Cornelius Castoriadis Gesellschaft als imaginäre Institution

 

I.

 

Es gibt keine Transzendenz, keine Zuflucht von dem, was hier geschieht; wir sind definitiv das, was wir werden, was wir geworden sein werden.

 

Der berühmte Satz vom ‹Rückstand des Bewußtsein gegenüber dem Leben› ist bloßes Geschwätz ... Weder gibt es Leben oder gesellschaftliche Wirklichkeit ohne Bewußtsein, noch läßt sich sagen, das Bewußtsein hinke der Wirklichkeit hinterher, denn das würde heißen, daß der Kopf eines lebendigen Menschen ständig diesem Menschen selbst ‹hinterherhinkt›. ¶

 

Als Agent der Veränderung und Schöpfung in der Geschichte ist das menschliche Bewußtsein ohne Zweifel wesentlich praktisches Bewußtsein, wirkende und tätige Vernunft – viel mehr als bloß theoretische Reflexion, an die die Praxis angehängt würde wie das Korollar an ein Argument. Die Praxis gibt nicht nur theoretischen Schlüssen materielle Gestalt. Sie bewirkt nicht nur eine Veränderung der materiellen Welt, sondern verändert ebenso und in noch höherem Maße das Verhalten der Menschen und ihre Verhältnisse. Die Bergpredigt und das Kommunistische Manifest zählen genauso zur gesellschaftlichen Praxis wie eine technische Erfindung, und sie besitzen, was ihre tatsächlichen Wirkungen auf die Geschichte angeht, unendliche viel mehr Gewicht. ¶

 

Das menschliche Denken ist nicht bloß penible Wiedergabe des Gegebenen, so wenig es diesem keuchend hinterherläuft. Denn das Denken relativiert auch das Bestehende, stellt Entfernungen her, liefert Entwürfe. Die Geschichte ist ebenso bewußte Schöpfung wie unbewußte Wiederholung. Was Marx als Überbau bezeichnet hat, ist keine passive und verspätete Widerspiegelung einer (im übrigen) undefinierbaren gesellschaftlichen ‹Materialität›, so wenig wie die menschliche Wahrnehmung und Erkenntnis ein ungenauer und trüber ‹Reflex› einer Außenwelt ist, die schon von sich aus alle Formen, Farben und Gerüche besäße. ¶

 

Ob es sich um den Maisanbau mexikanischer Indianerstämme oder den Reisanbau in indonesischen Dörfern handelt, niemals wird die landwirtschaftliche Arbeit als bloßes Mittel zur Ernährungssicherung, sondern stets zugleich als kultischer Akt der Verehrung eines Gottes verstanden, als Fest und Tanz. Wenn dann ein Theoretiker daherkommt und erklärt, alles, was die eigentlich produktiven Handgriffe bei diesen Gelegenheiten umgibt, sei bloße Mystifikation, Illusion und List der Vernunft – so muß man mit allem Nachdruck betonen, daß eben dieser Theoretiker eine viel reinere Inkarnation des Kapitalismus ist, als es irgendein Unternehmer je sein könnte. Denn nicht nur bleibt er in den eigentümlichen Kategorien des Kapitalismus jämmerlich befangen; er will diesen Kategorien sogar noch den ganzen Rest der Menschheitsgeschichte unterwerfen und schließlich behaupten, daß alles, was die Menschen seit Jahrtausenden getan und gewollt hätten, bloß eine unfertige Skizze des Fabriksystems gewesen sei. Nichts rechtfertigt die Annahme, das nackte Gerippe der Handlungen, das die produktive Arbeit im engeren Sinne ausmacht, sei in höherem Maße ‹wahr› oder ‹wirklich› als die Gesamtheit von Bedeutungen, in die diese Handgriffe eingebettet worden sind. Es sei denn, man wollte behaupten, die wahre Natur des Menschen sei die eines ökonomisch-produktiven Tieres; ein solches Postulat wäre völlig willkürlich und hätte, wenn es wahr wäre, zur Folge, daß der Sozialismus auf immer unmöglich ist.

 

Wenn von der Geschichte gesprochen wird – wer spricht dann? Jemand, der einer bestimmten Epoche, Gesellschaft, Klasse angehört, kurz: ein geschichtliches Wesen. Eben dieser Umstand liegt der Möglichkeit von Geschichtserkenntnis zugrunde (weil allein ein geschichtliches Wesen über geschichtliche Erfahrung verfügen und darüber reden kann), schließt es aber zugleich aus, daß diese Erkenntnis je den Status eines geschlossenen und durchsichtigen Wissens erlangen könnte (weil es seinem Wesen nach selber eine geschichtliche Erscheinung ist, die als solche begriffen und interpretiert werden will). Der Diskurs über die Geschichte findet in der Geschichte statt. ¶

 

Dieser Gedanke darf nicht mit skeptizistischen oder naiv relativistischen Annahmen verwechselt werden: jeder Satz, den jemand sagt, sei bloße Meinung; sprechend sage man mehr von sich als den Dingen. Es gibt sehr wohl noch etwas anderes als bloße Meinung (ohne die kein Diskurs, kein Handeln und keine Gesellschaft je möglich wäre). Man kann Vorurteile, Vorlieben und Abneigungen kontrollieren oder ausschalten und die Regeln der ‹wissenschaftlichen Objektivität› anwenden. Nicht alle Meinungen sind gleich viel wert; Marx zum Beispiel ist ein großer Ökonom, obwohl er irrt, während François Perroux nur ein Schwätzer ist, auch wenn er sich nicht irrt. Doch selbst wenn alle Filter durchlaufen, alle Regeln beachtet und alle Tatsachen in Rechnung gestellt sind, bleibt doch, daß keiner, der spricht, ‹transzendentales Bewußtsein› ist, sondern ein geschichtliches Wesen – und das ist kein unglücklicher Zufall, sondern eine logische (‹transzendentale›) Bedingung der Geschichtserkenntnis. Ebenso wie nur Wesen, die selbst auch Teil der Natur sind, das Problem einer Naturwissenschaft stellen können – weil allein Wesen aus Fleisch und Blut von der Natur Erfahrung besitzen können –, so stellt sich auch das Problem der Geschichtserkenntnis nur geschichtlichen Wesen, weil ihnen allein die Geschichte als Gegenstand von Erfahrung zugänglich ist. Und wie man auch nicht aus dem Universum heraustreten muß, um eine Erfahrung der Natur zu bekommen und sie zu betrachten, kann man bei der Geschichtserkenntnis die Geschichte nicht von außen betrachten wie einen fertigen Gegenstand, den man vor sich hinstellt. Denn eine solche Geschichte hat es nie gegeben und wird nie jemandem als Untersuchungsgegenstand gegeben sein. ¶

 

Marx hat das nicht nur gewußt, er hat es auch als erster klar ausgesprochen. Sein Spott über alle die, welche aus ihrer Epoche herausspringen zu können meinten, richtet sich gegen die Idee eines reinen theoretischen Subjekts, das mit der Fähigkeit reiner Geschichtserkenntnis ausgestattet wäre, sowie gegen die Vorstellung man könnte a priori die Kategorien herleiten, die für das gesamte historische Material gültig (und doch nicht bloß flache und leere Abstraktionen) sind. Gleichzeitig denunziert er die Ungeschichtlichkeit der bürgerlichen Denker seine Zeit, die naiv auf vergangene Perioden Kategorien anwandten, die nur für den Kapitalismus sinnvoll sind, und sich weigerten, diese Kategorien historisch zu relativieren (für sie «gab es Geschichte, doch es gibt sie nicht mehr», heißt es in einem Satz, der geradewegs an die Adresse der heutigen «Marxisten» gerichtet zu sein scheint). Von seiner eigenen Theorie behauptete Marx dagegen, daß sie dem Standpunkt einer Klasse entspreche, nämlich dem Standpunkt des revolutionären Proletariats. Damit stellte er erstmals das Problem, dem man inzwischen den Namen Soziozentrismus gegeben hat: den Umstand, daß sich jede Gesellschaft als Mittelpunkt der Welt setzt und alle anderen von ihrer eigenen Position aus betrachtet. Und Marx unternahm auch den Versuch, dieses Problem zu lösen.

