Byung-Chul Han Abwesen

 

Der Begriff «Wesen», der Identität, Dauer und Innerlichkeit, Wohnen, Verweilen und Besitzen in sich versammelt, beherrscht die abendländische Metaphysik. Das Schöne ist für Platon das Identische, das Unveränderliche, das Dauernde.

 

Das lateinische Verb substare, worauf substantia zurückgeht, bedeutet u. a. «standhalten». Und stare wird auch im Sinne von «sich behaupten» verwendet. Kraft seiner Substantialität, kraft seiner Wesenheit hält das Eine dem Anderen Stand, behauptet sich. ¶

 

Seinem Ursprung nach ist das Wesen also alles andere als freundlich. Allein etwas, was ganz zu sich entschlossen, fest zu sich steht, ständig bei sich wohnt, d. h. die Innerlichkeit des Wesens hat, kann auch mit Anderen in Konflikt, in Streit geraten. Ohne die Entschlossenheit zu sich, die der Grundzug des Wesens ist, ist kein Streit möglich. Macht hat auch nur derjenige, der im Anderen ganz bei sich selbst zu bleiben vermag. In der Figur des Wesens ist die Macht präfiguriert. ¶

 

Das taoistische Denken investiert eine ganze Reihe von Negation, um zur Sprache zu bringen, daß die Existenz im Grunde keine Existenz, keine Insistenz, kein Wohnen ist. Der Weise «wandert im Nicht-Sein» (Zhuangzi) ... Das «Nicht-Wesen» (Laozi), ja das Ab-Wesen entzieht sich jeder substantiellen Festlegung. ¶

 

Der gute Wanderer läßt keine Spur zurück ... Nur im Sein entstehen Spuren. Der Grundtopos des fernöstlichen Denkens ist nicht das Sein, sondern der Weg (dao). Dem Weg fehlt jede Festigkeit des Seins und des Wesens, die Spuren entstehen ließe. ¶

 

Der Name macht einen zu Jemand im emphatischen Sinne. Der Weise ist dagegen namenlos. Er ist «ohne Ich». Dieser Topos der Abwesenheit kennzeichnet nicht nur den Taoismus. Er findet sich auch bei Konfuzius. So heißt es in Lunyu: «Der Meister war ohne Ich.» Für die Negation des Ich wird hier ungewöhnlicherweise die Negativpartikel «wu» verwendet, die immer vor einem Verb steht. So verbalisiert sie das Ich bei gleichzeitiger Verneinung. Konfuzius ichte nicht. Er machte nichts zum Inhalt seines Ichs. ¶

 

Etymologisch stellt das chinesische Zeichen für das Sein (you) eine Hand dar, die ein Stück Fleisch hält ... eigentlich sehr prosaisch. Demnach ist für das Existieren nicht mehr nötig als ein Stück Fleisch. ¶

 

Der Bauch begehrt nicht. Es ist nicht der Bauch, sondern der Geschmack, der unterscheidet, der dadurch etwas Bestimmtes anstrebt. ¶

 

Die taoistische Leere xu als Abwesen läßt keine rein funktionale Interpretation zu. Sie erhebt das Denken auch über den funktionalen Kalkül. ¶

 

Die Sinnleere oder die Abwesenheit des Ziels ist keine Deprivation, sondern ein Gewinn an Freiheit, ein Mehr des Weniger. Der Wegfall des Hin-Gehens macht erst das Gehen möglich. Die Welt, dessen natürlichem Gang sich der Mensch zu fügen, ist nicht narrativ strukturiert. So ist sie auch resistent gegen die Sinnkrise, die immer eine narrative Krise ist. Sie erzählt weder ‹große› noch ‹kleine› Erzählungen. Sie ist kein Mythos, sondern Natur im besonderen Sinn. Gerade deshalb ist sie groß. Jede Erzählung ist dagegen klein. Sie beruht nämlich auf einer Unterscheidung, die zugunsten des Einen das Andere ausschließt. Die Narration, die einen Sinn stiftet, verdankt sich einer massiven Selektion und Ausschließung, ja eine Verkleinerung der Welt. Die Welt wird auf eine schmale narrative Bahn gedrängt und reduziert. So lehr Zhuangzi, sich, statt an einer kleinen Erzählung, an einer Unterscheidung festzuhalten, mit der ganzen Welt zu verbinden, ja so groß sein wie die Welt, sich zu erheben zu einer weiten Welt. ¶

