Cornelius Castoriadis Gesellschaft als imaginäre Institution (2)

 

IV.

 

Was ist Gesellschaft; vor allem: was macht die Einheit und Identität (ecceitas) einer Gesellschaft aus; was hält eine Gesellschaft zusammen?

Was ist Geschichte; vor allem: warum und wie verändert sich die Gesellschaft in der Zeit; was verändert sich dabei; kann in dieser Geschichte Neues auftauchen, und welche Bedeutung kommt dem zu?

Sinn und Einheit dieser Fragen lassen sich leichter klären, wenn man sich fragt, inwiefern und warum es viele Gesellschaften und nicht nur eine gibt; inwiefern und warum gibt es Unterschiede zwischen Gesellschaften? Und wenn auch der Unterschied zwischen verschiedenen Gesellschaften (und ihrer jeweiligen Geschichte) bloßer Schein wäre, so bliebe doch immer noch die Frage: Warum dann dieser Schein? Warum erscheint das Identische als verschieden?

 

Die Naivität des Strukturalismus in dieser Hinsicht ist verblüffend. Er weiß nichts zu sagen über die Mengen von Elementen, mit denen er hantiert, nichts über die Gründe des Soseins und ihrer Veränderungen in der Zeit. Männlich und weiblich, Nord und Süd, oben und unten, trocken und feucht erscheinen ihm selbstverständlich, als von den Menschen vorgefundene Sinn-Steine, die seit Ewigkeit – vollkommen natürlich und vollkommen stichhaltig – auf der Erde herumliegen und von denen sich jede Gesellschaft nach dem Zufallsprinzip einige herausgreift (s. C. Lévi-Strauss, «Rasse und Geschichte», in: ders., Strukturale Anthropologie II), wobei zu beachten ist, daß sie sie nur paarweise herausgreifen kann und daß die Wahl bestimmter Gegensatzpaare die Wahl von anderen einschließt oder ausschließt. Als ob die gesellschaftliche Organisation auf eine endliche Folge von Ja/Nein-Entscheidungen zurückführbar wäre; als ob die Terme solcher Entscheidungen dort, wo sie getroffen werden, immer schon von anderswoher gegeben wären – wo sie doch als Terme und als diese Terme Schöpfungen der betreffenden Gesellschaft sind! ¶

 

Denn die Frage nach der Geschichte fragt nach dem Erscheinen radikaler Andersheit, eines absolut Neuen.

 

So kann man über die außerordentliche Beständigkeit der Lebensbedingungen, Regeln und Vorstellungen, die die Existenz der europäischen Bauern jahrhundertelang, in gewissem Sinne sogar während eines Zeitraums vom Neolithikum bis in zwanzigste Jahrhundert (und nicht nur in Europa) geprägt haben, nur erstaunen, wenn man dieser Beständigkeit das ‹historische› Spektakel gegenüberstellt, an das man gewöhnlich denkt: eine Geschichte, die ständig vom Schlachtenlärm und der Raserei der Kriege, von Entdeckungen, vom Wandel der Vorstellungen und Ideen sowie der Regierungen und Regimes erschüttert wird. Und trotzdem verließen bedeutende Fraktionen dieser Bauernschaft innerhalb weniger Jahrzehnte die Welt des Papsttums und der Hexerei, um sich der Reformation anzuschließen. Die Frage, die sich mit diesem Übergang (wie mit jedem Übergang) stellt, wird gewiß nicht dadurch erübrigt oder einer Lösung auch nur einen Millimeter nähergebracht, daß man den Abstand zwischen dem Vorher und den Nachher in unendlich viele Teile zerlegt (was nicht nur undurchführbar ist, sondern auch das Problem nur vervielfacht). Um nur einen Gesichtspunkt herauszugreifen: Die Reformation setzt eine Umwälzung der psychischen Organisation der betroffenen Individuen voraus. Sie müssen ein Weltbild aufgeben, das in der sichtbaren Organisation der Kirche und ihrer Funktionäre aus ‹Fleisch und Blut› eine sinnfällige Darstellung des Absoluten, des Gesetzes und des Herrn zu geben versucht. An die Stelle dieses Weltbildes trat eine Situation, in der zwischen dem Einzelnen und der Transzendenz kein anderer Vermittler mehr existieren sollte als die Schrift, die ein jeder auf eigenes Risiko zu interpretieren hat. ¶

 

Auch eine Gesellschaft, die nur auf ihre Konservierung bedacht scheint, besteht nur, indem sie sich unaufhörlich verändert. ¶

 