 

Oben haben wir zu zeigen versucht, daß Marx diesen Soziozentrismus letztlich nicht zu überwinden vermochte und daß man in ihm das Paradox eines Denkers findet, dem die geschichtliche Relativität der kapitalistischen Kategorien einerseits voll bewußt ist, der sie aber zugleich auf die gesamte Menschheitsgeschichte (rück-)projiziert. Dabei handelt es sich wohlgemerkt nicht um eine Kritik an Marx, sondern um eine Kritik der Geschichtserkenntnis. Die betreffende Paradoxie ist konstitutiv für jeden Versuch, die Geschichte zu denken. ¶

 

Nur wenn die Gegenwart höchst gegenwärtig ist, läßt sie in der Vergangenheit mehr und etwas anderes sichtbar werden, als die Vergangenheit von sich selbst wahrnahm. Wenn Marx in der Vergangenheit Entdeckungen macht, dann kann er das in gewisser Weise gerade deshalb, weil er etwas auf sie projiziert. ¶

 

Denn letztlich gibt es gar keine solche ‹eigene Wahrheit›, weder die vom historischen Materialismus herausgearbeitete noch diejenige ‹Wahrheit›, die sich bei dem Versuch ergäbe, ‹jede Gesellschaft aus ihrem eigenen Blickwinkel zu denken‹, zweifellos ein utopisches und soziozentrisches Unterfangen. Was man die Wahrheit einer Gesellschaft nennen kann, ist ihre Wahrheit in der Geschichte, für sich selbst ebenso wie für alle anderen. Denn das Paradox der Geschichte besteht darin, daß jede Kultur und jede Epoche als besondere und von ihren eigenen Obsessionen beherrschte bei ihren Vorgängern und Nachbarn jeweils neue Bedeutungen hervorruft und enthüllt. Niemals können diese neue Bedeutungen ihren Gegenstand erschöpfen oder fixieren, schon deshalb nicht, weil sie früher oder später selbst Deutungen erfahren (wir versuchen heute zu verstehen, wie und warum die Renaissance, das 17. und das 18. Jahrhundert die klassische Antike auf so unterschiedliche Weise gesehen haben). Ebensowenig lassen sie sich jedoch auf die Zwänge der Epoche reduzieren, die sie auf gedeckt hat in diesem Falle wäre die Geschichte bloß eine Sammlung von Delirien, und wir könnten ein Buch aus der Vergangenheit nicht einmal lesen.

 

Über den ‹Fortschritt›; Marx und die Griechen. Gewiß hat Marx niemals ausdrücklich die ‹Überlegenheit› der bürgerlichen Kultur und Gesellschaft über die griechische behauptet; trotzdem ist dies die unvermeidliche logische Folgerung, die sich aus der Anwendung der ‹Dialektik› auf die Geschichte und aus der angeblichen Abhängigkeit des ‹Überbaus› von der ‹Basis› ergibt. Weil er jedoch weder Philister war noch der Absolute Geist in Menschengestalt, ‹widerspricht› sich Marx in diesem Punkt – was ihm zur Ehre gereicht. ¶

 

Wenn die Geschichte jemals irgendwo ein unerreichbares (oder auch nur unüberschreitbares) Muster hervorgebracht hat, wird jede Diskussion sinnlos, die mit dem Begriff ‹Fortschritt› hantiert. ¶

 

Wie ist es in der Tat möglich, daß eine Kant- und Hegel-Lektüre nicht im mindesten überflüssig macht, Platon und Aristoteles zu lesen, während ein gutes Physikbuch eine Newton-Lektüre erübrigt, es sei denn, man wäre Wissenschaftstheoretiker? Wie kommt es, daß uns einige Sätze jener Autoren mehr Grund zum Nachdenken geben als 99,99 Prozent der Sätze, die in den heutzutage millionenfach verbreiteten Büchern stehen? Wenn Platon der glücklichen Kindheit der Menschheit zugehört, dann wäre Kant vielleicht weniger anmutig, gewiß aber klüger als Platon. Er müßte es einfach sein. Aber er ist es nicht. Wenn die Menschheit eine ‹Kindheit› und daraufhin ein ‹Erwachsenenalter› durchläuft, dann müßte (trotz aller Einschränkungen, die beim Gebrauch solcher Metaphern einzuräumen wären) Spinoza notwendig ‹reifer› sein als Aristoteles. Aber er ist es nicht. Solche Aussagen sind sinnlos. Kant ist Platon weder über- noch unterlegen. Trotzdem sollten wird uns daran erinnern, daß ein Wissenschaftsphilosoph wie A. N. Whitehead geschrieben hat, das Ganze der abendländischen Philosophie lasse sich vielleicht am besten als eine Reihe von Fußnoten zu Platon verstehen. ¶

 

Wir wissen nichts von den Griechen, wenn wir nicht wissen, was die Griechen von sich selbst wußten, dachten und fühlten. Aber offenbar gibt es auch ebenso wichtige Dinge, die Griechenland betreffen, die die Griechen jedoch nicht wußten oder wissen konnten. Wir können sie sehen, doch nur von unserem Platz aus und nur dank unseres Platzes. Eben das heißt ja ‹sehen›. Nie werde ich von allen möglichen Orten aus gleichzeitig sehen können; ich sehe jeweils von einer bestimmten Stelle aus eine Seite, einen ‹Aspekt› in einer ‹Perspektive›. Und ‹ich sehe› besagt: ich sehe, weil ich ich bin, und ich sehe nicht nur mit den Augen; sobald ich etwas sehe, ist mein ganzes Leben daran beteiligt, mein ganzes Leben verkörpert sich in dieser Sicht, es ist das Sehen. Alles andere ist bloß ein ewiger Wunschtraum der Theologie und Philosophie. ¶

 

Der Umstand, daß wir immer nur nacheinander ‹Aspekte› eines Gegenstandes erforschen können, nivelliert nicht den Unterschied zwischen Blinden und Sehenden, Farbenblinden und Normalen, Halluzinierenden und Gesunden. Es bleibt auch ein Unterschied, ob jemand den Knick eines ins Wasser getauchten Stabes als optische Täuschung erkennt und ihn deshalb auch gerade sieht, oder ob er der Täuschung erliegt. In der Geschichte wie in jedem anderen Bereich auch heißt Bemühung um Wahrheit nichts anderes als: sich vornehmen, den Gegenstand und uns selbst in neuem Lichte, von anderen Seiten zu sehen, die Täuschungen und deren Gründe zu bestimmen und all dies auf eine Weise in Zusammenhang zu bringen, die wir mit einem nicht minder rätselhaften Ausdruck kohärent nennen. Dieses Vorhaben kommt nie zum Abschluß. Und entgegen der Ansicht der Marxisten, die Marx selbst hin und wieder teilte, war der ‹Besitz der Wahrheit› in einem ‹absoluten›, also mythischen Sinne niemals Voraussetzung für die Revolution oder einen radikalen Umbau der Gesellschaft. Die Idee eines solchen ‹Besitzes› ist nicht nur in sich widersinnig, weil sie den Abschluß eines unabschließbaren Vorhabens unterstellt, sondern auch zutiefst reaktionär; denn der Glaube an eine abgeschlossene und ein für allemal eroberte Wahrheit, die ja dann auch im Besitz von einem oder einigen sein könnte, war einer der Gründe, weshalb Faschismus und Stalinismus die Massen an sich binden konnten. ¶

 

Auf den ersten Blick erscheint die Geschichte als Ort bewußter Handlungen bewußter Wesen. Sieht man näher zu, verschwindet dieser Augenschein rasch. Man bemerkt dann – mit Engels –, daß die Geschichte ein Feld unbewußter Absichten und ungewollter Ziele ist. Was beim geschichtlichen Handeln der Menschen tatsächlich herauskommt, ist von den Urhebern sozusagen niemals gewollt worden. ¶

 

