Die extraordinären Geschichten des René Barjavel

oder Wie der Science-Fiction-Roman im besetzten Frankreich erfunden wurde

Von Heiko Arntz

 

 

1 – Von schwarzen Kaisern und weißen Superariern

 

Im Jahr 1943 erscheint in Frankreich der Science-Fiction-Roman Ravage von René Barjavel, zu einer Zeit, als die Genre-Bezeichnung so noch nicht existierte, jedenfalls nicht in Europa. Barjavel nennt Ravage (dt.: «Verwüstung») daher «Roman extraordinaire», in Anlehnung an Jules Verne, der seine Reise- und Abenteuerromane als «Voyages extraordinaires» bezeichnete. Von Hugo Gernsback wußte der zweiunddreißig Jahre junge Barjavel zur Zeit seines Debüts noch nichts. Man war ohnehin von der Welt abgeschnitten, nicht zuletzt von der literarischen Welt. Am 14. Juni 1940 waren die Deutschen in Paris einmarschiert. Regierung und Verwaltung, aber auch die Inhaber großer und kleiner Unternehmen hatten sich aus der Stadt zurückgezogen und warteten die kommenden Ereignisse ab. Als die ersten Tageszeitungen wenig später wieder erscheinen, stehen diese bereits unter dem Diktat der deutschen «Propaganda-Staffel». In den nächsten vier Jahren wird in Frankreich kein Zeitungsartikel erscheinen, kein Bericht im Radio gesendet werden, der nicht die deutsche Zensur passiert hat. Das «Institut allemand» erstellt eine Liste mit Buchtiteln, die übersetzt und auf Französisch herausgebracht werden sollen. Die Verlage wählen zwischen den Machwerken aus (und bemühen sich nach Kräften, den Produktionsprozeß zu verschleppen), in der Hoffnung daneben einigermaßen unbehelligt ihr eigenes Programm machen zu können. Fast die komplette englischsprachige zeitgenössische Literatur steht auf dem Index der verbotenen Bücher. Bereits erschienene Werke werden konfisziert. Ein Roman wie Margaret Mitchells Gone with the Wind (1936) ist nur unter dem Ladentisch zu haben (für 1500 Franc – ungefähr das Zehnfache des regulären Preises). [1]

 

Ravage passierte die Zensur. Genreliteratur hat es manchmal leichter. Barjavel beschreibt in dem Roman eine Realität, die auf den ersten Blick mit der im besetzten Frankreich nicht viel zu tun hat. Mit der unseren dafür um so mehr. Die Menschen im Paris des Jahres 2052 leben bei Barjavel in einer vernetzten Informationsgesellschaft (wenn auch nicht vernetzt mittels Glasfaserkabel, sondern Rohrpoströhren). Enorme Reisegeschwindigkeiten haben die Welt zum globalen Dorf zusammenschrumpfen lassen, und wenn man doch einmal längere Fahrtzeiten in Kauf nehmen muß, hört man per Kopfhörer Audiobooks (die bei Barjavel allerdings per Funk live und persönlich vorgelesen werden). Vor allem aber ist der Alltag geprägt von visuellen Medien. Man kommuniziert an portablen Flachbildschirmen (die aus Schildpatt sind), und dies bitte schön in 3-D!

 

In einem Essay mit dem Titel Cinéma total, den Barjavel etwa zur gleichen Zeit schrieb, hatte sich der Autor mit der Geschichte und vor allem mit der Zukunft des Kinos auseinandergesetzt. Er merkt darin nicht nur klug an, daß der aktuelle Tonfilm noch immer der alten Stummfilm-Ästhetik verpflichtet sei (mit seiner Gestikulation, als hätte das Publikum was mit den Ohren), daß er kaum mehr sei als «Stummfilm plus Dialoge» und weit davon entfernt, die stilistischen Möglichkeiten der Tonspur als eigenem Formelement auszuloten. Sondern er entwirft auch eine Vision von zukünftigen 3-D-Filmen und, wenn man so will, Streaming-Diensten, die er in Ravage exemplarisch und wirkungsvoll zum Einsatz bringt.

 

Wie in fast allen seinen (insgesamt acht) SF-Romanen thematisiert Barjavel in seinem Debütwerk darüber hinaus die Probleme, die eine tendenziell überbevölkerte Erde zwangsläufig mit sich bringt und die uns heute mehr denn je beschäftigen: das Problem der Energiegewinnung vor allem und das unserer Nahrungsmittelproduktion. In Barjavels zukünftiger Welt sind die Menschen (zum Entsetzen der Atomindustrie) komplett auf Wasserstoff umgestiegen, um ihre Elektromotoren anzutreiben (was für das nächste Problem sorgt, da jetzt zu viel Stickoxyd produziert wird). Tiermassenhaltung und Schlachthöfe gehören einer als barbarisch empfundenen Vorzeit an. Gemüse wird in gigantischen Anlagen gezogen. Das Fleisch kommt aus der Retorte, denn auch im Jahr 2052 will der Pariser nicht auf sein «Bifteck-Frites» verzichten. Und aus den Wasserhähnen in den Wohnungen fließt neben heißem und kaltem und eiskaltem Wasser Gratis-Soja-Milch.

 

Doch keine schöne neue Welt bei Barjavel ohne drohenden Schrecken. Die politische Weltlage ist angespannt. Der «empereur noir» mit Namen Robinson, der Schwarze Kaiser, der Südamerika regiert, wohin nach Rassenunruhen im Jahr 1978 praktisch die gesamte schwarze Weltbevölkerung emigriert ist, droht der Alten Welt und Nordamerika mit einem Vernichtungskrieg mittels einer neuen Wunderwaffe.

 

Dem Kritiker der offen antisemitischen, deutschenfreundlichen Wochenzeitung Je suis partout hat der böse «empereur nègre» gefallen, der bei Barjavel wohlweislich nicht «Neger» heißt, sondern «Schwarzer».[2] Nicht bemerkt hat er, daß sich hinter dem größenwahnsinnigen Schwarzen nicht zuletzt eine komisch-groteske Parodie (in «Verkehrter Welt»-Manier) des weißen Superariers Hitler verbirgt, der der Welt mit der Entwicklung seiner «Vergeltungswaffe» droht. In einem Interview Anfang der siebziger Jahre erklärte Barjavel, daß auch die Zensurbehörde dies nicht nur nicht bemerkte, sondern sogar plante, Ravage übersetzen zu lassen, für die deutschen Soldaten an der Ostfront. Barjavel war froh, daß es nicht so weit kam, es hätte nach der Befreiung leicht sein Todesurteil bedeuten können.[3]

 

Aber nicht nur die Weltpolitik ist in Ravage aus den Fugen geraten. Auch die Natur spielt verrückt: Weltweit wurde im Jahr zuvor ein rätselhafter Spannungsabfall in den Stromnetzen registriert. Untersuchungen ergeben, daß hierfür eine Zunahme an Sonnenflecken verantwortlich ist, die direkten Einfluß auf die Atomstruktur genommen hat (und im übrigen auch für die anhaltende Erderwärmung sorgt). Zum Glück war das Problem mit dem Strom nur eine vorübergehende Erscheinung. Doch jetzt, gerade als Kaiser Robinson live auf allen Bildschirmen den Einsatz seiner «Wunderwaffe» ankündigt, gibt die Elektrizität ein für allemal den Geist auf. Flugzeuge fallen vom Himmel, sämtliche Maschinen stehen still, die Welt versinkt im Chaos.

