die Änderung der Moral, die Aufhebung der persönlichen Verantwortung, den Austausch des individuellen Verhaltenskodex gegen den Kodex der ‹höheren Komponente› in der Hierarchie herbeiführt. Im Verlauf dieses verhängnisvollen Prozesses wird das Individuum bis zu einem gewissen Grad entpersönlicht; es funktioniert nicht mehr als autonomes Holon oder als Teil-Ganzes, sondern nur noch als Teil. Janus hat nicht mehr zwei Gesichter – nur noch eines ist übriggeblieben und blickt in heiliger Verzückung oder schwachsinniger Verwirrung nach oben.»