Die Illusion der nachträglichen Rationalisierung: Das geschichtliche Material, in dem wir unweigerlich artikulierten Sinn, wohlbestimmte Entitäten von beinahe individueller Gestalt sehen – der Peloponnesische Krieg, der Aufstand des Spartakus, die Reformation, die Französische Revolution –, hat selbst unsere Vorstellung davon geprägt, was historischer Sinn und was eine historische Gestalt ist. Diese Ereignisse selbst haben uns gelehrt, was ein Ereignis ist, und die Vernünftigkeit, die wir nachträglich darin finden, ist nur dann verwunderlich, wenn wir vergessen haben, daß wir sie zuvor von ihnen abgezogen haben. ¶

 

Überraschung empfindet man beim Blick auf die Geschichte spätestens dann, wenn man feststellen muß, daß die Welt heute in der Tat anders aussähe, wäre die Nase der Kleopatra kürzer gewesen. Und noch frappierender ist es, wenn man dann bemerkt, daß solche Nasen zumeist die richtige Größe hatten. ¶

 

Eine vollkommen rationale Welt wäre noch viel mysteriöser ... Eine durch und durch vernünftige Geschichte bliebe uns viel unverständlicher als die uns bekannte; ihre vollkommene Rationalität stünde auf vollkommen irrationalen Grundlagen, weil sie zur Ordnung des Faktischen zu rechnen wäre, und zwar eines so rohen, schroffen und umfassenden Faktischen, daß uns die Luft wegbliebe. Schließlich verschwände unter diese Voraussetzungen das vorrangigste Problem der Praxis: daß die Menschen ihrem individuellen und gesellschaftlichen Leben einen Sinn geben müssen, der nicht schon vorgezeichnet ist, und zwar unter realistischen Bedingungen, die die Erfüllung ihres Entwurfs weder ausschließen noch garantieren. ¶

 

Eine Dialektik, die ‹nicht-spiritualistisch› sein will, darf nicht materialistisch sein, das heißt: keine absolutes Sein annehmen (‹Geist›, ‹Materie› oder die von Rechts wegen schon gegebene Totalität aller möglichen Bestimmungen). Sie muß auf Geschlossenheit und Vollendung verzichten und die restlose Erfassung der Welt durch ein System zurückweisen. Um der rationalistischen Illusion zu entgehen, muß sie Ernst machen mit dem Gedanken, daß es Unendliches und Unbestimmtes gibt; ohne deshalb vor der Anstrengung zu kapitulieren, hätte sie zugegeben, daß jede rationale Bestimmung einen unbestimmten und nicht-rationalen Rest übrig läßt. Sie muß zugestehen, daß dieser Rest nicht weniger wesentlich ist als das Analysierte, daß Zufall und Notwendigkeit beständig ineinander verschränkt sind und daß die innere und äußere ‹Natur› immer noch etwas anderes und mehr ist als das, was das Bewußtsein daraus konstruiert. ¶

 

Das revolutionäre Moment springt in den Marxschen Jugendwerken ins Auge, erscheint noch von Zeit zu Zeit in den Werken der Reife und taucht gelegentlich in den Schriften der größten Marxisten wieder auf: Rosa Luxemburg, Lenin, Trotzki, ein letztes Mal bei Lukács. Das Erscheinen dieses Moments bedeutet eine entscheidende Wende in der Geschichte der Menschheit. Es zielt auf den Sturz der spekulativen Philosophie und verkündet daher, es gehe nicht mehr darum, die Welt zu interpretieren; es komme vielmehr darauf an, sie zu verändern und die Philosophie zu überwinden, das heißt zu verwirklichen. Dieses Moment enthält die Weigerung, die Frage der Geschichte so zu stellen, daß sie damit schon gelöst ist. ¶

 

Jenseits eines Handelns, das seine wahren Ziele und seine wirklichen Resultat nicht kennt; jenseits einer Technik, die nach exakten Berechnungen einen Gegenstand modifiziert, ohne etwas Neues dabei entstehen zu lassen, kann und muß es eine geschichtliche Praxis geben, die die Welt verändert, indem sie sich selbst verändert, die die Erzieher erzieht und das Neue vorbereitet, aber nicht vorherbestimmt, weil sie weiß, daß die Menschen ihre Geschichte selber machen. ¶

 

II.

 

Totale Ordnung und totale Unordnung kommen im Realen nicht vor, sondern sind Grenzbegriffe, die wir daraus abstrahieren, bloße Konstruktionen, die ihre Berechtigung und Kohärenz verlieren, wenn man sie verabsolutiert. Sie gehören zu jener von der Philosophie  seit 2500 Jahren geschaffenen mythischen Erweiterung der Welt, von der wir uns lösen müssen, wenn wir die Gegenstände unseres Denkens von unseren eigenen Phantasmen befreien wollen. Die geschichtliche Welt ist die Welt des menschlichen Tuns. Dieses steht immer in Beziehung zum Wissen, aber diese Beziehung bleibt klärungsbedürftig.

 

Sicherlich gäbe es kein menschliches Tun ohne Bewußtsein – aber niemand könnte sein Tun nur eine Sekunde lang fortführen, wenn man ein erschöpfendes Wissen, völlige Klarheit über seinen Gegenstand und das eigene Vorgehen zur Voraussetzung machte. ¶

 

Die Erziehung eines Kindes (durch Eltern oder Pädagogen) kann mit mehr oder weniger Bewußtsein und Einsicht geschehen. Doch vollständige Aufklärung über das Wesen des Kindes und die pädagogische Beziehung ist dabei definitionsgemäß ausgeschlossen. Wenn ein Arzt oder, besser noch, ein Analytiker eine Behandlung – erwartet man von ihm etwa, daß er seinen Patienten von vornherein in ein begriffliches Schema einordnet, daß er Diagramme seiner Konfliktstrukturen zeichnet und den Gang der Behandlung unveränderlich festlegt? Hier geht es, ebenso wie im Fall des Pädagogen, um etwas anderes als vorläufige Unkenntnis oder ‹therapeutisches› Schweigen. Die Krankheit und der Kranke sind nicht zwei Gegenstände, von denen einer den anderen enthält, so wenig wie die Zukunft des Kindes ein Ding ist, das in dem Kind-Wesen enthalten ist. In beiden Fällen liegt nicht etwas vor, dessen Wesen und Wechselverhältnis man, vorbehaltlich weiterer Erforschung, definieren könnte. Die Krankheit ist eine Seinsweise des Kranken, bei der es um das gesamte vergangene, aber auch künftige Leben des Patienten geht. Und die Bedeutung dieses Lebens ist nicht von einem bestimmten Augenblick an festgelegt und abgeschlossen, sondern es geht weiter und verändert dadurch die Bedeutungen der Vergangenheit. Das Entscheidende bei der Behandlung (wie bei der Erziehung) ist das Verhältnis, das sich zwischen Patient und Arzt (zwischen Kind und Erwachsenem) herausbildet, und die Entwicklung dieser Beziehung, die wiederum von dem abhängt, was jeder der beiden tun wird. Weder vom Erzieher noch vom Arzt verlangt man eine vollständige Theorie ihrer Tätigkeit, die sie im übrigen auch gar nicht geben könnten. Trotzdem wird man ihr Tun nicht als blind bezeichnen oder gar behaupten wollen, die Erziehung eines Kindes beziehungsweise die Behandlung eines Kranken ähnele einem Roulettespiel. Die Anforderungen, die das Tun an uns richtet, sind von anderer Art. ¶

 

Der Künstler, der ein Werk beginnt, weiß anfangs ebensowenig wie der Autor eines theoretischen Textes (aber auch ebensogut wie dieser), was er sagen wird oder gar was das, was er sagen wird, besagen wird. Dies gilt auch für die ‹rationalste› aller Tätigkeiten, die theoretische. ¶

 

