Wunderbar komisch

Zu den Grotesken Eugen Egners

Von Heiko Arntz

 

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren!

 

Ich wurde gebeten, etwas über «die Besonderheit der Prosa Eugen Egners» zu sagen. Ich habe mir erlaubt, ein wenig von dieser Themenstellung abzuweichen. Nicht so sehr von dem möchte ich sprechen, was die Texte Eugen Egners von anderen unterscheidet und sie also sondert, als vielmehr darüber, was sie mit anderen Texten gemein haben. Ich möchte also über eine bestimmte literarische Erzählweise etwas sagen, über eine noch nicht recht gewürdigte humoristische Gattung, die der Groteske nämlich.

 

Als ich mir im Sommer 1991 in Zürich als damaliger Lektor des Haffmans Verlags vom Stapel zu prüfender Manuskripte ein knapp vierzigseitiges, eng betipptes Werk mit der Aufschrift «Arbeitstitel: Als der Weihnachtsmann eine Frau war» von Eugen Egner schnappte und unter zunehmender Verwirrung las, stellte sich mir jedenfalls nicht die Frage: Was ist daran besonders? Alles war daran besonders und von einer eher beunruhigenden Einzigartigkeit. Meine Hausgötter waren bis dahin Arno Schmidt und Eckhard Henscheid; mit ästhetischen Kriterien dieser Literatur war jene aber nicht in Verbindung zu bringen. Ich gab daher nicht nur 1992 eine erste Sammlung mit Egner-Prosa unter ebenjenem Titel, ‹Als der Weihnachtsmann eine Frau war›, heraus, sondern beschäftigte mich seither mit der Frage: Ist diese Art von Prosa ein kurioser Einzelfall, oder hat es so etwas schon gegeben, gibt es da gar eine Tradition?

 

Die Antwort lautet: Natürlich hat es diese Art von Prosa schon gegeben, wenn auch von einer Tradition der Groteske als Gattung, in die Egner sich einreihen würde, nicht die Rede sein kann. Was diese Art von Prosa auszeichnet, in was für eine Welt wir mit der Lektüre da eintreten, möchte ich an einigen Textbeispielen verdeutlichen. Die Textbeispiele, die ich ausgewählt habe, stammen vom Ilse Aichinger, Franz Kafka und natürlich von Eugen Egner. (Andere Autoren, die der grotesken Ästhetik im noch zu bestimmenden Sinn, verpflichtet sind, können hier der gebotenen Kürze wegen nicht behandelt werden; die wichtigsten seien aber wenigstens namentlich erwähnt: Lewis Carroll etwa, Flann O’Brien, Bruno Schulz, Boris Vian, Kurt Kusenberg und Ror Wolf.)

 

Beginnen möchte ich mit einigen Ausschnitten aus der Erzählung ‹Das Erlebnis› von Eugen Egner:

 

Wir leben am östlichen Rand des von Menschen besiedelten Gebietes. Weiter im Osten gibt es nur noch zwei Kirchtürme, dann nichts mehr. Daß da eine Stadt liegen soll, wie uns ein Waldläufer erzählt, glauben wir nicht.

Manchmal, an späten Samstagnachmittagen, wenn der Wind entsprechend steht, höre ich die Glocken der fernen Kirchtürme herüberklingen. Aber wenn da eine Kirche ist, deren Glocken ich läuten höre, dann müssen dort vernünftigerweise auch Menschen sein. Das bespreche ich mit den anderen, und zu siebt ziehen wir unter Führung des Waldläufers los, es herauszufinden.

Unterwegs vertraut uns der Waldläufer an, der Wald, durch den wir gerade gehen, sei unberechenbar. Irgend jemand (vermutlich der Bäumler-Manfred) stelle täglich die Bäume um. Bald erscheint uns der Wald merkwürdig verändert, und der Waldläufer versichert uns, daß die Bäume heute schon zum zweiten Mal umgestellt worden seien. Zudem wird es dunkel, da scheint es ratsam, in einer Hütte zu übernachten.[1]

 

Ich überspringe einen Abschnitt; der Waldläufer wird die Reisenden, «obwohl es ihm möglich gewesen wäre», nicht in der Nacht erschlagen, sondern ihnen lediglich alle Uhren verstellt haben, als man am nächsten Morgen weiterzieht:

 

Der Waldläufer verläßt uns, denn es ist kein Wald mehr da. Irgend jemand (der Bäumler-Manfred?) muß die Bäume fortgenommen haben. Wir gehen allein weiter in Richtung Osten. Nach vielleicht einer halben Stunde treffen wir auf Menschen, die ihrerseits erstaunt sind, so weit westlich Menschen anzutreffen. Von ihnen erfahren wir die Uhrzeit, und sie berichten uns von der Stadt, aus der sie kommen, kneten uns sogar aus Lehm ein maßstabsgetreues Modell und erklären uns die Straßenführung. Nach und nach lösen sie sich in einen Krähenschwarm auf und fliegen davon. Wir zeichnen schnell eine Karte von dem Lehmmodell, bevor es ebenfalls davonfliegt. Nun sind wir bestens unterrichtet über die Stadt, die wir zehn Minuten später tatsächlich erreichen.

