Byung-Chul Han ‹*1959 Seoul, Südkorea; lebt in Berlin›

 

Han studierte Germanistik und Philosophie in Freiburg i. Br. sowie in München und lehrt heute als Professor für Philosophie und Kulturgeschichte an der Universität der Künste Berlin (UDK). Veröffentlichte u. a. ‹Martin Heidegger – Eine Einführung› (Stuttgart: UTB 1999); ‹Hegel und die Macht. Ein Versuch über die Freundlichkeit› (Paderborn: Wilhelm Fink  2005); ‹Was ist Macht?› (Stuttgart: Reclam 2005); ‹Shanzai: Dekonstruktion auf Chinesisch› (Berlin: Merve 2011) . Einem breiteren Publikum bekannt wurde er vor allem mit seinen Essays ‹Müdigkeitsgesellschaft› (Berlin: Matthes & Seitz, 2010), ‹Transparenzgesellschaft› (Matthes & Seitz 2013) sowie ‹Agonie des Eros (Matthes & Seitz 2012).

 

In ‹Abwesen› (Merve 2007) stellt er uns, wie es im Vorwort heißt, «eine fremde Kultur vor ..., die den Bewohnern der abendländischen Kultur» – die seit über zweitausend Jahren auf das «Wesen», auf Substanz und Identität pocht – «recht wundersam erscheinen wird».

 

Fremd ist diese Kultur auch ihm, dem Autor. Han spricht z. B. kein Chinesisch, nähert sich der chinesischen philosophischen Tradition von außen, entwirft sie, wie er bei Gelegenheit eines Auftritts betonte, als «Projektion» – also gleichsam mit westlichen Augen. (Die Tatsache, daß Han's Muttersprache Koreanisch ist, erlaubt ihm dennoch eine ganz eigene Einsicht auch in die chinesische Sprache und damit Denkweise, die uns Durch-und-durch-Westlern wohl immer verwehrt bleiben wird.) Es geht also nicht darum, das Fremde zu «begreifen» und es auf diese Weise zu «verstehen», es sich «anzueignen» (im Sinne eines Besitzes). Eher geht es darum, durch die Betrachtung des Fremden das Eigene zu verstehen. Bzw. darum, das Andere in seiner Fremdheit zur Geltung zu bringen – das Andere «in seine Andersheit zu befreien», wie es in Han's Essay ‹Agonie des Eros› heißt. Diese «Negativität» des Ganz-Anderen ist nach Han jedem Denken im emphatischen Sinne, jedem Theoretisieren, eigen. Der ‹Agonie›-Band endet daher auch mit einem, man könnte sagen: «Lob der Theorie», das mir sehr aus dem Herzen spricht und das ich deswegen hier etwas ausführlicher zitieren möchte:

 

«Vor einiger Zeit hat der Chefredakteur des Magazins Wired, Chris Anderson, einen provokanten Artikel mit dem Titel ‹The End of Theory› veröffentlicht. Dort behauptet er, daß unvorstellbar große Datenmengen, die nun verfügbar seien, Theoriemodelle gänzlich überflüssig machen würden: ‹Today companies like Google, which have grown up in an era of massively abundant data, don’t have to settle for wrong models. Indeed, they don’t have to settle for models at all.‹ (Wired Magazine, 16.7.2008 [‹to settle for› heißt wohlgemerkt «sich begnügen mit»; H.A.]) Man analysiert Daten und findet Muster (patterns) ausgehend von Zugehörigkeiten oder Abhängigkeiten. An die Stelle hypothetischer Theoriemodelle treten direkte Abgleiche von Daten, Korrelationen ersetzen Kausalität: «Out with every theory of human behavior, from linguistics to sociology. Forget taxonomy, ontology, and psychology. Who knows why people do what they do? The point is they do it, and we can track and measure it with unprecedented fidelity. With enough data, the numbers speak for themselves.›

 

Seiner These legt Anderson einen schwachen, verkürzten Theoriebegriff zugrunde. Die Theorie ist mehr als ein Modell oder eine Hypothese, die sich anhand von Experimenten verifizieren oder falsifizieren ließe. Starke Theorien wie etwas Platons Ideenlehre oder Hegels Phänomenologie des Geistes sind keine Modelle, die sich durch Analysen von Daten ersetzen ließen. Ihnen liegt eine Denken im emphatischen Sinne zugrunde. Die Theorie stellt eine wesentliche Entscheidung dar, die die Welt ganz anders, in einem ganz anderen Licht erscheinen läßt. Sie ist eine primäre, primordale Dezision, die darüber entscheidet, was dazugehört und was nicht, was ist oder zu sein hat und was nicht. Als hochselektive Narration schlägt sie eine Schneise der Unterscheidung durch das noch ‹Unbegangene›.