 

In der fernöstlichen Vorstellungswelt gibt es nichts außerhalb der Weltimmanenz. Wenn der dao sich der Festlegung oder Benennung entzieht, dann nicht deshalb, weil er zu hoch ist, sondern weil er fließt, weil er gleichsam mäandert. Er bezeichnet den ständigen Wandel der Dinge, die Prozeßhaftigkeit der Welt. Der Wanderer läßt deshalb keine Spur zurück, weil er mit dem Wandern der Dinge Schritt hält. ¶

 

Das Abwesen entleert die Liebe und Freundschaft nicht zur Gleichgültigkeit, sondern zu einer grenzen-losen Freundlichkeit, die darin besteht, ohne jede Parteilichkeit gleichmäßig zu umfangen.

 

Die In-Differenz begünstigt auch ein intensives Nebeneinander des Verschiedenen. Sie erzeugt ein Maximum an Zusammenhalt mit einem Minimum an organischem, organisiertem Zusammenhang. Die synthetische Zusammenfügung weicht einem syndetischen Kontinuum der Nähe. Hier verbünden sich die Dinge nicht zur Einheit. Sie sind keine Mit-Glieder einer organischen Totalität. Darum wirken sie freundlich. Die Mitgliedschaft ist keine freundliche Nachbarschaft. Kein Dialog hat die Dinge zu vermitteln oder zu versöhnen. Sie haben nicht viel miteinander zu tun. Vielmehr entleeren sie sich in eine in-differente Nähe. ¶

 

Die westliche Kultur ist entschlossen zur Geschlossenheit und Schließung. ¶

 

Leere und Abwesenheit prägen auch die fernöstliche Küche ... In der fernöstlichen Küche vollzieht sich das Speisen nicht als ein Zerlegen mit Messer und Gabel, sondern als ein Zusammenfügen mit Stäbchen. Im Westen ißt und denk man zerlegend, d. h. analytisch. Man kann aber nicht sagen, daß man im Fernen Osten dagegen synthetisch denkt und ißt. Analyse und Synthese gehören in dieselbe Ordnung. So ist das fernöstliche Speisen und Denken weder analytisch noch synthetisch. Vielmehr folgt es eine syndetischen Ordnung. Syndetisch heißt durch Konjunktion, durchs fortgesetzte Und verbunden, ja aneinandergereiht. Das fernöstliche Denken kennt das Kategorische, das Endgültige eines Punktes oder Ausrufezeichens nicht. Es ist vielmehr durch verbindende Kommas und Und, durch Umwege und Seitenwege bestimmt oder durch Wege, die im Verborgenen weiterführen. ¶

 

Auch Heraklit ist, obwohl er das Sein zugunsten des Werdens aufgibt, insofern ein griechischer Denker, als er glaubt, daß die Natur es liebt, sich zu verbergen. Die chinesische Weisheit dagegen verbirgt sich nicht.

 

Groß sein heißt sich erheben über starre Unterscheidungen und Gegensätze, über jede endgültige Setzung, ja sich entdifferenzieren zu einer unparteiischen Freundlichkeit. ¶

 

Die Chinesen erfahren das Identische, das Unveränderliche, das Beharrende oder das Dauernde als tot. Als lebendig oder belebend affirmiert werden dagegen Wandlungen, Veränderungen, Übergänge oder Zustände der In-Differenz. ¶

 

Es gilt, das Denken so geschmeidig wie möglich zu halten, daß es sich der Vielfalt von Möglichkeiten öffnet. Das fernöstliche Denken ist freundlich in dem Sinne, daß es sich nicht auf Grundsätze und Prinzipien versteift. Und seine Weisheit ist langsam. ¶

 

Bei Nietzsche ist immer wieder von der «großen Sehnsucht» die Rede. Die «Sehnsucht» ist dem Fernen Osten fremd. Er kennt kein radikales Anderswo, wohin man sich einschiffen könnte. ¶