Die Karte hilft uns wenig – irgendwer muß die Häuser umgestellt haben. Sofort verlieren wir einander aus den Augen und stecken alles Geld, das wir besitzen, in Automaten oder unsinnige Anschaffungen.

 

Was ist das für eine Welt, in die wir da treten? Eine phantastische gewiß: Bäume und Häuser werden leichtfertig umgestellt oder verschwinden. Aber es ist doch auch eine vertraute Welt. Jeder, der sich schon einmal in einem Wald verlaufen oder den der Patentfaltplan einer Großstadt zum Verzweifeln gebracht hat, kann den Protagonisten der Erzählung nachfühlen. Und trotzdem handelt es sich doch nicht lediglich um die Beschreibung eines Ausflugs in die große Stadt aus der verzerrenden Perspektive von Hinterwäldlern. Denn einer phantastisch-verzerrenden Perspektive der Protagonisten steht durchaus nicht eine richtige, eigentliche Perspektive gegenüber; die Welt ist im ganzen phantastisch verändert. So bezweifeln ja nicht nur die Protagonisten, daß es da hinter ihrem Wald im Osten noch irgend etwas gibt, sondern auch die Städter sind «ihrerseits erstaunt», «so weit westlich Menschen anzutreffen». Und was die Protagonisten dann in der Stadt erleben, läßt sich ebenfalls nicht mit einer Hinterwäldler-Perspektive erklären, wie die folgende Episode zeigt:

 

Zweien der Unsrigen wird der Aufenthalt in einer Musikalienhandlung zum Verhängnis. Beim Inhaber bereits in Ungnade gefallen, weil sie sich geweigert haben, einen völlig ungenießbaren Schokoriegel von ihm anzunehmen, ziehen sie sich seinen Zorn vollends zu, als sie auf der Flucht vor ihm versehentlich einige Gamben, Theorben und Orgelpositive zertrampeln.

 

Nein, wer der Kundschaft ungenießbare Schokoriegel anbietet, trägt nicht dazu bei, ein schiefes Bild geradezurücken. Wir können also festhalten: Die Welt der Groteske ist schief; das Phantastische und das Realistische in ihr erscheinen stets untrennbar miteinander verbunden.

 

Das führt mich zu einem zweiten Wesensmerkmal der Groteske: Wenn das Phantastische in ihr nicht bloß für etwas anderes, eigentlich Gemeintes steht, will es folglich ernst genommen werden. Das heißt: In der grotesken Welt können Bäume und Häuser umgestellt und fortgenommen werden. Ja, es existieren andersherum sogar nur Bäume und Häuser, wenn der Autor sie vorher vor uns hingestellt hat. Dazu zitiere ich Ihnen den Beginn einer Erzählung von Ilse Aichinger, die den vielsagenden Titel ‹Das Bauen von Dörfern› trägt:

 

Wir fanden es gut, Dörfer zu bauen, die an den Wald grenzten. Sie liefen alle mit zwei bis drei Straßen dahin aus. Gegen den Wald zu wurden die Häuser seltener, und es kostete Mühe, das letzte Haus das letzte sein zu lassen.[2]

 

Diese Stelle mag verdeutlichen, worin der grundlegende Unterschied zwischen grotesker und realistischer Erzählweise besteht. Das groteske Erzählen trägt den Charakter eines Gedankenspiels, das eine Welt immer erst errichtet, in der dann womöglich Abenteuerliches geschieht. Der Autor realistischer Prosa dagegen ist abhängig von einer unausgesprochenen Vereinbarung, die er und der Leser getroffen haben: Die Welt, um die es gehen soll, sei die, in der wir leben. Der realistische Autor kann so mit der Illusion arbeiten, lediglich eine vorgefundene Realität zu reflektieren. In der fiktiven Welt des Realismus steht jeder Gegenstand repräsentativ für diese uns vertraute Welt und steht mit ein für eine Fülle von Gegenständen, die dann nicht eigens erwähnt werden müssen.

 

Anders in der Groteske: Hier gibt es keine bereits vorhandene Welt, auf die nur verwiesen werden müßte, vielmehr ist da tatsächlich ein «Rand» eines vom Autor «besiedelten Gebietes», um den Anfang der Egner-Erzählung zu zitieren, und «dann nichts mehr». Es sei denn, der Autor stellt neue Requisiten vor uns hin und erweitert den Rand dessen, was in der Groteske die Welt sein soll. Wenn dies auch nicht immer so ausdrücklich geschieht wie in der zitierten Aichinger-Passage. In der Erzählung ‹Port Sing› von Ilse Aichinger heißt es gar von den Protagonisten: «Sie erfanden Richtungen, Abstürze, Wegbreiten, legten Gefahren fest und ließen sich auf immer mehr Farben ein.» Und noch schöner an anderer Stelle: «Die Heiserkeit wurde damals erfunden.» [3]

 

Das Phantastische der Groteske ist also nicht erst an bestimmten phantastischen Gegenständen festzumachen, an verschwindenen Bäumen etwa, sondern der Text insgesamt ist Ausdruck dieser Phantasie, da immer in dem Maße, wie der Text Gestalt annimmt, auch eine neue Welt Gestalt annimmt.