Die Theorie als solche ist ein Tun, der stets ungewisse Versuch, das Projekt einer Aufklärung der Welt zu verwirklichen. Und das gilt auch für die Philosophie als die höchste oder äußerste Form von Theorie. Es ist der Versuch, die Welt zu denken, ohne vorher oder nachher sicher zu sein, daß die Welt sich tatsächlich denken läßt, ja sogar ohne zu wissen, was Denken eigentlich genau heißt. Übrigens ist dies der Grund, weshalb man die Philosophie zu ihrer ‹Verwirklichung› nicht erst ‹aufheben› muß. Die Philosophie ist ‹aufgehoben›, sobald man ‹realisiert› hat, was sie ist: nämlich Philosophie, und das heißt viel und zugleich sehr wenig. Die Philosophie wird ‹aufgehoben› sein (und ‹aufheben› bedeutet weder ‹vergessen› noch gar ‹verachten›, sondern ‹an seinen Platz stellen›), sobald man begriffen hat, daß sie nur ein Entwurf ist; ein notwendiger Entwurf, dessen Ursprung, dessen Tragweite und Schicksal jedoch ungewiß ist; zwar nicht gerade ein Abenteuer, aber auch keine Schachpartie oder gar die Verwirklichung einer vollkommenen Durchsichtigkeit der Welt für das Subjekt und des Subjekts für sich selbst. Und wenn die Philosophie von einer aufgeklärten und zugleich radikalen Politik verlangte, diese müsse sich in aller Strenge vollkommen aus der Vernunft begründen lassen, so könnte die Politik mit gutem Recht antworten: Schau einmal in den Spiegel! Oder hältst du es für deine Aufgabe, Maßstäbe für die anderen aufzustellen, denen due selbst nicht genügen kannst? ¶

 

Für den Entwurf ist die Verwirklichung ein wesentliches Moment. Wenn die Verwirklichung auch nicht immer mit der Vorstellung Schritt hält, handelt es sich doch um keine prinzipielle Spanne; jedenfalls gehört diese Distanz in einen anderen Kategorienzusammenhang als der Abstand zwischen ‹Idee› und ‹Wirklichkeit›. Sie verweist vielmehr auf eine neuerliche Veränderung sowohl der Vorstellung als auch der Wirklichkeit. So gesehen ist der Entwurf in seinem Kern ein Sinn und eine Orientierung (Richtung auf ...), die sich nicht einfach in ‹klaren und distinkten Vorstellungen› festhalten läßt und die jede Vorstellung, die man sich zu einem bestimmten Zeitpunkt von diesem Entwurf machen kann, sprengt. ¶

 

Die sozialistische Revolution erstrebt die Veränderung der Gesellschaft durch die autonome Tätigkeit der Menschen und zielt auf die Einrichtung einer Gesellschaft, die in ihrer Organisation der Autonomie aller entgegenkommt. Das ist ein Entwurf. Es ist kein Theorem, nicht die Schlußfolgerung eines Beweises, der anzeigt, was unvermeidlich kommen muß; schon die Vorstellung eines solchen Beweises erscheint absurd. Bei diesem Entwurf handelt es sich aber auch nicht um eine Utopie, einen Akt des Glaubens oder eine willkürliche Wette. ¶

 

Der revolutionäre Entwurf wurzelt in der tatsächlichen gesellschaftlichen Wirklichkeit und stützt sich auf sie, auf die Krise der bestehenden Gesellschaft und die Ablehnung dieser Gesellschaft durch die meisten in ihr lebenden Menschen. Diese Krise ist nicht die vom Marxismus vermeintlich enthüllte Krise, die sich im ‹Widerspruch zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse› äußern sollte. Sie besteht vielmehr darin, daß die gesellschaftliche Organisation die von ihr selbst gesteckten Ziele nur unter Einsatz von Mitteln erreichen kann, die jenen widersprechen. Sie muß Erwartungen wecken, die sie nicht erfüllen kann, Kriterien aufstellen, die sie niemals anzuwenden vermag, und Normen postulieren, die sie selbst zwangsläufig verletzen muß. Sie verlangt von den Menschen – als Produzenten oder Bürgern –, passiv zu bleiben und sich mit der Ausübung der zugewiesenen Aufgabe zu begnügen. Sobald sie entdeckt, daß diese Passivität ihr Krebsgeschwür ist, fordert sie zu Initiative und Beteiligung auf, um jedoch bald zu bemerken, daß sie solche Initiative gar nicht tolerieren könnte, weil damit das Wesen der bestehenden Ordnung in Frage gestellt würde. Sie muß in einer gespaltenen Realität leben und das Offizielle vom Tatsächlichen trennen, weil beides in unlöslichem Widerspruch steht. Sie hat nicht nur unter einem Klassengegensatz zu leiden, bei dem sich die Parteien äußerlich gegenüberstehen; sie ist innerlich zerrissen. ¶

 

Läuft meine Haltung darauf hinaus, daß ich das Realitätsprinzip leugne? Aber was heißt dieses Prinzip? Daß man arbeiten muß – oder daß diese Arbeit notwendig eine sinnlose und ausgebeutete sein muß? ... Meine Wünschen wären infantil? Aber eine infantile Situation besteht doch gerade darin, daß mir ein anderer das Leben und das Gesetz gibt. Man wird einfach ins Leben gesetzt und bekommt das Gesetz vorgesetzt, ohne jede weitere Diskussion. Was ich will, ist genau das Gegenteil: mein Leben selbst gestalten, mich in meinem Leben entfalten, wenn möglich Leben geben. Das Gesetz soll mir nicht einfach vorgegeben werden, ich will es mir zugleich selber geben. Gerade der Angepaßte, der Unpolitische bleibt auf Dauer in einer infantilen Situation: er nimmt das Gesetz ohne Diskussion an und hat nicht den Wunsch, an dessen Herausbildung beteiligt zu werden. Wer in der Gesellschaft ohne den Willen lebt, auf das Gesetz Einfluß zu nehmen, wer ohne politischen Willen ist, setzt nur einen gesellschaftlichen, namenlosen Vater an die Stelle seines privaten Vaters. Eine infantile Situation besteht zum einen darin, zu nehmen, ohne zu geben, und zum anderen darin, etwas zu tun oder zu sein, um zu bekommen. Was ich dagegen will, ist zunächst ein gerechter Tausch und später die Aufhebung des Tauschs. Infantile Situationen sind gekennzeichnet von einem dualen Verhältnis, dem Phantasma der Verschmelzung – und in diesem Sinne ist es gerade die gegenwärtige Gesellschaft, die alle infantilisiert, indem sie die Individuen mit irrealen Entitäten imaginär verschmilzt: mit Vorgesetzten, Nationen, Kosmonauten, Idolen. Ich dagegen will, daß die Gesellschaft endlich aufhört, eine (überdies falsche und geradezu groteske) Familie zu sein, daß sie endlich die Dimension gewinnt, die einer Gesellschaft zukommt: daß sie nämlich zum Netz der Beziehung autonomer Erwachsener wird. ¶

 

Die Gründe, deretwegen wir nach Autonomie streben, liegen nicht ausschließlich in der Gegenwart. Sie sind nicht zeitgebunden, insofern wir den Wert der Autonomie auch unter beliebigen anderen Umständen behaupten würden. Ja wir glauben sogar, daß das Ziel Autonomie zwangsläufig überall dort erscheint, wo es Menschen und Geschichte gibt; daß das Ziel Autonomie – ebenso wie das Bewußtsein – das Schicksal des Menschen ist und daß Autonomie von Anfang an aller Geschichte zugrundelag, statt von dieser begründet zu werden. ¶

 

Freud schlug als Maxime der Psychoanalyse vor: «Wo Es war, soll Ich werden.» Ich ist hier, in erster Annäherung, das Bewußte überhaupt. Das Es, eigentlich Ursprung und Sitz der Triebe, muß in diesem Zusammenhang als Repräsentant des Unbewußten im weitesten Sinne verstanden werden. Ich, Bewußtsein und Wille, soll den Platz jener dunklen Kräfte einnehmen, die ‹in mir› herrschen, für mich handeln oder, wie Groddeck sagt, mich behandeln ... Ich soll die Stelle des Es einnehmen – das kann weder heißen, daß die Triebe unterdrückt werden sollen, noch daß das Unbewußte zu beseitigen oder aufzusaugen ist. Vielmehr geht es darum, ihren Platz als Entscheidungsinstanz einzunehmen. Autonomie wäre die Herrschaft des Bewußten über das Unbewußte. ¶

 