 

Im zweiten Teil des Romans lesen wir, wie eine Gruppe Entschlossener versucht, sich von Paris aus nach Süden durchzuschlagen, in die Auvergne, wo François Deschamps, der jugendliche Anführer der Gefährten, beheimatet ist. Eine Odyssee beginnt. Unsere Helden haben es in der Folge mit einem Gegner zu tun, der allen (mit Ausnahme von François) herzlich fremd ist – der Natur, die sich zudem von ihrer übelsten Seite zeigt: Nach heftigen Waldbränden landesweit ist der Himmel mit einer einzigen Aschewolke überzogen, und die Seine und die Loire führen kein Wasser mehr. Doch natürlich gelingt das Unmögliche, und die Helden erreichen glücklich das Heimatdorf von François.

 

Das letzte Kapitel zeigt François, der das biblische Alter von hundertneunzehn Jahren erreicht hat. Mit sieben Frauen hat er unzählige Kinder gezeugt. Als weiser Patriarch regiert er das südöstliche Frankreich, das von einem Netz kooperierender, bäuerlicher Kommunen überzogen ist. Alle Bücher wurden seit der Katastrophe von 2052 vernichtet, damit die Menschen nicht wieder auf dumme Gedanken kommen. Seither lebt man autark und ohne Maschinen.

 

Ravage ist in Frankreich zur Schullektüre geworden. Der Roman gilt als erster seiner Art, als Vorläufer der SF-Welle, die ab den fünfziger Jahren, ausgehend von den USA, Europa erfassen sollte. Gern wird er dabei kontrovers diskutiert. Es wird gefragt, ob der Roman womöglich eine Verherrlichung des «Petainismus» sei. Philippe Pétain, der Staatschef der mit den Nazis kollaborierenden Vichy-Regierung, vertrat eine Politik der ländlichen, patriarchalen Strukturen. Zurück zur Scholle war das Motto. Doch Barjavel war alles andere als ein Petainist. Wer das unterstellt, verkennt, welche Stellung der Schluß im Roman einnimmt. Das letzte Kapitel ist das kürzeste von vieren, nur wenige Seiten lang, eine Art Epilog, und er zeigt keine Idylle. Auch diese schöne neue Welt ist in Gefahr. Das Kapitel setzt in dem Moment ein, als ein selbstfahrender Wagen mit Donnergetöse im Dorf des Patriarchen erscheint. Es ist ein Bauer, der voller Stolz seine Erfindung präsentieren will, die er unabhängig von der Welt gemacht hat: eine Dampfmaschine. Der Ingenieursinstinkt des Menschen ist eben nicht zu unterdrücken.

 

René Barjavel stammte vom Land. Er widmete Ravage «dem Gedenken meiner bäuerlichen Großväter». Doch eine Zurück-zur-Natur-Philosophie vertrat er nicht. Seine Darstellung des futuristischen Paris mit seinen auf Stelzen stehenden Hochhäusern, damit der Mensch darunter Platz für Rasen zum Promenieren hat, macht viel zu viel Spaß, als daß man in Barjavel einen einseitigen Technologiekritiker vermuten könnte. In einem Interview in den siebziger Jahren, aus Anlaß einer Neuausgabe seines SF-Romans Colomb de la lune (dt. etwa: «Kolumbus im Mond»), äußerte sich Barjavel dazu wie folgt: [4]

 

«Ich bin dem Landleben entfremdet. Ich kann nicht wieder Wurzeln schlagen in der heimatlichen Erde. Man kann nicht einfach wieder Bauer werden. Ich habe seit dem Erscheinen von Ravage viele Paare erlebt, die versucht haben, aufs Land zu ziehen. Sie sind fast alle gescheitert. Das einzige, was sie zustande gebracht haben, war Ziegenkäse. Ziegen sind genügsame Tiere. Aber sobald sie es mit Schafen versucht haben, kam es zur Katastrophe.»

 

 

2 – Großvaterparadoxon und andere Schizophrenien

 

1974 äußerte sich Barjavel in einem Interview zur Entstehung von Ravage. Er schilderte unter anderem, wie er die Zeit unmittelbar vor dem Krieg erlebte. Der Rückfall in die Barbarei kündigte sich spätestens seit dem Münchner Abkommen von 1938 an, und es war nicht zuletzt Hitlers Stimme, die Schlimmes befürchten ließ.

 

«Es gab noch kein Fernsehen. Man hörte diese barbarische Stimme, ohne ein Wort zu verstehen, die aus dem Lautsprecher wie vom Himmel zu kommen schien. Wer keinen Radioempfänger hatte, ging ins Café. Manchmal wurden die Reden sogar auf dem Rathausplatz übertragen. Man hörte das Wüten eines Dämons, der den Haß und den Tod verkündete. Als es schließlich zum Krieg kam, reagierten wir geradezu erleichtert. Wir sagten uns: ‹Jetzt machen wir endlich Schluß mit diesem Irren!› Wir gingen davon aus, daß wir in drei Wochen wieder zu Hause wären, denn man hatte uns immer erzählt, daß die deutschen Panzer bloß aus Pappe seien.»[5]

 

Der erklärte Pazifist Barjavel wurde im September 1939 eingezogen und diente in einem Zuaven-Regiment, wo er als Obergefreiter für die Feldküche zuständig war. Im Mai 1940 marschieren die deutschen Truppen in Frankreich ein. Es kommt zum Debakel. Die französische Armee erleidet in wenigen Wochen verlustreiche Niederlagen und erweist sich schon bald als handlungsunfähig. Zivilisten fliehen Richtung Süden, Soldaten irren plan- und anführerlos umher, über die Seine, über die Loire, nur weg von Dünkirchen. Am 16. Juni übernimmt Marschall Pétain die Regierungsgeschäfte. Er entschließt sich zur Kapitulation. Bereits am 22. Juni wird der «Waffenstillstand» ratifiziert. Ab sofort ist das Land zweigeteilt: in einen besetzten Norden unter deutscher Verwaltung und einen «freien» Süden mit Regierungssitz in Vichy unter einem Quasi-Diktator Pétain, der sich zur Kollaboration mit den Nazis bereit erklärt.