Der Historiker bemißt die Ewigkeit an seiner eigenen Lebenserwartung und betrachtet daher das, was sich während dreier Jahrhunderte nicht verändert, als ‹stabil›. Aber ändere nur die Größenordnung der Zeit, und die Sterne am Himmel werden tanzen, daß dir schwindelig wird. ¶

 

Eine Zeit, die ihrem Wesen nach nicht auf ‹Räumlichkeit› zurückzuführen und kein bloßer Orientierungsrahmen wäre, gibt es dann und nur dann, wenn radikale Andersheit, das heißt absolute Schöpfung auftaucht. Eine solche Zeit gibt es nur, wenn das, was auftaucht, nicht schon (oder allenfalls ‹logisch› oder als ‹Virtualität›) im Seienden bereits vorhanden war. Eine solche Zeit gibt es nur, wenn das Neue nicht bloß Aktualisierung eine vorherbestimmten Potentiellen ist – die Unterscheidung zwischen Potenz und Akt ist nur die subtilste und gründlichste Art, die Zeit aufzuheben. Eine solche Zeit gibt es nur, wenn Zeit nicht bloß und nicht ausschließlich Unbestimmtheit ist, sondern Auftauchen von Bestimmungen oder, besser gesagt, von neuen Formen/Gestalten/Bildern/eide. Zeit ist die Selbstveränderung des Seienden, das nur insofern ist, als es Sein-auf-etwas-hin ist. Folglich erweist sich jede Trennung zwischen der Zeit und dem, was ist, als bloß gedankliche, analytische, nachgeordnete, eben identitätslogische Trennung. Und als diese Zeit, als Zeit des Anderswerdens und Andersseins, haben wir die Geschichte zu denken. ¶

 

Man kann die Zeit nicht denken, wenn man sich nicht von einer bestimmten, herkömmlichen Weise löst, das Sein zu denken, nämlich das Sein als Bestimmt-sein zu verstehen. Es ist vollkommen unwahr, die Zeit sei deswegen notwendig, um ‹zu verhindern, daß alles gleichzeitig geschieht›. Denn wenn alles – sei’s auch nur der Idee nach – schon gegeben ist und in gewissem Sinne irgendwo schon ‹feststeht›, dann ist sehr wohl möglich, daß alles ‹auf einmal› geschieht. ¶

 

Zuerst und zutiefst ist die Zeit Andersheit/Anderswerden von Figuren, nichts sonst. ¶

 

Das Rad, das sich um die Achse dreht, ist eine absolute ontologische Schöpfung; es hat ontologisch mehr Gewicht als eine Galaxie, die vielleicht morgen zwischen Milchstraße und Andromeda aus dem Nichts auftaucht. Denn es gibt schon Milliarden Galaxien – während der Erfinder des Rades oder eines Schriftzeichens nichts nachahmt und nichts wiederholt. ¶

 

Von Andersheit läßt sich nur dann sinnvoll reden, wenn kein identitätslogisches Gesetz und keine Gruppe solcher Gesetze ausreicht, um B aus A zu generieren. Einzig in diesem Falle spreche ich von anderen Figuren, sonst nenne ich sie verschieden. Und darum sage ich, daß der Kreis von der Ellipse verschieden ist, während die Göttliche Komödie anders als die Odysee und die kapitalistische Gesellschaft anders als die feudale Gesellschaft ist. ¶

 

Das klarste Beispiel dafür liefert die Sprache selbst, sobald man ihre wesentliche Seite betrachtet, nämlich ihren Bezug zur Bedeutung. Denn es ist eine wesentliche Eigenschaft der Sprache als System, sich nicht in ihrem synchronischen Zustand zu erschöpfen, daß heißt niemals auf eine geschlossene Totalität festgefügter, bestimmter und verfügbarer Bedeutungen reduziert werden zu können, sondern stets über einen inneren, über die Grenzen des Systems hinausdrängenden Überschuß zu verfügen und synchronisch immer offen zu sein für einen Wandel der Bedeutungen. ¶

 

 V.