Wie Jacques Lacan sagt: «Das Unbewußte ist der Diskurs des Anderen»; das Unbewußte ist in entscheidendem Maße der Sitz der Absichten und Wünsche, der Besetzungen, Ansprüche, Erwartungen – der Bedeutungen also, die dem Individuum seit seiner Zeugung und sogar schon vorher von denen beigemessen wurden, die es erzeugt und aufgezogen haben. Autonomie heißt dann: mein Diskurs muß den Platz des Diskurses des Anderen einnehmen, eines fremden Diskurses, der in mir ist und mich beherrscht: der aus mir spricht. ¶

 

Autonom ist ein Subjekt, das mit Grund schließen kann: Das ist wahr, und: Das ist mein Begehren. ¶

 

Gewiß enthält das Subjekt ein Moment, das ‹niemals vergegenständlicht werden kann›: die Freiheit, von der keine Entfremdung möglich ist, die stets vorhandene Möglichkeit einer Rückwendung des Blicks, der Absehung von jedem bestimmten Inhalt, des Ausklammerns von allem, einschließlich seiner selbst ... Doch ist dieses Moment abstrakt und leer; es hat niemals etwas anderes geschaffen und wird niemals etwas anderes schaffen als die stumme und nutzlose Evidenz des cogito sum, die unmittelbare Gewißheit, als denkendes Wesen zu existieren; eine Evidenz, die sich von Rechts wegen nicht einmal in Rede überführen läßt. Denn das Sprechen, selbst das schweigende, schlägt eine erste Bresche, in die sogleich von allen Seiten her die Welt und die anderen einsickern. Das Bewußtsein wird von einem reißenden Strom von Bedeutungen überflutet, der – wenn man so sagen kann – nicht von außen kommt, sondern aus dem Inneren. Nur durch die Welt läßt sich die Welt denken. ¶

 

Das Subjekt, von dem wir reden, ist also nicht das abstrakte Moment der philosophischen Subjektivität, sondern das durch und durch von der Welt und den anderen geprägte wirkliche Subjekt. ¶

 

Auch in dieser Beziehung kann es also nicht um die völlige Beseitigung des Diskurses des anderen gehen – nicht nur, weil darin eine unabschließbare Aufgabe läge, sondern auch, weil der andere in jener Tätigkeit, die ihn ‹beseitigen› soll, jeweils selbst gegenwärtig ist. Daher kann es in einem absoluten Sinne auch keine dem Subjekt ‹eigene Wahrheit› geben. Die eigene Wahrheit des Subjekts ist immer Teilhabe an einer Wahrheit, die es überschreitet, weil sie letztlich in der Gesellschaft und in der Geschichte wurzelt – auch da, wo das Subjekt an der Verwirklichung seiner Autonomie arbeitet. ¶

 

Wenn intersubjektives Handeln möglich, also nicht dazu verurteilt ist, entweder inhaltslos zu bleiben oder schon durch seine bloße Existenz das eigene Prinzip zu verletzen, dann liegt das daran, daß Autonomie nicht einfach auf die Aufhebung des Diskurses des anderen hinarbeitet, sondern ihn in der Weise verarbeitet, daß der andere für den Inhalt der eigenen Rede bedeutsam wird und nicht bloß als gleichgültiges Material dient. ¶

 

Unsere Auffassung von Autonomie macht deutlich, daß man Autonomie einerseits nur wollen kann, wenn man sie für alle will, und daß andererseits ihre volle Verwirklichung nur als kollektives Unternehmen denkbar ist. Wenn es nicht länger angeht, unter diesem Ausdruck die unverlierbare Freiheit eines abstrakten Subjekts oder die Herrschaft eines reinen Bewußtseins über ein beliebiges Material zu verstehen, das für alle und immer im Wesen ‹dasselbe› ist und nur ein rohes Hindernis darstellt, das die Freiheit überwinden müßte (die ‹Leidenschaften›, die ‹Trägheit› und dergleichen); wenn weiterhin das Problem der Autonomie darin besteht, daß das Subjekt in sich selbst auf einen Sinn stößt, der nicht der seine ist, den es aber einbeziehen und in den seinen verwandeln soll; wenn Autonomie dasjenige Verhältnis ist, in dem die anderen ständig als Andersheit und Selbstheit des Subjekts gegenwärtig sind – dann ist Autonomie schon philosophisch betrachtet ein gesellschaftliches Problem und nur als gesellschaftliches Verhältnis vorstellbar. ¶

 

Die anderen sind für das Subjekt selbst konstitutiv, für sein Problem und seine mögliche Lösung. Diese Bemerkung soll nur wieder ins Gedächtnis rufen, was eigentlich von Anfang klar war, zumindest jedem, der sich nicht von der Ideologie einer bestimmten Philosophie den Kopf hat vernebeln lassen: daß nämlich die menschliche Existenz eine gemeinsame Existenz ist und daß alles, was nicht von dieser Voraussetzung ausgeht, Unsinn ist. ¶

 

Das Gesellschaftliche schließt etwas ein, das sich als solches immer entzieht. Die gesellschaftlich-geschichtliche Dimension als Dimension des Kollektiven und Anonymen stellt jeden und alle in ein simultanes Verhältnis von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, von Beteiligung und Ausschluß. Es kann gar keine Rede davon sein, dieses Verhältnis abschaffen oder in einem wie auch immer vage definierten Sinne ‹beherrschen› zu wollen. Das Gesellschaftliche, das sind alle und ist keiner. Es ist das, was niemals fehlt und doch fast nie als solches da ist; ein Nichtsein, das wirklicher ist als alles Sein, in das wir eingelassen sind, das uns aber niemals in persona sichtbar gegenübertreten kann. ¶

 

Das Gesellschaftliche erscheint als Struktur (in der Form und Inhalt nicht geschieden werden können) menschlicher Gruppierungen, übersteigt aber auch jede gegebene Struktur, ist ein ungreifbares Ferment, ungestaltes Gestaltendes, ein Immer-mehr-und-etwas-anderes. Es ist das, was sich nur in der und durch die Institution ausdrücken kann, was aber immer auch noch unendlich viel mehr ist als die Institution, weil es paradoxerweise zugleich dasjenige ist, was die Institution ausfüllt, sich von ihr formen läßt, deren Funktionieren ständig überdeterminiert und die Institution letztlich begründet, das heißt schöpft, erhält, verändert und zerstört. ¶

 

Es gibt das instituierte Gesellschaftliche, aber es hat stets das instituierende Gesellschaftliche zur Voraussetzung. ‹Im Normalfall› zeigt sich das Gesellschaftliche in der Institution, doch manchmal ist diese Erscheinung auch trügerisch, wie man in jenen Augenblicken sehen kann, in denen das instituierende Gesellschaftliche hereinbricht und sich mit bloßen Händen an die Arbeit macht: in Augenblicken der Revolution. Doch diese Arbeit zielt geradewegs auf ein Ergebnis, das darin besteht, sich erneut institutionelle Gestalt zu geben, um in dieser sichtbar zu existieren. Und sobald diese Institution errichtet ist, verhüllt sich das instituierende Gesellschaftliche, verflüchtigt sich und ist bereits anderswo. ¶

 

Unser Verhältnis zum Gesellschaftlichen – und zum Geschichtlichen, als dessen Entfaltung in der Zeit – läßt sich nicht als Abhängigkeit beschreiben, das ergäbe keine Sinn. Es ist vielmehr eine Inhärenz, die als solche weder Freiheit noch Entfremdung bedeutet, sondern auf deren Boden Freiheit und Entfremdung überhaupt erst möglich ist. Nur der Wahn eines absoluten Narzißmus kann auf den Gedanken verfallen, dieses Verhältnis abschaffen zu wollen oder darin einen bedauerlichen Mangel der conditio humana zu sehen. Als Analogie oder Metapher für dieses Verhältnis könnte allenfalls unsere Beziehung zur Natur dienen. Diese unsere Zugehörigkeit zu Gesellschaft und Geschichte, die so unendlich evident und so unendlich dunkel ist; diese Wesensgleichheit, partielle Identität, Teilhabe an etwas, was grenzenlos über uns hinausgeht, ist keine Entfremdung – ebenso wie unsere Räumlichkeit und Körperlichkeit nicht schon Entfremdung bedeuten, bloß weil unsere Existenz aufgrund dieser ihrer ‹natürlichen› Seiten den Gesetzen der Physik, Chemie und Biologie ‹unterworfen› ist. Als Entfremdung kann diese Tatsache nur in den Phantasmen einer Ideologie gelten, die den wahnhaften Wunsch nach totaler Inbesitznahme und das Trugbild eines absoluten Subjekts der Wirklichkeit vorzieht und im Grunde noch nicht begriffen hat, was es heißt zu leben (oder auch nur zu sehen); eine Ideologie die im Leben nur unerträglichen Mangel und Beschränkungen erblickt, der sie ein – fiktives – Sein gegenüberstellt. ¶