 

Ein datengetriebenes Denken gibt es nicht. Datengetrieben ist nur das Rechnen. Dem Denken ist die Negativität des Unberechenbaren eingeschrieben. So ist es den ‹Daten›, d. h. dem Gegebenen, vorgeordnet, ja vorgegeben. Die Theorie, der das Denken zugrundeliegt, ist eine Vor-Gabe. Sie transzendiert die Positivität des Gegebenen und läßt dieses auch jäh in einem anderen Licht erscheinen. Das ist keine Romantik, sondern die Logik des Denkens, die seit dessen Anfängen gilt. Die uferlose wachsende Daten- und Informationsmasse lenkt die Wissenschaft heute massiv von der Theorie, vom Denken ab. Informationen sind an sich positiv. Die datenbasierte Positivwissenschaft (die Google-Wissenschaft), die sich im Ab- und Vergleich von Daten erschöpft, beendet die Theorie im emphatischen Sinne. Sie ist additiv oder detektivisch und nicht narrativ oder hermeneutisch. Ihr fehlt die durchgehende narrative Spannung. So zerfällt sie zu Informationen. Angesichts der wuchernden Informations- und Datenmasse sind heute Theorie notwendiger denn je. Sie hindern die Dinge daran, sich zu vermischen und zu wuchern. So reduzieren sie Entropie. Die Theorie klärt die Welt, bevor sie sie erklärt. Man muß den gemeinsamen Ursprung von Theorie und Zeremonien bzw. Ritualen bedenken. Sie setzen die Welt in Form. Sie formen den Verlauf der Dinge und rahmen sie ein, damit sie nicht ausufern. Die heutige Informationsmasse wirkt dagegen deformativ.

 

Die Informationsmasse erhöht massiv die Entropie der Welt, ja den Lärmpegel. Das Denken bedarf einer Stille. Es ist eine Expedition in die Stille. Die heutige Krise der Theorie hat vieles gemeinsam mit der Krise der Literatur und der Kunst. Der französische Vertreter des nouveau roman Michel Butor begreift sie als eine Krise des Geistes: ‹Wir leben nicht nur in einer Wirtschaftskrise, wir leben auch in einer literarischen Krise. Die europäische Literatur ist bedroht. Was wir in Europa gerade erleben, ist eine Krise des Geistes.› (Die Zeit, 12.7.2012) Auf die Frage, woran man diese Krise des Geistes erkenne, antwortet Butor: ‹Seit zehn oder zwanzig Jahren passiert beinahe nichts mehr in der Literatur. Es gibt eine Flut von Veröffentlichungen, aber einen geistigen Stillstand. Die Ursache ist eine Krise der Kommunikation. Die neuen Kommunikationsmittel sind bewundernswert, aber sie verursachen einen ungeheuren Lärm.› Die wuchernde Informationsmasse, dieses Übermaß an Positivität, äußert sich als Lärm. Die Transparenz- und Informationsgesellschaft ist eine Gesellschaft mit sehr hohem Lärmpegel. Ohne Negativität gibt es aber nur das Gleiche. Der Geist, der ursprünglich Unruhe bedeutet, verdankt ihr seine Lebendigkeit.

 

Die datengetriebene Positivwissenschaft bringt keine Erkenntnis oder Wahrheit hervor. Informationen nimmt man zur Kenntnis. Aber die Kenntnis ist noch kein Erkenntnis. Aufgrund ihrer Positivität ist sie additiv und kumulativ. Informationen als Positivitäten verändern und verkünden nichts. Sie sind ganz folgenlos. Die Erkenntnis ist dagegen eine Negativität. Sie ist exklusiv, exquisit und exekutiv. So kann eine Erkenntnis, der eine Erfahrung vorausgeht, das Gewesene in Gänze erschüttern und etwas ganz Anderes neu beginnen lassen. Das Übermaß an Kenntnisnahme läßt keine Erkenntnis aufkommen. Die Informationsgesellschaft ist eine Erlebnisgesellschaft. Auch das Erlebnis ist additiv und kumulativ. Darin unterscheidet es sich von der Erfahrung, die oft einmalig ist. So hat es auch keinen Zugang zum ganz Anderen. Ihm fehlt der Eros, der verwandelt