 

Die Institution der Gesellschaft ist Institution einer Welt von Bedeutungen, die als solche offensichtlich eine Schöpfung, eine jeweils besondere Schöpfung ist. ¶

 

Der abendländische Wissenschaftler ist von zwei Phantasmen besessen, nämlich erstens, daß es eine rationale Organisation der Welt gibt (was er nicht wissen kann), und zweitens, daß seine Wissenschaft dabei ist, diese rationale Organisation vollständig oder doch nahezu vollständig zu enthüllen (obwohl sie weit mehr Rätsel stellt als löst). Diese beiden Phantasmen transportiert er zehntausend Jahre zurück beziehungsweise zehntausend Kilometer weiter und deutet die Vorstellungen der Wilden als Versuch, die Löcher zu stopfen, die sie in der Organisation ihrer Welt hätten finden müssen, wenn sie von seinen Phantasmen beherrscht gewesen wären. Nun ist es zwar tautologisch, aber doch vielleicht nicht unnütz darauf hinzuweisen, daß die Lücken in der Organisation der natürlichen Schicht erst dann als Lücken einer rationalen Organisation erscheinen, wenn bereits entschieden ist, daß der einzig relevante Blickwinkel der einer rationalen Erklärung ist und daß die einzige Organisation, die diesen Namen verdient, die mengentheoretisch-identitätslogische ist.¶

 

In ihrem vollen Sinne sind Bedeutungen kein Element und bilden keine Menge; die Welt der Bedeutungen ist ein Magma. Und trotzdem könnten sie nicht Bedeutungen sein und nicht in Diskurse eingehen – auch nicht in einen Diskurs, der zu sagen versucht, was wir hier zu sagen versuchen –, wenn sie sich nicht nach einer Seite hin und auf einer ihrer Ebenen so auffassen ließen, als seien sie ein bestimmtes und wohlunterschiedenes Objekt. ¶

 

Was ist eine Bedeutung? Wir können sie nur beschreiben als unbestimmtes Bündel unbegrenzter Verweisungen auf etwas anderes (als das, was unmittelbar gesagt zu sein schien) ... Die Lexik der Bedeutungen ist nach allen Seiten offen ... Das Magma kommt zu keinem Stillstand, hebt und senkt sich unablässig, verflüssigt das Feste und verfestigt, was beinahe nichts war ... Und trotzdem wäre nicht nur diese Beschreibung, sondern auch die Sprache selbst unmöglich, wenn dabei nicht auch die identitäts- oder mengenlogische Dimension im Spiel wäre. Denn diese Bedeutung soll dieses Bündel und kein anderes sein. ¶

 

Es gibt kein denkendes Subjekt ohne Sprache und kein Denken ohne Sprache. ¶

 

Das gesellschaftliche Individuum ist immer auch ein fabriziertes Werkzeug, dessen Fabrikation voraussetzt, daß bereits andere Werkzeuge desselben Typs existierten und bereits am Werk sind. So müßte man bereits über Technisches, über teukein verfügen, um es zu erfinden – wie man ja auch über Sprache verfügen müßte, um sie einzuführen. Es ist also nicht erstaunlich, wenn die Mythen der einen wie der anderen Institution oftmals übermenschliche Ursprünge zusprechen. Aischylos sagt nichts anderes, wenn er meint, alle technai seien durch Prometheus auf die Sterblichen gekommen, nachdem sie zuvor ausschließlich im Besitz der Götter gewesen seien. Man kann zwar sagen, dieser Mensch habe jene techne erfunden; daß aber ein Mensch oder die Menschen die techne erfunden hätten, erscheint abwegig und ist es in der Tat, weil man zur Erklärung ‹hinter› diese Erfindung zurückgehen und sie zugleich voraussetzen müßte. ¶

 

Die aufeinander folgenden Umwälzungen, die sich im ‹rationalen Wissen› aller bekannten Gesellschaften finden lassen, setzen stets einen grundlegenden Wandel des gesamten imaginären Weltbildes (und der Vorstellung vom Wesen und Ziel des Wissens selbst) voraus. Die letzte dieser Umwälzungen, die vor einigen Jahrhunderten im Abendland stattfand, hat jene eigentümliche imaginäre Vorstellung geschaffen, derzufolge alles Seiende ‹rational› (und insbesondere mathematisierbar) ist, nach der der Raum des möglichen Wissens von Rechts wegen vollständig ausgeschöpft werden kann und wonach das Ziel des Wissens in der Beherrschung und Aneignung der Natur liegt. ¶

 

VI.

 

Seit einiger Zeit will man die Freudschen Begriffe Verschiebung und Verdichtung durch Metapher und Metonymie ersetzen. Diese Terminologie, die die Vorgänge des Unbewußten den sekundären Funktionsweisen der Wachsprache angleicht, verflacht Freuds geniale Entdeckung und erschwert eher noch den Zugang zu den Schätzen, die das sechste Kapitel der Traumdeutung birgt. Allenfalls hätte man das Umgekehrte sagen können: daß nämlich Metapher, Metonymie und die übrigen Tropen der Wachsprache den Operationen des Unbewußten etwas erborgen, ohne freilich deren Vielgestaltigkeit und Reichtum wiedergeben zu können. Statt dessen wollte man das Unbewußte um jeden Preis der Struktur unterwerfen, wie sie angeblich von der Linguistik schon etabliert worden ist. Ebenso wie man über infantile Sexualität fast unweigerlich aus dem Blickwinkel des Erwachsenen spricht und dem Kind ohne weiteres ein Erleben unterstellt, das nicht das seine ist, und sein geschlechtliches Sein völlig verzerrt beschreibt, so übersetzt man auch die Seins- und Organisationsweise des Unbewußten in eine logizistische Sprache, indem man darin diskrete Signifikanten erfindet, die geregelten Substitutionen  unterliegen sollen gemäß Gesetzen, die man algebraische zu nennen gewagt hat. ¶