 

Eine Gesellschaft ohne Institutionen ist undenkbar, wie weit sich die Individuen, der technische Fortschritt und der ökonomische Überfluß auch entfaltet haben mögen ... Ebensowenig denkbar ist eine Gesellschaft, die vollständig in ihren Institutionen aufginge, die also mit dem institutionellen Geflecht genau deckungsgleich wäre, ohne von ihm überragt zu werden oder es zu überragen; eine Gesellschaft ohne Fleisch unter ihrem institutionellen Gewand; eine Gesellschaft, die nur ein Netz unendlich platter Institutionen wäre. Es gibt immer einen Abstand zwischen der instituierenden Gesellschaft und dem, was in einem jeweiligen Moment instituiert ist. Diese Abstand ist keine negative Größe und kein Mangel; vielmehr äußert sich darin die schöpferische Macht der Geschichte, die so daran gehindert wird, jemals zu einer ‹endlich gefunden Form› der gesellschaftlichen Verhältnisse und der menschlichen Tätigkeiten zu gerinnen. Dieser Abstand ist dafür verantwortlich, daß eine Gesellschaft immer mehr enthält, als sie gegenwärtig realisiert. ¶

 

III.

 

Alles, was uns in der gesellschaftlich-geschichtlichen Welt begegnet, ist untrennbar mit dem Symbolischen verwoben. Nicht daß es darin aufginge. Die realen, individuellen oder kollektiven Handlungen – Arbeit, Konsum, Krieg, Liebe, Gebären – und die zahllosen materiellen Produkte, ohne die eine Gesellschaft auch nicht einen Augenblick lang lebensfähig wäre, sind kein Symbole (jedenfalls nicht immer und nicht unmittelbar). Aber beides, die Handlungen und die Produkte, wären außerhalb eines symbolischen Netzes unmöglich. ¶

 

Zuerst begegnen wir dem Symbolischen natürlich in der Sprache. Auf einer anderen Stufe und in anderer Weise stoßen wir jedoch auch in den Institutionen darauf. Die Institutionen lassen sich nicht auf das Symbolische zurückführen, doch können sie nur im Symbolischen existieren; außerhalb eines Symbolischen zweiten Grades wären sie unmöglich, jede von ihnen bildet ein symbolisches Netz ...  Nehmen wir als Beispiel die Religion, eine Institution, die in allen historischen Gesellschaften von außerordentlicher Bedeutung gewesen ist. Abgesehen von Grenzfällen, die wir hier nicht diskutieren, umfaßt sie stets ein Ritual. Betrachtet man die mosaische Religion, so enthält ihr kultisches Ritual (im weitesten Sinne) eine schier endlose Häufung von Einzelheiten. Dieses Ritual, das viel detaillierter und genauer festgelegt ist als das eigentliche Gesetz, folgt unmittelbar aus göttlichem Befehl, weshalb übrigens alle Einzelheiten von gleichem Rang sind ... Wäre ein Ritual eine rationale Angelegenheit, so ließe sich darin Wesentliches von Zweitrangigem unterscheiden, eine Abstufung, die für ein rationales Netz eigentümlich ist. Aber bei einem Ritual liegt kein Kriterium vor, nach irgendwelchen rationalen Überlegungen zu entscheiden, was mehr zählt und was weniger. Das gleichrangige Nebeneinander aller Elemente eines Rituals ist geradezu verräterisch für den nicht-rationalen Charakter seines Inhalts. Daß es im Heiligen keine Abstufungen gibt, sagt im Grunde nichts anderes. Alles, was in den Bereich des Sakralen eingegangen ist, ist gleichermaßen sakral (und das trifft auch für die Rituale der Zwangsneurose oder der Perversion zu). ¶

 

Die Gesellschaft konstituiert ihren Symbolismus, doch nicht in völliger Freiheit. Er benutzt das bereits vorliegende natürliche und geschichtliche Material als Anknüpfungspunkt; schließlich hat er auch teil am Rationalen. Dabei entstehen Verkettungen zwischen Signifikanten, Beziehungen zwischen Signifikanten und Signifikaten, Zusammenhänge und Konsequenzen, die weder angestrebt noch voraussagbar waren. So wird der Symbolismus von einer Gesellschaft weder frei gewählt noch ihr aufgezwungen; er ist weder neutrales Hilfsmittel noch unaufhebbarer Widerstand, weder durchsichtiger Äther noch undurchdringliches Dunkel, weder Herr der Gesellschaft noch dienstfertiger Sklave der Funktionalität, schließlich auch kein Scharnier, das den Zugang zu einer rationalen Ordnung unmittelbar und umfassend gewährleisten könnte. Einerseits legt der Symbolismus bestimmte Seiten des gesellschaftlichen Lebens fest (und zwar nicht nur die, die damit festgelegt werden sollten); zugleich weist er aber zahlreich Lücken und Spielräume auf. ¶

 

Neben einer naiven Verwendung des Symbolischen, bei der sich das Subjekt von diesem beherrschen läßt, ist auch ein aufgeklärter oder reflektierter Gebrauch möglich ... Denn wenn zwar die Wahl einer Sprache nicht im freien Belieben steht und jede Sprache in das, was ‹gesagt werden soll›, eingreift, so rechtfertigt dies noch keineswegs den Glauben, man sei der Sprache bedingungslos ausgeliefert und könne immer nur sagen, was sie uns sagen läßt. Zwar können wir niemals aus der Sprache heraustreten, aber unsere Beweglichkeit in der Sprache kennt keine Grenzen und erlaubt uns, alles, auch die Sprache selbst und unser Verhältnis zu ihr, in Frage zu stellen. ¶

 

Daraus folgt natürlich nicht, daß jeder beliebige Inhalt in jeder beliebigen Sprache ausdrückbar wäre; die musikalischen Gedanken des Tristan konnten nicht in der Sprache des Wohltemperierten Klaviers ausgesprochen werden, und der Beweis selbst eines einfachen mathematischen Theorems ist nicht in der Alltagssprache möglich. ¶

 

Die tiefgreifenden und undurchsichtigen Beziehungen zwischen Symbolischem und Imaginärem lassen sich ahnen, sobald man folgendes in Erwägung zieht: Das Imaginäre muß das Symbolische benutzen, nicht nur um sich ‹auszudrücken› – das versteht sich von selbst –, sondern um überhaupt zu ‹existieren›, um etwas zu werden, das nicht mehr bloß virtuell ist. Der elaborierteste Wahn ist ebenso wie die geheimste und verschwommenste Phantasie aus ‹Bildern› gemacht, doch diese Bilder stehen für etwas anderes, haben also symbolische Funktion. Auch umgekehrt setzt der Symbolismus die Einbildungskraft voraus, denn er beruht auf der Fähigkeit, in einem Ding ein anderes – oder: ein Ding anders als es ist – zu sehen. In dem Maße jedoch, wie das Imaginäre letztlich auf eine ursprüngliche Fähigkeit zurückgeht, sich mit Hilfe der Vorstellung ein Ding oder eine Beziehung zu vergegenwärtigen, die nicht gegenwärtig sind (die in der Wahrnehmung nicht gegeben sind oder es niemals waren), werden wir von einem letzten oder radikalen Imaginären als der gemeinsamen Wurzel des aktualen Imaginären und des Symbolischen sprechen. Es handelt sich dabei um die elementare und nicht weiter zurückführbare Fähigkeit, ein Bild hervorzurufen. ¶