 

Manche sprachliche Wendungen, die im Westen ganz selbstverständlich sind, werden in den fernöstlichen Sprachen kaum verwendet ... Wenn man auf Deutsch sagt, «ich sehe das Meer», so ist das alles andere als ungewöhnlich. Auf Koreanisch klingt das aber wiederum sehr ungewohnt. Statt dessen sagt man: «bada-ga-bo-inda». Diese Wendung läßt sich ebenfalls nichts ins Deutsche übersetzen. «Das Meer ist sichtbar» oder «Das Meer erscheint mir» sind keine adäquaten Übersetzungen. Zu eindeutig ist die Differenz zwischen dem sehenden Subjekt und dem gesehenen Objekt. Die koreanische Wendung weist nicht ausdrücklich auf ein Subjekt hin, dem ein Objekt erscheint. Der Anblick des Meeres ist da, liegt vor. ¶

 

Ich bin ein Teil des Geschehens, wobei ich weder teil-nehme noch teil-habe. Diesseits der Teil-Nahme und Teil-Habe, diesseits des Nehmens und Habens bin ich ein Teil. Ich bin ein Teil der Sichtbarkeit des Meeres. Durch mich hindurch erscheint das Meer. ¶

 

Das deutsche Passiv «sie wird geliebt» bringt etwas ganz anderes zum Ausdruck als das chinesische Passiv, das wörtlich «sie sieht lieben» hieße. Das deutsche Passiv, ja das Passiv der westlichen Sprachen geht, ja greift tiefer. Es bezeichnet eine Verfassung, einen Zustand einer Person. Der Ausdruck «sie wird geliebt» durchdringt gleichsam den ganzen Leib, berührt jede Muskel- und Nervenfaser einer Person. Diese Tiefe, diese durchdringende Energie und Entschlossenheit der Beugung besitzt das chinesische Passiv nicht. Die Flexion (wörtlich biegen und beugen) sollte man nicht nur grammatikalisch, sondern auch körperlich und psychisch verstehen. Sie formt, flektiert, beugt und biegt nicht nur das Verb, sondern auch Körper und Seele. Das chinesische Passiv «sie sieht lieben» dagegen kennzeichnet eher ein Aufmerken auf ein Geschehen. Es beugt die ‹Seele› nicht. ¶

 

Im Altgriechischen sagt man für «Es regnet» Zeus bzw. ho theos huei (Zeus od. der Gott läßt regnen). Diese göttliche Subjekt verwandelt das Geschehen in eine Handlung. Das westliche Denken hat offenbar Mühe, ein subjektloses Geschehen, ein So-Sein, ein einfaches Vorliegen zu denken. Das Es als ein Fantom-Subjekt ist ein leerer Reflex dieses subjektivierenden Denkens. Im Altchinesischen dagegen steht für «Es regnet» ein einziges Zeichen yu, das «Regen» oder «regnen» bedeutet. ¶

 

Die Zen-Meister greifen gern auf knappe, oft sinnentleerte Worte zurück. Ihr Schweigen ist aber leer. Es verweist auf nichts. Auch die zen-buddhistische Verknappung der Sprache geschieht nicht zugunsten einer unsagbaren, geheimnisvollen Wesenheit. Man verzichtet auf die Sprache nicht wegen eines Zuwenig, sondern wegen eines Zuviel. Das Sprechen setzt bereits eine Distanz zum Geschehen voraus. Es macht das Entkommnis zum Vorkommnis, verläßt die Unmittelbarkeit des Geschehens. Der Himmel redet nicht, heißt nicht, daß er in seiner Unergründlichkeit oder Rätselhaftigkeit sich ins geheimnisvolle Schweigen zurückzieht. Der Himmel redet deshalb, weil er, so könnte man sagen, es nicht nötig hat, zu sprechen. Der abendländische bzw. christliche Himmel ist dagegen sehr beredt. Der chinesische Himmel ist weder beredt noch stumm. Es ist die Einfachheit seines So, die die Sprache ganz überflüssig macht. ¶