 

René Barjavels zweiter SF-Roman, Le Voyageur imprudent (dt.: «Der unvorsichtige Reisende»), der 1944 erschien, setzt unmittelbar im Kriegsgeschehen ein. Er beginnt so:

 

«Der Krieg war kalt. In den frühen Morgenstunden fand Sergent Mosté einen Soldaten halbnackt und zusammengekrümmt im Latrinengraben. Der Frost, der aus dem Schnee aufstieg, hatte ihn tödlich umarmt. Seine Schenkel, wenn man dagegenklopfte, klangen wie Holz. Vier Männer trugen ihn. Der Mann, der den Kopf nahm, brach ihm die Ohren ab.»

 

Protagonist des Romans ist der Obergefreite Pierre Saint-Menoux, verantwortlich für die Fahrzeugführer der Maschinengewehrabteilung eines Gebirgsjägerbataillons in den Pyreneen, samt fahrbarer Feldküche und Pferdewagen mit dem Proviant. An diesem Tag steht eine neuerliche Truppenverlegung an, und wie immer sind die Köche mit ihren Vorbereitungen im Verzug. Saint-Menoux inspiziert die Fahrzeuge, hilft beim Beladen. An allen Ecken und Enden geht etwas schief, und Saint-Menoux «öffnete wohl ein Dutzend mal den Mund, um etwas zu sagen, doch er schwieg, wohl wissend, daß er nur seine Inkompetenz verraten würde» – denn der junge Mann ist im bürgerlichen Leben Mathematiklehrer. Bei einbrechender Dunkelheit und heftiger werdendem Schneefall setzt sich der Troß endlich in Bewegung. Albtraumhaft langsam, man scheint nicht von der Stelle zu kommen. Erst nach neun Stunden erreicht man das wenige Kilometer entfernte Städtchen Tremplin-le-Haut, von wo aus es mit der Eisenbahn weitergehen soll.

 

Als Saint-Menoux im Dunkeln über die Treppenstufe zu einem Haus stolpert, beschließt er, im Hauseingang eine Weile Schutz zu suchen vor der unwirtlichen Welt. Doch als er sich gegen die Tür lehnt, öffnet sich diese. Wärme schlägt ihm entgegen. Er sieht in das Gesicht einer jungen Frau, die ihm Zeichen macht, ihr ins Innere zu folgen. Im Wohnzimmer erblickt Saint-Menoux eine groteske Erscheinung: einen Mann im Rollstuhl von immenser Leibesfülle, mit einem ungeheuren Bart, in den der Mann jetzt greift, um seine Brille hervorzuholen. Es handelt sich um Noël Essaillon, Physiker und Chemiker, der im Februar 1939 in der Revue des Mathématiques zu einer wichtigen mathematischen Entdeckung Saint-Menoux’ Stellung genommen hat. Der Ausbruch des Krieges hatte die weitere Zusammenarbeit der beiden Gelehrten verhindert. Jetzt kann Essaillon dem erstaunten Saint-Menoux verkünden, daß seine eigene Arbeit Dank der Forschungsergebnisse des jungen Kollegen unterdessen an ihr Ziel gekommen ist. Essaillon hat eine chemische Substanz entwickelt, die es dem menschlichen Geist erlaubt, sich von den raumzeitlichen Restriktionen zu lösen, denen der Körper unterworfen ist. Mithilfe des Substanz «Noëlit» kann der Mensch sich frei im «totalen Universum» bewegen, jener Sphäre, der auch der menschliche Geist angehört und die nicht aus drei oder vier Dimensionen besteht, sondern aus allen. Zum Beweis bittet Essaillon Saint-Menoux eine Pille zu nehmen, die eine geringe Dosis des «Noëlit» enthält. Saint-Menoux tut, wie ihm geheißen – und findet sich im nächsten Moment auf offener Straße im nächtlichen Schneegestöber wieder. Noch zwei Stunden Marsch bis Tremplin-le-Haut ...

 

Der Roman berichtet im Folgenden von den Reisen durch Zeit und Raum, die Saint-Menoux im Auftrag von Essaillon unternimmt, da dieser aufgrund seiner Behinderung nicht selbst dazu in der Lage ist. (Seine Tochter – denn um sie handelt es sich bei der jungen Frau – hat bislang nur einige Reisen in die Zeit vor dem Krieg unternommen – um Butter und andere jetzt unerschwingliche Lebensmittel zu beschaffen.) Dabei legt die Dosierung des Noëlit fest, welche Zeitspanne überwunden wird, den Ort wählt man hingegen durch einen bewußten Willensakt. Der unerfahrene Reisende erlebt das überraschende Phänomen der «Assoziationsflucht». Er versucht sich auf die Place de la Concord in Paris zu versetzen, doch als er die Dosis Noëlit zu sich genommen hat, «stellte er fest, daß er sich weit entfernt von dem Platz befand. Er hatte sich das Straßenpflaster vorgestellt. Das Muster hatte ihn an eine graphische Lösung eines mathematischen Problems denken lassen, diese an das Papier, auf das er die Lösung gezeichnet hatte, dies an die Schreibwarenhandlung, in der er das Papier gekauft hatte, diese an das Kino, das sich auf der anderen Straßenseite befand, dieses an das Gesicht von Tino Rossi auf den Plakaten, und nun stand er da und summte Veni, veni, veni ... Er dachte erneut an die Place de la Concorde. Die Droschken erinnerten ihn an Pferdeäpfel, die Pferdeäpfel an Misthaufen, die Misthaufen an Ackerfurchen ... Die Bilderfolge durchzog seinen Geist mit schwindelerregender Geschwindigkeit.» Ein drittes Mal konzentriert er sich auf die Place de la Concorde. Diesmal sieht er den Obelisken vor sich. Er denkt an die Pyramiden, an Napoléon, an Joséphine, an eine Hängematte, einen Seemann, das Meer, Austern, Zitronen ...

 

Als er schließlich wütend eine neuerliche Dosis Noëlit nimmt, findet er sich im Bett neben der schlafenden Annette wieder, der Tochter Essaillons. Der junge Mathematiker wird die Situation nicht ausnutzen, sondern sich heimlich davonstehlen. Die endgültige Vereinigung des Paares in einer einigermaßen stabilen Gegenwart muß warten. Wir befinden uns schließlich noch im ersten Akt des dreiteiligen Dramas.