 

Nehmen wir als Beispiel die Zeremonien des ‹Übergangs›, der ‹Konfirmation› oder ‹Initiation›, die den Übertritt von der Altersklasse der Jugend zu der der Erwachsenen markiert. Diese Zeremonien spielen in allen archaischen Gesellschaften bekanntlich eine wichtige Rolle und haben in den modernen nicht zu vernachlässigende Überreste hinterlassen. In ihrem jeweiligen Zusammenhang weisen diese Zeremonien eine bedeutsame ökonomisch-funktionale Rolle auf und sind tausendfach mit der ‹Logik› des gesellschaftlichen Lebens verwoben (einer ‹Logik›, die natürlich weitgehend unbewußt bleibt). Es ist notwendig, daß dieser Übertritt, bei dem einer Reihe von Individuen ihre vollen Rechte verliehen werden, öffentlich und feierlich (mangels eines Standesbeamten wie ein prosaischer Funktionalist sagen würde) begangen und ‹beglaubigt› wird, daß also diese entscheidende Etappe der Reifung in der Psyche des Heranwachsenden durch ein Fest und eine Prüfung markiert wird. Aber um diesen Kern herum – fast möchte man wie bei Perlenaustern von einem Einschluß oder einer Unreinheit sprechen – lagern sich zahllose Regeln, Handlungen, Riten, Symbole ab: lauter magische und überhaupt imaginäre Komponenten, die durch den funktionalen Kern nur noch über immer mehr Vermittlungsglieder und schließlich gar nicht mehr zu rechtfertigen sind ... Der Ethnologe wird – gestützt auf marxistische, freudianische oder sonstige Überlegungen – jeweils eine Deutung der Zeremonie in allen Elementen zu liefern versuchen. Und er tut ganz recht so – wenn er es richtig macht. Bald wird jedoch klar, daß sich die Zeremonie nicht durch die unmittelbare Zurückführung auf ihren funktionalen Kern deuten läßt (so wie man ja auch eine Neurose noch nicht gedeutet hat, wenn man sagt, sie habe mit dem Geschlechtsleben des Individuums zu tun). Die Funktion ist überall nahezu die dieselbe und darum ungeeignet, das unglaubliche Gewimmel von Details und die Verwicklungen dabei zu erklären. ¶

 

Gewiß erfüllt das Imaginäre der Institution eine Funktion, aber auch hier wieder muß man feststellen, daß die Wirkung des Imaginären über seine Funktion hinausschießt; es ist kein letzter ‹Faktor› (nach dem wir auch gar nicht suchen). Aber ohne es bliebe die Bestimmung des Symbolischen ebenso wie die des Funktionalen unvollständig und letztlich unverständlich. Erst das gesellschaftlich Imaginäre erklärt die Besonderheit und Einheit des Symbolischen. ¶

 

Die Institution ist ein symbolisches, gesellschaftlich sanktioniertes Netz, in dem sich ein funktionaler und ein imaginärer Anteil in wechselnden Proportionen miteinander verbinden. Entfremdung ist die Verselbständigung und Vorherrschaft des imaginären Moments der Institution, deren Folge wiederum die Verselbständigung und Vormachtstellung der Institution gegenüber der Gesellschaft ist. ¶

 

Gegeben sei Gott. Welches auch die Punkte sein mögen, auf die sich die Vorstellung von Gott im Bereich des Wahrnehmbaren stützen kann, welche rationale Wirksamkeit ihm als Organisationsprinzip der Welt in bestimmten Kulturen auch immer zukommen mag: Gott ist eine weder zum Realen noch zum Rationalen gehörige Bedeutung, er ist auch kein Symbol für etwas anderes. Was ist Gott – nicht als Begriff des Theologen, nicht als Idee des Philosophen, sondern für uns, die wir zu denken versuchen, was Gott für die ist, die an ihn glauben? Zwar können sie ihn nur unter Verwendung von Symbolen anrufen, zwar müssen  sie zumindest seinen ‹Namen› benutzen, um sich auf ihn zu beziehen. Aber für sie – und auch für uns, die wir dieses geschichtliche Phänomen untersuchen, das Gott und seine Gläubigen bilden – ist er unendlich viel mehr als dieser ‹Name›; er ist etwas anderes. Gott ist weder der Name Gottes noch die Summe der Bilder, die sich ein Volk von ihm machen kann, oder dergleichen. Er ist das, worauf alle Symbole verweisen, die ihn tragen; er ist das, was in einer jeden Religion diese Symbole zu religiösen Symbolen macht – ein zentrale Bedeutung, eine systematische Organisation von Signifikanten und Signifikaten – das, was diesen Verknüpfungen Einheit verleiht, zugleich aber auch die Möglichkeit gewährleistet, dieses System von Verknüpfungen zu erweitern, zu vervielfachen und zu verändern. Und da jene Bedeutung weder auf Wahrnehmbares (Reales) noch auf ein Gedachtes (Rationales) bezogen ist, handelt es sich um eine imaginäre Bedeutung. ¶

 

Aber könnte man dieses gesellschaftliche Imaginäre nicht auf das individuelle Imaginäre ‹zurückführen› – wobei die Signifikanten auch gleich einen denotierbaren Inhalt bekämen? Könnte man nicht beispielsweise sagen, daß sich Gott aus dem individuellen Unbewußten der Einzelnen herleitet und daß er in diesem Unbewußten genau ein wesentliches phantasmatisches Element bedeutete, nämlich den imaginären Vater? Solche Reduktionen, wie Freud sie für die Religion versucht hat und wie man sie auch mit den imaginären Bedeutungen unserer eigenen Kultur versuchen könnte, enthalten wohl einen beträchtlichen Teil der Wahrheit, können die Frage aber nicht erschöpfend beantworten. Unstrittig ist, daß eine imaginäre Bedeutung im Unbewußten der Individuen Anhaltspunkte finden muß; aber diese Bedingung ist nicht zureichend, und man hat sogar Anlaß zu fragen, ob sie überhaupt eine Voraussetzung ist oder nicht eher ein Resultat. Gerade uns Heutigen scheint das Individuum und seine Psyche in bestimmter Hinsicht eine ausgezeichnete ‹Wirklichkeit› zu besitzen, die dem Gesellschaftlichen nicht zukommt. Aber unter anderen Gesichtspunkten ist diese Auffassung trügerisch, ‹das Individuum ist eine Abstraktion›. ¶

 

Der Einzelne kann private Phantasmen, nicht aber Institutionen hervorbringen. Manchmal gelingt der Übergang und läßt sich sogar raum-zeitlich bestimmen: bei den Religionsstiftern und einigen ‹außergewöhnlichen Individuen›, deren privates Phantasma gerade im rechten Augenblick zur Stelle ist, um das Loch im Unbewußten der anderen zu stopfen, und das andererseits genügend funktionale und rationale ‹Kohärenz› besitzt, um sich als gangbarer Weg zu erweisen, wenn es einmal symbolisiert, sanktioniert, das heißt institutionalisiert worden ist. Doch damit ist das Problem nicht ‹psychologistisch› gelöst – nicht nur wegen der äußersten Seltenheit solcher Fälle, sondern weil gerade ihnen die Nicht-Reduzierbarkeit des Gesellschaftlichen leicht abzulesen. Damit nämlich die Strebungen eines individuellen Unbewußten mit denen anderer in Verbindung treten können, damit die Rede es Propheten keine persönliche Halluzination oder Glaubensbekenntnis einer unbedeutenden Sekte bleibt, müssen geeignete gesellschaftliche Bedingungen das individuelle Unbewußte eines jeden irgendwie umgemodelt und es auf jene ‹frohe Botschaft› vorbereitet haben. Und auch der Prophet arbeitet im und durch das Instituierte, auf das er sich stützt, auch wenn er es umwälzt; alle Religionen, deren Entstehung uns bekannt ist, sind Umwandlungen vorangegangener Religionen oder enthalten doch einen ausgesprochen synkretistischen Zug. ¶

 