 

Konfuzius schweigt, aber er verschweigt nichts. ¶

 

Das Wort «grüßen» (ahd. gruozen) hat eine sehr interessante Etymologie. Seiner Herkunft nach ist es nämlich alles andere als freundlich. Ursprünglich bedeutet es: «zum Reden bringen», «herausfordern», «beunruhigen» oder «angreifen» ... Der Andere stellt zunächst eine mögliche Bedrohung und Gefährdung meines Daseins dar. So wirkt er beunruhigend. Vermutlich ist der kehlige Laut des gruozens die unmittelbare Reaktion auf dies Urbedrohung, die vom Anderen, vom anderen Menschen ausgeht ... Erst eine gegenseitige Anerkennung macht aus dem kehligen gruozen einen Gruß ... Der Gruß löst jene zwischenmenschliche Spannung, die zum Kampf und zur Unterwerfung führt, dialogisch. Die Dialektik, die das herausfordernde gruozen zum Gruß entschärft, ist ein Prozeß dialogischer Vermittlung. Der Dialog ist eine binäre Beziehung von Personen. Die antagonistische Spannung wird nicht durch eine Negation des Gegenüber aufgehoben. ¶

 

Der Dialog strebt keine Verschmelzung an. Er findet immer in einem Zwischen statt, das unterscheidet und vermittelt. Das Verschmelzen bringt gerade diese dialogische Zwischen zum Verschwinden. Der «echte Gruß» wahrt immer eine «Ferne», die dem Zwischen eingeschrieben ist. ¶

 

Die Freundlichkeit des Grußes beruht auf der Dialogizität der Anerkennung, des emphatischen Sein-Lassens, des An-Wesen-Lassens des Anderen. ¶

 

Dem Gruß wohnt die Aufforderung inne, dem Anderen als ein Ich eigens gegenüber-zu-stehen, sich aufzurichten zu einer Person. Sie äußert sich vor allem in dem Blick. Der Gruß erwidert den Blick des Anderen. Die fernöstliche Kultur ist, ein wenig überspitzt formuliert, eine Kultur ohne Blick. Der Blick ist der Andere. In Japan gilt es als unhöflich, dem Anderen direkt ins Auge zu schauen. Auf die Blicklosigkeit geht es zurück, daß das Gedränge von Menschen, das charakteristisch wäre für fernöstliche Großstädte, nicht bedrängend ist. Der fehlende Blick überzieht die ganz überfüllten Großstädte mit einer besonderen Leere und Abwesenheit. ¶

 

Der Gruß ist aufrichtend. Seine Haltung ist das Gegenüber-Stehen. Das Stehen, die Ständigkeit oder die Selbst-Ständigkeit, in der ich dem Anderen begegne, ihm widerstehe oder auch ihn anerkenne, sind alle Grundzüge des Wesens. Die japanische Verbeugung stellt eine Gegenbewegung dar. Sie beugt die Person in eine Abwesenheit. Sie ist kein dialogisches Geschehen, was sich schon darin zeigt, daß die Grüßenden einander nicht ins Auge schauen. ¶

 

Die japanische Verbeugung hat keine Person zum Gegenüber. Aufgrund des fehlenden Gegenübers findet auch keine Unterwerfung statt. Es ist die westliche Mythologie der ‹Person›, die die tiefe Verbeugung als unterwürfig erscheinen läßt. ¶

 

Die tiefen Verbeugung liegt die Entscheidung zugrunde, das heikle Gegenüber der Person, statt es dialogisch zu entschärfen, in eine In-Differenz einzuebnen. Sie vermittelt nicht zwischen Personen, versöhnt niemanden mit niemandem. Sie entleert und entinnertlicht die Beteiligten vielmehr zu Abwesenden. ¶

 

Der Buddhismus ist eine Religion des Abwesens. Die buddhistische Leere (kong) entleert das Wesen zum Abwesen. So kennt er keinen ‹Gott›, der eine Superlativ-Form des Wesens wäre. 

 

‹B.-C. H., Abwesen – Zur Kultur und Philosophie des Fernen Ostens, Berlin: Merve Verlag 2007›