 

Der zweite Teil besteht aus dem «Tagebuch» Saint-Menoux’, in dem er unter anderem von seiner Reise ins Jahr 2052 berichtet, wo er Zeuge des verheerende Stromausfalls für alle Zeiten wird. Der «Herausgeber» erlaubt sich den Spaß in einer Fußnote anzumerken, daß der Tagebuchautor durchaus irrt, wenn er behauptet, daß die Elektrizität einfach «verschwunden» sei, und verweist die Leserschaft auf das Buch Ravage, wo die Ereignisse treffender dargestellt worden seien.

 

Auf ausdrücklichen Wunsch von Essaillon reist Saint-Menoux schließlich in eine sehr ferne Zukunft, um zu sehen ob und gegebenenfalls wie die Menschheit überlebt hat. Saint-Menoux muß mehrfach ins Jahr 100 000 reisen, um annähernd zu begreifen, was er sieht. Tiere scheinen bis auf friedlich grasende Kühe und suhlende Hausschweine und vereinzelte Hütehunde ausgestorben zu sein. Die ersten Menschen, die Saint-Menoux trifft, sind Hirten, die mit starren Blicken wie von Hühnern stumm ihrem Geschäft nachgehen. Genauere Untersuchungen zeigen, daß diese Wesen mutiert sind: Es gibt keine Geschlechtsorgane und offensichtlich keinen Magen. Satin-Menoux erreicht in einer weitgehend kahlen Wiesenlandschaft eine mächtige Halle, in der darmartige Wesen mit dem beschäftigt zu sein scheinen, was einstmals die menschliche Verdauung gewesen ist. (Aber von Ausscheidungen keine Spur.)  Gefüttert werden sie von anderen Menschenwesen mit Obst. Saint-Menoux trifft auf bewaffnete Soldaten, die den Fremden aber nicht zu registrieren scheinen, sondern ebenso apathisch übersehen wie die Hirten. Offensichtlich paßt Saint-Menoux nicht ins Feindbildschema. (Vielleicht halten sie ihn für eins der harmlosen Schweine.) In einer weiteren Halle sieht Saint-Menoux einen gigantischen Fleischberg mit Hunderten, ja, Tausenden von schlitzartigen Öffnungen, vor denen knapp einen Meter große Wesen Schlange stehen und warten, bis sie an der Reihe sind, um sich mit offensichtlicher Begeisterung in eine der Öffnungen zu stürzen. Über jeder dieser Öffnungen leuchten Bilder auf, die sich unablässig verändern. Saint-Menoux sieht Frauenköpfe, Frauenbrüste, Frauenschenkel, Haare, einzelne Augen, Ohren, Nasen, dünne Frauen, dicke Frauen, häßliche, schöne, alte, junge. Jedes der kleinen Menschenwesen scheint hier sein Objekt der Begierde zu finden, für das es sich in einem einmaligen Zeugungsakt in den Tod zu stürzen bereit ist. 

 

In seinem Essayband La faim du tigre (dt: «Der Hunger des Tigers«) wird Barjavel 1966 diese Schreckensvision ebenfalls ausmalen. Dort spekuliert er, ob es vielleicht Bestimmung des Menschen ist, das Leben – das doch nur ein empörendes Fressen-und-Gefressen-Werden ist – gezielt auszulöschen, um Platz zu machen für eine wahre «natürliche» Homöostase auf Erden. Offensichtlich ist im Jahr 100 000 das Experiment geglückt. Ruhe in Frieden, Individuum.

 

Im dritten Teil des Romans lebt Pierre Saint-Menoux vor allem wieder im Paris der vierziger Jahre. Aus alter Gewohnheit und aus Liebe zu Annette, trotz der schwierigen Bedingungen:

 

«Mahlzeiten im Restaurant waren horrend teuer, und man wurde nicht satt. Mademoiselle Mongent, die ein Zimmer im dritten Stock bewohnte, bot ihm eine Essensmarke für Brot an, Kategorie T, für dreihundert Franc. Mademoiselle Mongent arbeitete im Rathaus. Sie schmuggelte falsche Lebensmittelmarken in die Markenbündel und verkaufte die richtigen an ihre Kunden. Pierre kaufte acht Kilo Butter beim Kohlenhändler. Fünfhundert Franc. ‹Das ist nicht teuer!›, sagte der schwarze Mann zu ihm. ‹In Nueilly bezahlen die Leute bis zu achthundert.› Er kaufte für vierhundert Franc einen Camembert beim Friseur und im Milchgeschäft ein Paar Strümpfe für dreihundert Franc, die er beim Bäcker gegen sechshundert Gramm Räucherfleisch eintauschte.»

 

Saint-Menoux macht sich Gedanken über den Geschichtsverlauf: Hätte er geändert werden können? Mußte alles so kommen, wie es gekommen ist? «Wenn Ludwig XIII. keinen Sohn gehabt hätte, wäre sein Nachfolger dennoch Sonnenkönig geworden? Wenn Eiffel in jungen Jahren an Krupp oder Scharlach gestorben wäre, hätte Paris dann keinen Turm?» Saint-Menoux hat bereits mehr als einmal in die Geschichte eingegriffen, bei seinen verschiedenen Reisen in die Vergangenheit. Unbeabsichtigt hat er den Tod einer Frau verursacht, deren Sohn –  Monsieur Michelet, der «traurige Architekt» (denn im Krieg wird nicht gebaut, nur zerstört) – sein Wohnungsnachbar ist. Das heißt: war. Monsieur Michelet ist im Jahr 1943 jetzt folgerichtig verschwunden. Aber das kitschige, neobarocke Wohnhaus auf der anderen Straßenseite, das, wie Saint-Menoux weiß, auf Michelets Pläne zurückgeht, steht noch immer! Kann man also allenfalls Einfluß auf das individuelle Leben nehmen? Bleiben generelle Tendenzen, Strömungen, Moden unveränderlich?

 

Saint-Menoux plant ein letztes Experiment. Er beschließt, Ort und Zeit der Belagerung von Toulon im Dezember 1793 aufzusuchen – um Napoléon zu ermorden. Diese Belagerung ist ihm auch deswegen vertraut, weil ein berühmter Vorfahre der Familie an ihr teilgenommen hat: Satin-Menoux’ Ururgroßvater, ein gewisser Durdat Joachim.