 

In der Tat ist die Vorstellung, sei sie unbewußt oder bewußt, nicht weiter analysierbar, was freilich nicht heißen soll, daß sie einfach wäre. Jeder Versuch, sie in Elemente zu zerlegen, kann hier nur vorläufige, künstliche Gebilde hervorbringen; jede Anwendung von Trennungs- oder Vereinigungsoperationen muß fehlgehen, weil sei den Versuch bedeutet, ein unbestimmt-vieldimensionales Sein in ein Korsett zu zwängen, in das es nicht paßt. Die Vorstellung hat keine Grenzen, und niemals kann man sicher sein, ob eine Trennung angemessen vorgenommen wurde; genauer gesagt, man kann stets sicher sein, daß eine Trennung in irgendeiner wesentlichen Hinsicht unangemessen ist. ¶

 

Die Psyche ist ein Formant, der nur in dem von ihm Geformten, durch es und als dieses besteht. Sie ist Bildung und Einbildung, radikale Imagination, die aus einem Nichts an Vorstellung, das heißt aus nichts eine ‹ursprüngliche› Vorstellung auftauchen läßt. ¶

 

In seinem ‹Urzustand›, seiner ersten ‹Organisation› – die allem, was man normalerweise unter ‹Zustand› und ‹Organisation› versteht, diametral entgegengesetzt sind – kann sich das Subjekt, wenn es denn eines gibt, nur auf sich selbst beziehen; eine Unterscheidung zwischen Selbst und anderem besteht nicht und kann auch nicht getroffen werden. Insoweit man in diesem Zusammenhang von einer ‹Welt› des ‹Subjekts› sprechen kann, ist diese mit dem Selbst identisch; Proto-Subjekt und Proto-Welt decken sich vollkommen. Nichts erlaubt hier, eine Trennung zwischen Vorstellungen und ‹Wahrnehmung› (oder ‹Empfindung›) vorzunehmen. Die Mutterbrust oder der Stellvertreter ist Teil, aber nicht unterschiedener Bestandteil dessen, was später zum ‹eigenen Körper› wird, aber natürlich noch kein ‹Körper› ist. Die Libido, die zwischen dem infans und der Brust zirkuliert, ist Libido der Selbst-Besetzung. Es wäre besser, hier nicht von ‹Narzißmus›, auch nicht von ‹primärem Narzißmus› zu sprechen, weil dieser Ausdruck auf eine Libido verweist, die an ein Selbst unter Ausschluß alles anderen gebunden ist, während es sich hier um einen totalitären Einschluß handelt. Man sollte lieber den Bleulerschen Terminus Autismus verwenden, den Freud gerade in diesem Zusammenhang und im Hinblick auf dieses Problem ausdrücklich billigt. ¶

 

Worauf sich das Begehren richtet, ist kein ‹Objekt›, sondern jener ‹Zustand›, jene ‹Szene›. ¶

 

In der psychischen Realität sind nicht alle Wünsche unerfüllbar, sondern immer erfüllt. Wie könnte man vom ödipalen Begehren behaupten, es sei unerfüllbar, wenn es von allen ödipalen Träumen doch ständig erfüllt wird? Das einzige unerfüllbare (und eben darum unzerstörbare) Begehren ist für die Psyche nicht etwa dasjenige, das im Realen niemals vorkommen könnte, sondern das, was als solches in der Vorstellung, in der psychischen Realität niemals zu erscheinen vermag. Was fehlt und immer mangeln wird, ist das Unvorstellbare jenes ‹Urzustands› vor aller Trennung und Differenzierung. ¶

 

Auf den Verlust der Einheit seiner Welt und seiner selbst, den das Subjekt mit dem Einbruch eines getrennten Objekts und des anderen erlebt, antwortet es, indem es diese ursprüngliche Welt im Phantasma unablässig wiederherstellt – wenn schon nicht mehr in ihrer auf immer unerreichbar gewordenen Einheit, so doch mit den Merkmalen der Geschlossenheit, Beherrschung, Gleichzeitigkeit und vollkommenen Überlagerung von Intention, Vorstellung und Affekt. ¶