Will man also nicht einen mythischen Ursprung annehmen, scheint jeder Versuch, die gesellschaftlichen Bedeutungen aus der individuellen Psyche erschöpfend abzuleiten, zum Scheitern verurteilt, weil er die Unmöglichkeit verkennt, diese Psyche von einem gesellschaftlichen Kontinuum abzugrenzen, das nur als immer schon instituiertes bestehen kann. ¶

 

Keine Gesellschaft könnte existieren, ohne die Produktion ihres materiellen Lebens und ihre Reproduktion als Gesellschaft zu organisieren. Wie aber diese Organisation auszusehen hätte, entzieht sich Naturgesetzen und rationalen Überlegungen. Damit zeigt sich eine Unbestimmtheitsmarge, in der freilich all das seinen Platz hat, was für die Geschichte wesentlich ist. Und wesentlich für die Geschichte ist gewiß nicht, daß die Menschen stets essen und Kinder zeugen mußten, sondern in erster Linie die unendliche Verschiedenheit der Formen, in denen sie das taten. Wesentlich ist, daß die Welt, wie sie in ihrer Gesamtheit einer Gesellschaft gegeben ist, praktisch, affektiv und geistig in bestimmter Weise erfaßt wird, daß ihr ein artikulierbarer Sinn auferlegt wird, daß Unterscheidungen vorgenommen werden zwischen dem, was Wert hat, und dem, was keinen hat (in jedem Sinne des Ausdrucks ‹Wert haben›, vom ökonomischsten bis zum spekulativsten). Und wesentlich ist schließlich, daß unterschieden wird zwischen den, was geschehen soll, und dem, was nicht geschehen darf. ¶

 

Ohne ein produktives, schöpferisches oder – wie wir es genannt haben – radikales Imaginäres, wie es sich in der untrennbaren Einheit von geschichtlichem Tun und gleichzeitiger Herausbildung eines Bedeutungsuniversums offenbart, ist Geschichte weder möglich noch begreifbar. Wenn es in der Geschichte jene Dimension gibt, die die idealistischen Philosophen Freiheit genannt haben und die besser Indeterminiertheit heißen sollte (aber auch nicht mit unserer Definition von Autonomie zu verwechseln ist, da sie deren Voraussetzung ist), dann liegt sie im Tun. Denn das Tun setzt etwas anderes, hat es mit etwas anderem zu als bloß Bestehendem. Dem Tun wohnen Bedeutungen inne, die weder nur Abbild des Wahrgenommenen noch einfach Verlängerung und Sublimierung animalischer Strebungen noch streng rationale Bearbeitung des Gegebenen sind. ¶

 

Was sich in modernen Gesellschaften als Rationalität darstellt, ist ganz einfach die Form, die Herstellung äußerer, notwendiger Zusammenhänge, die dauerhafte Herrschaft des Syllogismus. Aber die Prämissen dieser Syllogismen des modernen Lebens beziehen ihren Inhalt aus dem Imaginären, und die Übermacht des Syllogismus als solchen, die Zwangsvorstellung einer verselbständigten ‹Rationalität›, bildet ein Imaginäres zweiten Grades. Die moderne Pseudo-Rationalität ist eine geschichtliche Gestalt des Imaginären. Ihre letzten Ziele unterliegen keiner Vernunft und sind daher willkürlich, so willkürlich wie sie selbst, wenn sie sich selbst als Zweck setzt und nach nichts weiter strebt als einer formalen und inhaltslosen ‹Rationalisierung›. Unter diesem Aspekt ist die moderne Welt Opfer eines systematischen Wahns. Dessen sichtbarste und bedrohlichste Form ist die Verselbständigung einer entfesselten Technik, die nicht mehr ‹im Dienste› irgendeines angebbaren Zweckes steht. ¶

 

Die Hauptrolle in der modernen Gesellschaft spielt: die bürokratische Organisation. Das bürokratische Universum ist durch und durch vom Imaginären bevölkert. ¶

 

Wenn man vom Imaginären spricht, muß man sich davor hüten, der betreffenden Gesellschaft stillschweigend ein absolutes Vernunftvermögen zu unterschieben, das anfangs vorhanden, später aber vom Imaginären zurückgedrängt oder verdeckt worden wäre. Wenn ein Individuum, das in unserer Kultur aufgewachsen, auf eine spezifisch strukturierte Realität bezogen und ständiger sozialer Kontrolle ausgesetzt ist, ‹sich entschließt›, in jeder ihm begegnenden Person einen möglichen Angreifer zu sehen, und einen Verfolgungswahn ausbildet, können wir die von ihm ‹gewählte› Wahrnehmungsweise der anderen nicht nur als ‹objektiv› oder gesellschaftlich imaginär bezeichnen – gemessen an den bestehenden Kriterien –, sondern auch als subjektiv imaginär in dem Sinne, daß er sich durchaus eine richtige Weltsicht ‹hätte ausbilden können›; das Übergewicht der imaginären Funktion in seiner Entwicklung verlangt nach einer besonderen Erklärung, insofern andere Entwicklungen möglich waren und von einer großen Mehrzahl der Menschen tatsächlich auch durchlaufen worden sind. In gewisser Weise machen wir unsere Wahnsinnigen für ihren Wahnsinn verantwortlich, nicht nur weil es ihr Wahnsinn, sondern weil sie ihn nicht hätten produzieren müssen. Aber wer könnte dagegen von den Griechen sagen, sie hätten doch sehr wohl gewußt oder wissen können, daß die Götter nicht existieren und daß ihr Mythenuniversum eine ‹Abweichung› von einer nüchternen Betrachtung der Welt darstellt – eine Abweichung, die als solche erklärungsbedürftig wäre? Diese vermeintliche nüchterne Weltsicht ist ganz einfach die unsere! ¶

 

Der Historiker oder Ethnologe muß den Versuch unternehmen, das natürliche und gesellschaftliche Universum der Babylonier beziehungsweise der Bororo so zu verstehen, wie es von ihnen selbst erlebt wurde, und er muß sich davor hüten, bei seinen Erklärungsversuchen bewußt oder unbewußt Bestimmungen einzuführen, die für diese Kultur nicht existent sind. Doch damit kann er sich nicht begnügen. Der Ethnologe, der die Weltsicht der Bororo so sehr assimiliert hat, daß er die Welt nur noch auf ihre Weise betrachten kann, ist kein Ethnologe mehr, sondern ein Bororo – und die Bororo sind nun einmal keine Ethnologen. Sein Aufgabe besteht nicht darin, sich den Bororo zu assimilieren, sondern heutigen Bewohnern von Paris, London oder New York jene andere Menschheit zu erklären, für die die Bororo stellvertretend stehen. Und dies kann er nur in der Sprache – in einem ganz weiten Sinne –, im Kategoriensystem der Pariser, Londoner oder New Yorker. Nur sind diese Sprachen keine ‹äquivalenten Codes›, weil eben in ihrer Strukturierung die imaginären Bedeutungen eine zentrale Rolle spielen.

 

Aus diesem Grund ist also das abendländische Projekt einer Universalgeschichte schon im Keim zum Scheitern verurteilt, sofern dieses Projekt spekulativ verstanden wird. Die abendländische Geschichtsauffassung beruht auf der Idee, daß das, was für sich Sinn sei – was den Assyrern ihre Gesellschaft bedeutet –, könne ohne Einschränkung auch Sinn für uns werden. Das ist jedoch ganz offenkundig unmöglich und macht damit auch den spekulativen Entwurf einer Gesamtgeschichte unmöglich. Die Geschichte ist immer Geschichte für uns – was uns nicht das Recht gibt, sie zurechtzuschneidern, wie es uns gerade paßt, noch uns naiven Projektionen zu überlassen. Denn was uns in der Geschichte interessiert ist gerade unser authentisches Anderssein, die andere Möglichkeit des Menschen in ihrer absoluten Einzigartigkeit. ¶

 

... daß jede von uns unternommene Aufklärung letztlich interessegeleitet ist. Sie ist für uns in einem starken Sinne, denn wir sind nicht da, um auszusprechen, was ist, sondern um werden zu lassen, was nicht ist. ¶

 

‹C. C., Gesellschaft als imaginäre Institution – Entwuf einer politischen Philosophie. Aus dem Französischen von Horst Brühmann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984›