 

Alles scheint zu klappen. Satin-Menoux mischt sich in dunkler Nacht unter die Artilleristen, die von Napoléon befehligt werden (und fühlt sich für einen Moment ins Jahr 1940 zurückversetzt, das gleiche Chaos, die gleichen Flüche). Als die Stellungen bezogen sind, findet Saint-Menoux eine günstige Position, von wo aus er unbemerkt auf Napoléon anlegen und im geeigneten Moment schießen kann. Als er schließlich abdrückt, wirft sich im letzten Moment ein Artillerist vor Napoléon. Jener wird von vier Kugeln getroffen, dieser bleibt unverletzt. Die Chance ist vertan, Satin-Menoux hat keine weitere Munition. Er muß es bei anderer Gelegenheit noch einmal versuchen.

 

Erst später erfährt er, wer der Artillerist war, der sich so heldenmutig aufgeopfert hat: ein gewisser Durdat Joachim.

 

René Barjavel scheint damit der erste SF-Autor zu sein, der das später sogenannte «Großvaterparadoxon» in Szene gesetzt hat. In einem dreiseitigen «Postscriptum», das der Autor anläßlich einer Neuausgabe des Romans 1958 ergänzt, heißt es: «Sie haben vor wenigen Sekunden ENDE gelesen. Aber für Saint-Menoux bedeutet die Geschichte kein Ende. Bedenken Sie: Er hat seinen Vorfahren getötet, bevor dieser die Gelegenheit hatte, zu heiraten und Kinder zu zeugen. Also wurde auch Saint-Menoux nicht gezeugt. Er existiert nicht, hat nie existiert. Gut. Aber wenn Saint-Menoux nicht existiert, nie existiert hat, dann hat er auch nicht seinen Vorfahren getötet! Dann hat sein Ururgroßvater unbehelligt sein normales Leben geführt, hat geheiratet und Kinder gezeugt, die wiederum Kinder gezeugt haben, die eines Tages Saint-Menoux gezeugt haben, der eines Tages beschließt, Napoléon zu erschießen und statt dessen seinen Vorfahren erschießt ... Er hat seinen Vorfahren getötet? Also existiert er nicht. Also hat er seinen Vorfahren nicht getötet. Also existiert er ...»

 

Die unmögliche Stellung des Menschen im Universum, sie findet ihren Ausdruck auch im Gesellschaftlichen. Der Voyageur imprudent erschien zuerst als Fortsetzungsroman – ausgerechnet in dem antisemitischen Hetzblatt Je suis partout. Barjavel landete dafür nach der Befreiung auf der schwarzen Liste der Commission d’Épuration, der «Säuberungskommission», die für über hunderttausend Verhaftungen und über tausend, zum Teil standrechtliche, Hinrichtungen verantwortlich zeichnen sollte. Barjavel wird nach kurzer Prüfung vom Vorwurf der Kollaboration freigesprochen. In der Tat eignet sich nichts in seinem Werk für völkische Propagandazwecke, und der in Frankreich so verbreitete Antisemitismus, der bei vielen Franzosen Sympathien für Nazi-Deutschland aufkommen ließ, lag ihm fern wieder jeder andere inhumane Menschenwahn. Warum aber veröffentlichte er seinen Roman in diesem Blatt?

 

Es ist nicht leicht, sich in vergangene Zeiten zurückzuversetzen (ohne Noëlit), die Empfindungen der Menschen nachzuvollziehen, wie sie ihr Handeln vor sich selbst rechtfertigten, was sie glaubten, was möglich sei und was nicht, wie weit man sich anpaßt oder nicht, ob man rebelliert oder nicht.

 

Wir sind hier auf Zeitzeugen angewiesen. Ich nenne nur einen: den Schriftsteller Jacques Spitz (1896–1955), der in den dreißiger Jahren mit surrealistischen Werken hervorgetreten war und in den vierziger Jahren ebenfalls «Wissenschaftsfiktion» wie Barjavel schrieb. Spitz, der über jeden Verdacht der Kollaboration erhaben war, verfaßte 1945 im Auftrag der Historischen Abteilung der US-Armee eine etwa hundertseitige Bestandsaufnahme zur «kulturellen Situation in Frankreich während der Besetzung und unmittelbar nach der Befreiung». [6] Darin beschreibt er in einem Kapitel über das Zeitungswesen während der Besetzung auch die Wochenzeitung Je suis partout. Es wird klar, daß das Blatt eben nicht das französische Pendant zum deutschen Stürmer war, sondern ein sonderbares Mischwesen:

 

«Dieses Blatt, das bereits vor dem Krieg erschien und schon damals antisemitische und Pro-Nazi-Positionen vertrat, wurde zu Beginn des Krieges verboten und während der Besetzung wieder ins Leben gerufen. Hier fand sich eine Gruppe von Journalisten von unbestreitbarem Talent zusammen: Lucien Rebatet, Alain Laubreaux, P. A. Cousteau, die auch von den ‹guten Franzosen› gelesen wurden, selbst wenn jene ihre verstiegenen Theorien zur ‹Besetzung› propagierten. Man muß dazu sagen, daß die Ressorts Literatur, Theater und Kino – so sehr sich auch hier der Parteigeist bemerkbar machte – die einzigen waren, die mit ihrer exzellenten Qualität noch etwas von der Pariser Presse der Vorkriegszeit erahnen ließen.»

 

Und Spitz, dessen Bericht sonst betont sachlich und wertungsfrei formuliert ist, wartet an dieser Stelle mit einem poetischen (also unsachlichen) Bild auf, das in seiner Ambivalenz bezeichnend ist: «Am dunklen Himmel der Besetzungszeit war Je suis partout ein dunkler Stern, der den falschen Hirten als Leitstern diente.»

 

 

3 – Science-Fiction zwischen E und U

 

René Barjavel gilt heute – im Rückblick und zu recht – als der «Vater der Science-Fiction à la française» (Le Monde).[7] Barjavel selbst hat immer wieder eine Lanze für das Genre gebrochen. «Was mich betrifft», sagte er in einem Interview, «so lese ich praktisch nichts anderes mehr als Science-Fiction.» Gern stellte er die SF als die gleichsam einzige mögliche moderne Erzählform hin: «Der traditionelle Roman ist am Ende. Die Tragödien, die Komödien des banalen Alltags, wir durchleben sie doch in der Wirklichkeit zur Genüge. Ich habe nicht das geringste Verlangen, sie auch noch in Büchern vorzufinden, nicht die meinen und nicht die eines anderen ... Mich interessiert das Schicksal der Menschheit, nicht das eines einzelnen Menschen.» Und: «Ich bin davon überzeugt, wenn Balzac und Victor Hugo heute leben würden, wären Sie Science-Fiction-Autoren geworden.» [8]

 

Doch Barjavel selbst hat nur acht Science-Fiction-Romane geschrieben. Seine übrigen acht Romane sind anderen Gattungen und Genres verpflichtet. Sein dritter Roman der vierziger Jahre nach Ravage und Le Voyageur imprudent sollte jedenfalls ein realistischer Roman werden: Tarendol (1946) – mit seinen fast fünfhundert Seiten Barjavels umfangreichstes Werk.