 

Die Forderung, daß alles mit allem gedanklich verknüpft sein oder überhaupt – auf die gesellschaftliche Ebene übertragen – bedeutungshaltig sein muß; das Postulat einer Entsprechung zwischen Welt und Begehren, Begehren und Wissen, zwischen den Folgerungen aus dem Wissen und Zielen des Begehrens findet hier eine ihrer unerschöpflichen Quellen. In diesem Einschließungs-/Ausdehnungswahn, der die Vielheit als Einheit behandelt und letztlich die ‹Einfachheit› alles Gegebenen behauptet, läßt sich unschwer einer der Ursprünge der Vernunft erkennen. Dort, wo es augenscheinlich noch keinen Sinn geben kann, verwirklicht der Proto-Sinn einen totalen Sinn, die allumfassende und unfehlbare In-Bezug-Setzung, die selbst noch das ihr Widersprechende zu vereinnahmen trachtet (und beispielsweise den Tod in ewiges Leben verwandeln möchte). Wenn sich der Wahnsinn dieser Stufe in die erwachsene Vernunft wandelt, so geschieht das zweifellos auf dem Wege der Prägung des Individuums durch seine gesellschaftliche Institution, aber auch dadurch, daß es trotz aller Nötigung zum Verzicht auf seine unmittelbare Befriedigung am Ziel der totalen In-Beziehung-Setzung und der allumfassenden Verknüpfung festhält. Der Mensch ist kein vernünftiges Tier, wie der alte Gemeinplatz behauptet; er ist aber auch kein krankes Tier. Er ist ein verrücktes Tier, eines, das am Anfang verrückt ist und eben darum auch vernünftig ist oder werden kann. Schon im vollständigen Wahn des primären Autismus ist die Vernunft keimhaft enthalten. ¶

 

Das große Rätsel ist und bleibt, hier wie überall, das Auftauchen der Trennung; jener Trennung, die zur festen und für das Individuum wohlunterschiedenen Einsetzung einer privaten und einer öffentlichen oder gemeinschaftlichen Welt führen wird. Alles was wir darüber wissen und sagen können, ist: daß diese Trennung als solche von der Gesellschaft geschöpft und instituiert wird ... Die Sozialisation der Psyche besteht wesentlich darin, ihr die Trennung aufzuerlegen. Für die psychische Monade kommt das einem gewaltsamen Bruch gleich, der von ihrer ‹Beziehung› zu den anderen erzwungen wird, genauer gesagt: vom Eindringen des anderen als anderen. Damit bildet sich für das Subjekt eine ‹Realität›, die unabhängig, aber auch formbar und zugänglich ist; ‹Psychisches› und ‹Somatisches› klaffen von nun an auseinander, ohne freilich jemals ganz zu zerreißen. Nicht minder als die unwiderstehliche Neigung der psychischen Monade, sich in sich selbst abzuschließen, ist dieser Bruch für das künftige Individuum konstitutiv. Wenn das Neugeborene zu einem gesellschaftlichen Individuum wird, dann deshalb, weil es diesen Bruch erleidet – und erfolgreich durchsteht, was erstaunlicherweise fast immer der Fall ist. Betrachtet man diesen Prozeß aus der Nähe, so ist das Merkwürdige daran nicht so sehr, daß er scheitern kann, sondern eher, daß er so selten scheitert. ¶

 

Die imaginäre Allmacht über die Brust, die das infans zunächst sich selbst zuschreibt, hätte es sich gern auch weiterhin zugeschrieben; schließlich ist es gezwungen, sie anderswo, bei einem anderen anzusiedeln. Das bedeutet zunächst und zuerst, daß es einen anderen nur so konstituieren kann, daß es sein eigenes Schema der Allmacht auf ihn projiziert. Damit ist das triadische Schema mit den Polen ‹Subjekt›, ‹Objekt› und ‹anderer› als grundlegendes pattern des Phantasmas eingeführt.¶

 

Gleichwohl ist diese erste Sozialisation noch sehr beschränkt, weil die Allmacht zunächst nur einfach auf den anderen verschoben wird und die Psyche diesen imaginären anderen sogar weiterhin im Griff behält: Sie läßt ihn im Phantasma all das tun, was sie selbst gern möchte. (Die religiösen Weiterungen dieser Situation sind zu deutlich, als daß wir sie eigens hervorheben müßten.) ¶

 

Man hat das Recht, seiner Phantasie freien Lauf zu lassen, wenn es darum geht, sich Veränderungen der gesellschaftlichen Institutionen vorzustellen; nichts berechtigt jedoch zu der fiktiven und in sich widersprüchlichen Annahme, die Psyche könnte jemals ganz ohne Eintrittsgebühr in die Gesellschaft aufgenommen werden. Das Individuum ist keine Frucht der Natur, auch keine tropische; es ist gesellschaftliche Schöpfung und Institution. ¶

 

Daß die Sublimierung den Trieben von der Kultur aufgezwungen wurde, besagt nicht weniger als dies, daß das Gesellschaftlich-Geschichtliche und das Psychische wechselseitig irreduzibel sind. ¶

 

Die Verwandlung des Sexualobjekts Mutter in die zärtliche Mutter ist nicht nur eine Veränderung des Triebziels, sondern auch eine Modifikation des Objekts: Die zärtliche Mutter ist nicht das Sexualobjekt Mutter und kann es auch nicht sein, weil sie eine zärtliche Mutter (für das Subjekt) nur als gesellschaftlich instituierte Mutter sein kann und damit in eine Unzahl von Beziehungen und Bedeutungen eingelassen ist, die weit über sie hinausweisen und nur als gesellschaftlich instituierte Bedeutungen existieren können. Für den Arzt oder Zoologen ist sie zweifellos dieselbe Mutter; unter dem hier relevanten Gesichtspunkt ist sie freilich nicht dieselbe. Und in genau dem Maße, wie die aufeinander folgenden anderen Mütter – die allmächtige Mutter der triadischen Phase, die ödipale und die zärtliche Mutter – in der Psyche nebeneinander existieren und aufeinander verweisen, kann man auch diesem Beispiel entnehmen, was für das Subjekt die Vorstellung der Mutter ist: ein Magma. ¶

 

Die Gesamtheit der Vorstellungen, die ein Individuum in jedem Augenblick und sein ganzes Leben lang hat – oder besser: der Strom von Vorstellungen, Affekten, Strebungen, der ein Individuum recht eigentlich ist –, ist zunächst vor allem ein Magma. ¶

 

Betrachten wir die Vorstellung als solche, den Vorstellungsstrom, wie er uns ständig gegeben ist und der wir gewissermaßen sind; stellen wir uns die Aufgabe, ihn von der ‹Dingwahrnehmung› zu befreien und alles wegzuräumen, was über Widerspiegelung, Imitation, Rezeptivität der Eindrücke und Spontaneität der Begriffe, über das Entbergen des Seienden in der Lichtung des Seins und dergleichen gesagt worden ist. Schließen wir die Augen, verstopfen wir uns die Ohren, überlassen wir uns den Erinnerungen, einer Träumerei, denken wir an nichts. An nichts? Das ist nun schlechterdings nicht möglich. Es gibt – und es kann einem völlig egal sein, ob das, was es da gibt, ‹ist› oder ‹nicht ist›, ob es ‹real› ist oder nicht – ein ununterbrochenes Auftauchen eines Stroms von Vorstellungen, Bildern und Figuren aller Art (von visuellen, akustischen, verbalen und sonstigen Vorstellungen), die sich setzen, vordrängen, verzögern, verflüchtigen, ineinanderschieben, auseinander hervorgehen, ohne daraus hervorzugehen; die sich verschmelzen oder zersetzen, zusammenhalten und doch ständig verschwinden. Abgesehen vom traumlosen Schlaf gibt es immer Bilder im allgemeinsten und weitesten Sinne, gibt es immer Vorstellungen. ¶

 

Die Seinsart der Vorstellung ist vollkommen klar, insofern sie für die überkommene (Identitäts- oder Mengen-)Logik ganz und gar rätselhaft und mit ihren Mitteln nicht zu erfassen ist. ¶

 

Jede Vorstellung verweist auf andere Vorstellungen (die in der Psychologie ‹Assoziation› genannte Beziehung ist nur ein Sonderfall davon). Jede Vorstellung verweist auf andere, erzeugt sie oder läßt sie auftauchen. Wie? Von wo aus, auf welcher Grundlage, mit welchem Zweck? Darüber läßt sich so allgemein nichts sagen. Vor allen Dingen ist es unmöglich, die Klasse der b zu bestimmen, auf die a verweist, oder die Gesamtheit der Terme festzulegen, die mit einem anderen eine Verweisungsrelation unterhalten. ¶

 

Wir müssen lernen und immer wieder neu lernen, auf zwei Bahnen zu leben/zu denken, die immer wieder aufeinander zulaufen und sich unablässig überschneiden, aber dennoch weder identisch noch aufeinander zurückführbar noch auseinander ableitbar sind: die der Identitätslogik und die des Denkens.