 

Seine Entstehung verdankt er einem gescheiterten Frühwerk, das den Arbeitstitel François le fayot trug (dt. etwa: «François der Kriecher»). Auslöser für den Text war, einmal mehr, der Krieg. In einem Interview[9] sagte Barjavel:

 

«In diesem Buch wollte ich meine Kriegserlebnisse verarbeiten. Ich war militanter Antimilitarist. Ich war bei der Infanterie in Chaumont. Der Kadavergehorsam, der damals herrschte, die absurde Dummheit der Unteroffiziere, dieser Syphilitiker und Schwachköpfe, und der Gedanke, daß diese Leute über mein Leben und Sterben entscheiden können ... Für die kleinste Kleinigkeit konnte man vors Militärtribunal gestellt werden, und dann hieß es Afrikabataillon. All das erfüllte mich mit solchem Groll, daß ich François le fayot schrieb. Ein ‹fayot› ist, wie Sie wissen, derjenige, der sich freiwillig länger verpflichtet. Eine grauenhafte Figur, ein brutaler Nichtsnutz.»

 

Als Barjavel das Manuskript nach dem Krieg wieder liest, findet er den Text «fürchterlich schlecht». Er vernichtet ihn – bis auf die Liebesgeschichte, die darin vorkommt. Aus ihr wird der Roman Tarendol.

 

Hätte René Barjavel nichts als Tarendol geschrieben, der Autor müßte für alle Zeiten unter die besten Erzähler französischer Sprache gezählt werden. Tarendol ist ein rares Meisterwerk. Der Roman erzählt die (autobiographisch gefärbte) Geschichte des siebzehnjährigen Jean Tarendol, der sich in der (fiktiven) Kleinstadt Milon des Tourdres im Departement Vaucluse (im bergigen Südosten des Landes), wo er das Internat besucht, in Marie, die Tochter der Direktorin der Mädchenschule, verliebt. Marie und Jean werden ein Paar. Als Marie schwanger wird, verschicken die Eltern sie zu einer Tante aufs Land. Jean findet ihren Aufenthaltsort heraus und verspricht, sie zu «befreien». Er hat inzwischen Abitur gemacht und will in Paris Architektur studieren. Er will Marie nachholen und heiraten. Doch als Paris von den Alliierten bombardiert wird, wird Jean im Gebäude der Verlagsdruckerei, in der er als Korrektor arbeitet, verschüttet. Er überlebt mit knapper Not. Als er halbwegs genesen ist und reisen kann, ist es zu spät. Marie ist inzwischen an Tuberkulose gestorben.

 

Erzählt wird nicht nur diese Liebesgeschichte. Erzählt wird auch die Geschichte des «Autors», der sich als Ich-Erzähler zu Wort meldet und ankündigt, uns die Geschichte zu erzählen, die wir schließlich lesen werden. Es konstituiert sich so ein Roman im Roman, der im September 1944, wenige Wochen nach der Befreiung von Paris, beginnt und ein Jahr später endet, unmittelbar nach der Bombardierung von Hiroshima, die unser «Autor»-Erzähler mit den Worten kommentiert: «Unterdessen fallen die ersten Bomben auf Japan. Ich hätte nicht gedacht, daß es so schnell gehen würde. Ich hätte geglaubt, diese Überraschung würden sie sich für den nächsten Krieg aufsparen. Die Gelehrten haben es ganz offensichtlich eilig.»

 

Doch auch die Binnengeschichte besteht aus mehreren Geschichten. Sie setzt ein, als Jean sich nach den Osterferien aus seinem kleinen Heimatdorf wieder zurück ins Internat begibt. Während des Fußmarsches zum sechs Kilometern entfernten Bahnhof, kommt er am Friedhof vorbei, auf dem sein Vater André liegt, der aus dem Ersten Weltkrieg als gebrochener Mann heimkehrte und mit nicht einmal vierzig Jahren starb. Erzählt wird in der Folge das Leben von André Tarendol, seine Bäckerlehre mit zwölf Jahren, seine Heirat mit Françoise mit neunzehn, die Gründung eines bescheidenen Haushalts mitsamt kleiner Weide und Ziege, seine «Mobilmachung» im August 1914 und seine schließliche Heimkehr. In filmischer Schnitt-Gegenschnitt-Technik sehen wir André auf derselben Strecke heimkehren, auf der Jean in diesem Moment in die «große Welt» aufbricht. Während Jean den Friedhof in Richtung Bahnhof passiert, nähert sich André dem heimatlichen Dorf. (Als er schließlich mitten in der Nacht sein Haus erreicht, wagt der verstörte Mann nicht, seine Frau zu wecken. Er legt sich im Ziegenstall schlafen.)

 

Allein diese Exposition ist preisverdächtig. Hier ist ein Autor am Werk, der die Formensprache des Romans souverän beherrscht. Der Liebesroman ist zugleich Entwicklungsroman und mit seinen vielen Einzelporträts zudem Gesellschaftsroman. Er ist Anti- (wenn es den Zusatz braucht) Kriegsroman und Kriegsheimkehrer-Roman. Er ist naturalistischer Roman und Spannungsroman. Er ist mit seinen «modernen» Techniken (innerer Monolog, Collage, Verfremdungstechniken) so sehr Avantgarde, wie es nur geht – ohne avantgardistisch zu sein.