Wenn von der Vorstellung die Rede ist, können uns die Mittel der Identitätslogik allenfalls dazu dienen, uns das Reden über die Vorstellung zu ermöglichen. Nur zur sprachlichen Kennzeichnung taugen die Terme und Instrumente dieser Logik hier. Sie erlauben es, vorübergehend und ‹von außen› festzuhalten, wovon die Rede ist, ‹worauf man sich bezieht› und von wo aus man sich darauf bezieht. Aber dabei entsteht der Eindruck, als sei ‹das, worauf man sich bezieht›, in das Netz der vertrauten identitätslogisch-mengentheoretischen Relationen eingebunden. Doch dieser Eindruck trügt. Anders als in den Bereichen, in denen die Identitätslogik in unterschiedlichem Maße pertinent ist, erfaßt sie das Objekt hier nicht wirklich, sondern erlaubt allenfalls, es zu kennzeichnen und auszusprechen. ¶

 

Vorstellung ist radikale Imagination. Der Vorstellungsstrom ist Selbstveränderung, vollzieht sich als unaufhörliches Auftauchen von Anderem in der und durch die Setzung/Vor-Stellung von Bildern und Figuren. Diese Verbildlichung entwickelt, schafft und aktualisiert erst, was der reflexiven Analyse nachträglich als Bedingung ihrer eigenen Möglichkeit erscheint: Verzeitlichung, Verräumlichung, Differenzierung, Anderswerden. (Das Unbewußte kennt weder logische noch ‹reale› Zeit, ignoriert aber nicht Zeit schlechthin: Ein Traum läuft in einer Traumzeit ab oder läßt eine Traumzeit ablaufen.) Es gibt kein Denken ohne Vorstellung; denken heißt notwendig immer auch: Vorstellungen (Figuren, Schemata, Wortbilder) in Bewegung setzen, in bestimmte Richtungen und nach bestimmten Regeln (über die es nicht notwendigerweise verfügen kann). Und das ist weder zufällig noch eine äußere Bedingung und auch keine Anlehnung, sondern das Element des Denkens selbst. Wer das leugnen wollte, müßte die in sich unstimmige Fiktion eines Denkens ohne Sprache, einer transzendentalen Sprache oder Sprache als einer dem Denken äußerlichen Bedingung behaupten. ¶

 

So erklärt sich das scheinbare Paradox, daß die Vorstellung (als Wort und als Sachverhalt) in gerade dem Augenblick empört zurückgewiesen und heftig denunziert wurde, da die psychoanalytische Theorie daranging, sie wieder in den Mittelpunkt des Lebens des Subjekts zu stellen und ihre alogischen Merkmale ins helle Licht zu rücken ... Denn viel mehr noch als die moralische Gesellschaftsordnung hat die Psychoanalyse – ohne es selbst zu ahnen – die logische und ontologische Ordnung der Gesellschaft zutiefst fragwürdig werden lassen. So mußte man die Vorstellung verwerfen oder herabsetzen, um das Sein zu retten, denn ‹sein› heißt: ‹bestimmt sein›, ‹eines sein›, ‹dasselbe sein›, ‹für alle dasselbe sein›, ‹gemeinsam sein› – während die Vorstellung diese Normen nicht kennt oder verletzt. ¶

 

Denken können wir nur, wenn wir simultan die folgenden, unbezweifelhaften wie unbeweisbaren Sätze behaupten: Es gibt Welt. Es gibt Psyche. Es gibt Gesellschaft. Es gibt Bedeutung. Und eben diesen Weg geht die Philosophie und die wahre und einzige Wissenschaft, die denkende Wissenschaft. ¶

 

VII.

 

Bedeutung heißt die Zugehörigkeit eines Terms zu dem, worauf er schrittweise, unmittelbar oder mittelbar verweist. Sie ist ein Bündel von Verweisen, die von einem Term ausstrahlen ... Das Bündel dieser Verweise ist offen. – Doch das Wort verweist auch auf seinen oder auf seine Referenten. Dieser Referent ist jedoch niemals etwas absolut für sich Bestehendes; er ist weder einfach noch autark ... Es gibt keine ‹Eigennamen› ... Der ‹Name eines Individuums› – Person, Ding, Ort oder was auch immer – verweist auf den grenzenlosen Ozean dessen, was dieses Individuum ist. Er erfüllt seine Aufgabe als Name nur, wenn er sich potentiell auf sämtliche Erscheinungsformen dieses Individuums während seiner gesamten Existenz bezieht, die wirklichen wie die möglichen(‹Peter täte das niemals›), und zwar unter jedem nur denkbaren Aspekt. ¶