 

Denn das ist vielleicht das Erstaunlichste an dem Roman, daß Barjavel bei aller Kunstfertigkeit keinen «schwierigen» Roman geschrieben hat. Befragt, warum er Science-Fiction schreibe (was man nicht tut, wenn man vom Feuilleton wahrgenommen werden will), antwortete Barjavel einmal: Weil er dem psychologischen modernen Roman, der «Hochliteratur», entkommen wollte. [10] Er wollte immer so schreiben, daß die Menschen bei der Lektüre auf die Lektüre gar nicht achten.[11]

 

Nun, bei der Lektüre nicht auf die Lektüre zu achten, wird mir so schnell nicht passieren (déformation professionelle), aber ich verstehe sehr gut. Dieses Ideal der sich nicht aufdrängenden Form, die gleichzeitig alle erzähltechnischen Möglichkeit ausschöpft, die stilistische Eleganz, die verbunden mit einem Ton, der tendenziell ironisch gefärbt ist (in Stufen, die von licht-heiter, über bunt-grotesk bis zu rabenschwarz reichen), immer kraftvoll daherkommt – dieses Ideal hat Barjavel in seinen besten Science-Fiction-Werken verwirklicht, die er erst noch schreiben sollte, in den sechziger und siebziger Jahren: vor allem in Le grand Secret (1968; auf dt. erschienen als Das große Geheimnis) und La Nuit des temps (1973; auf dt. erschienen als Elea bzw. als Die Fremde aus dem Eis).

 

René Barjavel ist damit in jeder Hinsicht ein untypischer SF-Autor. So schrieb er etwa in den fünfziger Jahren überhaupt keine Romane (weder realistische noch sonstige), sondern verdiente seinen Lebensunterhalt als Drehbuchautor (neben seiner Arbeit als Journalist/Kolumnist). Er hat, allein oder als Ko-Autor, rund vierzig Drehbücher geschrieben, weit mehr als Romane. Erst 1962 unternimmt Barjavel einen erneuten Ausflug ins Genre. Colomb de la lune erscheint. Es ist die Geschichte des französischen Astronauten Colomb, der als erster Mensch den Mond betreten soll. Bei den Vorbereitungen setzen die Franzosen nicht auf technisches Imponiergehabe und Supercomputer, sondern auf die Kraft des Geistes: Zwölf Ko-Astronauten sind in einen künstlichen Winterschlaf versetzt worden, ihre vernetzten Gehirne übernehmen die nötigen Berechnungen der Mission. Das Projekt findet wortwörtlich in aller Stille statt, denn das Unterbewußtsein der Ko-Astronauten darf durch keinerlei Geräusch gestört werden, und auch Colomb befindet sich in einer traumartigen Trance. Das Raumschiff wird nicht von einer Trägerrakete mit Flüssigtreibstoff ins All geschossen, sondern per Heißluftballon in die Stratosphäre transportiert. Erst im stillen All kommt der klassische Raketenantrieb zum Einsatz. [12]

 

Doch die Mission scheitert. Am Ende der sechzigtägigen Reise fällt die geplante «weiche Landung» auf dem Mond allzu weich aus. Der Erdtrabant ist, wie sich jetzt herausstellt, von einer viele Meter dicken Ascheschicht überzogen, in der die Raumsonde hoffnungslos tief versinkt. An Ausstieg ist nicht zu denken, an Rückflug erst recht nicht. Doch auch vom Scheitern bekommt Colomb nicht viel mit. Er träumt seinen Traum.

 

Erst Ende der sechziger Jahre wandte Barjavel sich vom Filmgeschäft ab und widmete sich wieder ganz der Schriftstellerei. Er schreibt den Roman La Nuit des temps, der gemeinhin für sein bestes SF-Werk gilt. Das Buch schildert eine der unseren weit überlegene Zivilisation, die neunhunderttausend Jahre vor unserer Zeit auf der Erde existiert hat. Doch da auch die damaligen Menschen Menschen waren, bestand ihre technische Fortschrittlichkeit nicht zuletzt in der Entwicklung immer wirkungsvollerer Waffen, mit deren Hilfe sie schließlich die Menschheit weit zurück in die Prä-Steinzeit bombten. Keine Spuren der Kultur der sogenannten «Gondawa» scheinen überdauert zu haben. Doch jetzt empfangen Forscher in der Antarktis Signale aus tausend Metern Tiefe. Grabungen fördern eine massive kugelförmige Kapsel zutage, in der die Forscher neben verschiedenen rätselhaften Geräten auch zwei überirdisch schöne Menschen finden, einen Mann und eine Frau. Sie vegetieren im künstlichen Winterschlaf dahin, doch sie leben. Die Kugel war die Arche der Menschen von Gondawa.

 

Der Sinn des Lebens ist es, zu (über)leben. Doch was bedeutet das für den Menschen, der nicht nur überleben, sondern gut leben will?

 

In Barjavels 1973 erschienenem Roman Le grand Secret entdeckt der indische Krebsforscher Shri Bahanba per Zufall die Unsterblichkeit. [13] Die mit dem Serum «JL3» behandelten Eintagsfliegen erfreuen sich auch nach Wochen noch bester Gesundheit. Doch damit nicht genug. Es stellt sich heraus, daß die neue Unsterblichkeit ansteckend ist. Schon bald tauchen überall auf der Welt Infizierte auf. Die Regierungschefs weltweit, die in Bahanbas Geheimnis eingeweiht werden, arbeiten fortan zusammen, um die größte denkbare Katastrophe der Menschheit abzuwenden. Der kalte Krieg ist schlagartig vergessen. International sind Geheimdienste ausschließlich damit beschäftigt, Infizierte ausfindig und unschädlich zu machen. (Eine Gruppe von privilegierten Unsterblichen, darunter auch Bahanba, wird auf eine entlegene Insel auf den Aleuten gebracht, wo fortan unter einer Glaskuppel das Experiment einer Gesellschaft in vollkommener Homöostase versucht wird: keine Vermehrung, kein Müll ...)

 

In Barjavels letztem Science-Fiction-Roman, La Tempête (dt.: «Der Sturm»), der 1982 erscheint, lesen wir von einer ähnlichen weltbewegenden Entdeckung. In einer nahen Zukunft gelingt es einem Chemiker und Neurowissenschaftler im Gehirn des Menschen ein Molekül zu isolieren, das für die Liebe zuständig ist, für die selbstlose, um nicht zu sagen: hündische Liebe, denn die mit dem sogenannten «love molecule» «L. M.» behandelten Probanden sind zu keiner aggressiven Handlung mehr fähig, selbst wenn sie geprügelt werden. Die Medizin wird weltweit verabreicht, und tatsächlich bricht umgehend global der Frieden aus. Doch einige Menschen sind immun gegen das Mittel. So auch der Bösewicht der Geschichte, ein gewisser Olof, Raketenforscher und NASA-Mitarbeiter. Er weigert sich, seinen Auftrag auszuführen und als Astronaut die gesammelten Atombombenvorräte in Richtung Sonne zu fliegen, wo sie im Zuge eines globalen Abrüstens vernichtet werden sollen, sondern er benutzt die Waffen, um sie gezielt rund um den Globus abzuwerfen. Denn die glücklich vereinte Menschheit steht kurz davor, ins All aufzubrechen, um neue Welten zu kolonisieren. Olof, der nicht an die liebgewordene Menschheit glaubt, will das mit allen Mitteln verhindern. Während er in regelmäßigen Abständen Bomben abwirft, macht sich eine mutige Frau in einem Raumschiff auf den Weg, Olof zur Besinnung zu bringen. Olof war einmal in sie verliebt, doch sie hat nicht ihn, sondern einen anderen geheiratet. Jetzt vereint sie sich mit ihm auf dem Flug in die Sonne und wendet auf diese Weise Schlimmeres von der Menschheit ab.