 

... daß ein ‹logisches› Herangehen an die Sprache in die Sackgasse führt ... ¶

 

Eine Bedeutung ist unbegrenzt bestimmbar (und dieses ‹unbegrenzt› ist offensichtlich entscheidend), ohne daß sie damit bestimmt wäre. ¶

 

Es gibt keinen ‹eigentlichen› Sinn; es gibt keinen faßbaren und abgrenzbaren Bereich, der einem Sinn eigen wäre; es gibt nur eine identitätslogische Verwendung des Sinns. Es gibt keine Denotation, die der Konnotation gegenüberstünde; die Idee der Denotation schließt notwendig eine Ontologie der Substanz/Wesenheit ein, die Konzeption einer ousia, eines vorsprachlich bestimmten und wohlunterschiedenen, fertigen und in sich geschlossenen Seienden an sich, an das sich das Wort richtet. Um es klar zu sagen, die Idee der Denotation unterstellt eine Ontologie des (realen oder idealen) Dings, von dem die damit einhergehenden Begleiterscheinungen (symbebekota) wie etwa die zufälligen Umstände der Äußerung zu unterscheiden wären. Es spielt dabei keine Rolle, ob diese Ontologie ‹idealistisch› (wie bei Frege) oder ‹realistisch› eingefärbt ist. Wenn man den Ausdrücken ‹der Sieger von Austerlitz› und ‹der Gefangene von Sankt Helena› dieselbe Denotation (dieselbe Bedeutung), aber verschiedene Konnotationen (unterschiedlichen Sinn) zuspricht, so wird dabei die Tatsache verwischt, daß beide Ausdrücke etwas durchaus Verschiedenes denotieren (um in dieser Terminologie zu bleiben). Die erste Wendung nämlich bezeichnet Napoleon als (diesen) beziehungsweise diese Eigenschaft Napoleons beziehungsweise Napoleon als Subjekt einer Handlung, während die zweite Napoleon als (jenen) beziehungsweise jene andere Eigenschaft, jenes andere Attribut Napoleons beziehungsweise Napoleon als Objekt einer Behandlung bezeichnet. Um daraus ‹Napoleon› als rein denotativen Sinn zu extrahieren, müßte man die Existenz eines völlig für sich seienden Etwas jenseits, unterhalb und oberhalb jeder Attribution, jeder Eigenschaft, jeder wesentlichen oder zufälligen Begleiterscheinung annehmen: also ein Ding, eine ousia, die Napoleon ist. Man müßte annehmen, daß es möglich wäre, absolut und nicht nur im Hinblick auf ... zu sprechen. ¶

 

Jene Sophismen verdanken sich einzig der unerbittlichen Anwendung der Identitätslogik ... Wie kann man sagen, daß der sitzende und der stehende Sokrates derselbe Sokrates sei, wo doch gerade ins Auge springt, daß es nicht derselbe Sokrates ist? ¶

 

In der Sprache sein heißt: anerkennen, daß man in der Bedeutung ist. Es heißt: anerkennen, daß es auf die Frage ‹was ist Sokrates?› und ‹wer ist Sokrates?› keine bestimmte Antwort gibt; daß Sokrates ein herakliteischer, somatisch-psychischer Fluß ist, ein Tanz von Elektronen und Vorstellungen; eingebunden, von wo man es auch betrachten mag, in unzählige andere Tänze und Flüsse. Der Name Sokrates, fälschlich ‹Eigenname› geheißen, umfaßt eine ‹für die Bedürfnisse der Praxis hinreichend› genaue Kennzeichnung und eine Bedeutung, die auf zahllose andere Bedeutungen sowie auf unzählige Aspekte des Seienden verweist. Sprechen heißt: sich gleichzeitig in beiden Dimensionen bewegen. ¶

 

Wenn das Auftauchen des Gesellschaftlich-Geschichtlichen in der vorgesellschaftlichen Natur einen radikalen Bruch, eine Veränderung darstellt, dann ja eben wegen der Setzung der Bedeutung und einer Bedeutungswelt. ¶

 

Auch als instituierte kann die Gesellschaft nicht anders sein denn als ständige Selbstveränderung. Denn sie kann nur als Institution einer Welt von Bedeutungen instituiert sein, die nicht mit sich identisch sind und die nur sind, insofern Anderssein ihre wesentliche Möglichkeit ist. ¶

 

‹C. C., Gesellschaft als imaginäre Institution – Entwurf einer politischen Philosophie. Aus dem Französischen von Horst Brühmann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984›