 

Die Liebe ist das eigentliche Leitmotiv in Barjavels Werk. Deswegen spielt auch in jedem seiner SF-Romane eine Liebesgeschichte eine Rolle – und dies gewiß nicht, um in Hollywood-Film-Manier für die nötige Dosis Sex zu sorgen.

 

In Tarendol, diesem Roman, der so gern als Liebesroman tituliert wird und der so viel mehr ist, beschreibt der Ich-Erzähler den Zustand der Welt von 1944 mit den Worten:

 

«Wir leben in Zeiten des Hasses. Haß ist die einzige Leidenschaft, zu der die Dummen fähig sind. Nur wenn sie hassen, empfinden sie so etwas wie Größe. Deswegen ist der Haß so allgemein verbreitet und so leicht zu propagieren.»

 

Um der Kälte der Welt – hier auf Erden und da draußen im All – etwas entgegenzusetzen, bleibt dem Menschen in der Tat nur die Liebe, und der Science-Fiction-Autor René Barjavel hat dieser Leidenschaft einige der außergewöhnlichsten Geschichten gewidmet. 

 

* * *

 

Rene Barjavel (1911 – 1985)

Das erzählerische Werk

 

Ravage

SF-Roman, 1943

 

Le Voyageur imprudent

SF-Roman, 1944

 

Tarendol

Entwicklungsroman, 1946

 

Le Diable l’emporte

SF-Roman, 1948

dt. Sintflut der Atome, Heyne

 

Colomb de la lune

SF-Roman, 1962

 

La Nuit des temps

SF-Roman, 1968

dt. Elea, Heyne; Die Fremde aus dem Eis, Knaur

 

Les Chemins de Katmandou

Thriller, 1969

dt. Katmandu, Langen-Müller

 

Le grand Secret

SF-Roman, 1973

dt. Das große Geheimnis, Heyne

 

Les Dames à la licorne

Historischer Roman, zus. m. Olenka de Veer, 1974

 

Le Prince blessé

Gesammelte Erzählungen, 1974

 

Les Jours du monde

Historischer Roman, zus. m. Olenka de Veer, 1977

 

La Charrette bleue

Kindheitserinnerungen, 1981

 

Une Rose au paradis

SF-Roman, 1981

dt. Eine Arche für morgen, Zsolnay

 

La Tempête

SF-Roman, 1982

 

L’Enchanteur

Fantasy-Roman, 1984

 

La Peau de César

Kriminalroman, 1985

 

 

‹Artikel erschienen unter dem Obertitel «Barjavels Zeitreisen» in: Lettre International, Nr. 122, Herbst 2018›

 


 

[1] Ich entnehme diese Angaben einer Schrift von Jacques Spitz, auf die ich im zweiten Abschnitt näher eingehe: «La situation culturelle en France pendant l’Occupation et depuis la Libération». Notes redigées en 1945 pour la Section historique de l’Armée americaine, hg. von Clément Pieyre, Nantes: Joseph K. 2010.

[2]  Je suis partout, 12. 3. 1943; nachzulesen auf der maßgeblichen Website zu Barjavels Werk und Person, «barjaweb»: barjaweb.free.fr/SITE/ecrits/Ravage/jsp_120343.htm

[3] In dem SF-Fanzine Mal d’Aurore (o. J., ca. 1970); nachzulesen auf «barjaweb»: barjaweb.free.fr/SITE/documents/dossiers/maldaurore/index.html

[4] Erschienen 1977 im Dossier-Anhang der Neuausgabe von Colomb de la lune (1962) in der Édition Rombaldi; nachzulesen auf «barjaweb»: barjaweb.free.fr/SITE/documents/dossiers/colomb/colomb_interv.html

[5] Dossier-Anhang zur Neuausgabe von Ravage 1974 in der Édition Rombaldi; nachzulesen auf «barjaweb»: barjaweb.free.fr/SITE/documents/dossiers/ravage/rava_interv.html

[6] Siehe Fußnote 1.

[7] Marion Solletty: «Stephen Hawking en a rêvé, la science-fiction l’a fait», 10. 8. 2010.

[8] In den erwähnten Dossier-Anhängen zu Colomb de la lune und Ravage.

[9] Dossier-Anhang zur Neuausgabe der autobiographischen Kindheitserzählungen La Charette Bleue 1980 in der Édition Le Talandier; nachzulesen auf «barjaweb»: barjaweb.free.fr/SITE/documents/dossiers/charrette/charr_interv.html

[10] Dossier-Anhang zu Ravage. – In dem bereits zitierten Interview des Fanzine Mal d’Aurore äußerte Barjavel: «Die Vertreter des Nouveau Roman sind bloße Literaten. Céline ist ein echter Schriftsteller, ein Fluß. Ich bin nur ein Rinnsal, aber eins, das fließt.»

[11] Interview in der Wochenzeitschrift Hebdo Lyon, 28. Aug./6. Sept. 1984; nachzulesen auf «barjaweb»: barjaweb.free.fr/SITE/ecrits/enchanteur/interview_pmonier.html

[12] Vielleicht wollte Barjavel dem Höllenlärm des Saturn-V-Antriebs (von Alt-Nazi Wernher von Braun) etwas entgegensetzen; vgl. Wikipedia-Artikel «Saturn (Rakete)»: «Der Start einer Saturn V soll – nach der Explosion einer Atombombe – das am weitesten zu hörende menschengemachte Geräusch gewesen sein. Im etwa achtzehn Kilometer entfernten Titusville zerbrachen bei jedem Start Dutzende Scheiben, im Startbunker fiel Putz von der Decke.» In Barjavels Startbunker ist alles mit Filz und Schaumstoff verkleidet.

[13] Rückenumschlagtexte und andere Inhaltsangaben/Teaser pflegen für gewöhnlich zu verschweigen, um was es sich bei dem «großen Geheimnis» handelt, als wäre dies der eigentliche Plot. Mir wurde der Roman genau so empfohlen: «Da entdeckt einer die Unsterblichkeit.» Dem Lesegenuß tut das keinen Abbruch.