 

Entscheidend ist nun folgendes: Diese Phantasie tut sich ja nicht in unzusammenhängendem Geraune oder hermetischer Abstraktion kund, sondern wurzelt gerade, wie wir gesehen haben, im sehr Diesseitigen und bleibt deutlich ans Erzählbare gebunden; wir werden dieser Phantasie nur teilhaftig «in der Bewältigung des Banalen und Profanen», in dem sich (mit Wolfgang Preisendanz zu sprechen) «die Phantasie im Nichtigen selbst vernichtet».[4]

 

Was ich oben formuliert habe, daß das Phantastische der Groteske ernst genommen werden will, bedarf somit der Korrektur: Es will wohl ernst genommen werden, das ist aber beim besten Willen nicht möglich. Wir müssen es schon komisch nehmen, um ihm gerecht zu werden.

 

Damit wären wir einer Definition oder besser Wesensbestimmung der Groteske schon sehr nahe. Friedrich Theodor Vischer formulierte in seiner ‹Ästhetik› von 1875: «Das Groteske ist das Komische in der Form des Wunderbaren.» (§ 440) Den Begriff des Wunderbaren können wir ohne größeren Bedeutungsverlust in den Begriff des Phantastischen verwandeln; setzt man nun für das Groteske die Groteske und stellt alles ein wenig um, ergibt das: Die Groteske ist das Phantastische in der Form des Komischen. In der Formulierung wird, so hoffe ich, deutlich, daß die Groteske von Anfang an ein Akt der Phantasie ist, der sich heillos ins realistische Detail verliert und sich so notgedrungen und sehr bewußt lächerlich macht. Notgedrungen heißt, daß das Phantastische in der Groteske ausschließlich auf der Folie einer uns vertrauten Realität erscheint, einer Folie, die für die ständige «ironische Inkongruenz» [5] sorgt, die in der Groteske vorherrscht. Bewußt heißt, daß die Autoren der Groteske damit nicht nur keine Probleme haben, sondern diese ironische Inkongruenz von Phantastik und Realistik auch deutlich komisch pointieren. (Daß man vom Lehmmodell schnell eine Karte zeichnet, bevor es ebenfalls davonfliegt, der running-gag-artig auftauchende Bäumler-Manfred oder die Erfindung der Heiserkeit wären solche Pointen.)

 

Ich möchte in diesem Zusammenhang einen Text von Eugen Egner zitieren, der den Titel trägt ‹Wie wir eines Tages die Seefahrt erfanden›:

 

Wir erfanden alles, was man kaufen konnte. Und wenn es nichts zu kaufen gab, erfanden wir Notgeld. Wenn wir nichts erfanden, saßen wir mit Achtmeterarmen im Sessel und rührten die Besteckkästen im Nachbarhaus um (nach Feierabend oder in den Pausen). Meist aber arbeiteten wir um der Christenheit willen! Gespannt schauten wir auf unsere Hände, unter denen schon wieder eine neue Erfindung Gestalt annahm. In der sterbenden Natur draußen (Fische, Holzmönche, Tennisbälle) gab es dafür kein Gleichnis:

«Was wird es werden?»

«Was brauchen wir?»

(Für solche, die noch nicht sehr viel erfunden haben, muß hinzugefügt werden, daß man besonders beim Zusammenschrauben von Erfindungen einiges Geschick aufzubringen gezwungen ist.)

Ein verfrühtes Telegramm wurde abgegeben:

«Und nun viel Spaß mit der schönen neuen Wasserturbine!»

Nein, eine Wasserturbine war das nicht, was hier entstand. Aber mit Wasser hatte die Sache zu tun: Wir hatten die Seefahrt erfunden.

Das war die Wahrheit, und wir hatten Angst vor Wasser, das war auch die Wahrheit. Wir sagten uns: «Besser Angst vor Wasser als vor der Wahrheit.»

Später wurde unsere Erfindung von den Werftbesitzern mißbraucht.[6]

 

Betrachten wir nun einmal genauer, in welche Details die groteske Phantasie sich bevorzugt verliert, aus welchen Requisiten der uns bekannten Welt da eine neue gemacht wird. Und auch hier ist ein Vergleich mit dem Verfahren des Autors realistischer Prosa erhellend: Selbstverständlich reflektiert, also spiegelt der Autor realistischer Prosa nicht einfach die Welt; er muß einzelne Gegenstände auswählen, und wie reichhaltig die Auswahl auch ausfällt, die Wirklichkeit in ihrer Ungestalt wird er nicht wiedergeben können, noch wäre das sinnvoll. Auch der Autor realistischer Prosa erschafft also aus einzelnen Gegenständen der Welt eine neue, literarische. Dennoch arbeitet er mit der Illusion einer Abbildung der Welt; er muß also Gegenstände seiner Erfahrung für die Dichtung auswählen, die stellvertretend für die Totalität der Welt stehen und so ins Bedeutend-Allgemeine gehoben werden können.

 

Nicht so der Autor der Groteske: Er steht ja nicht unter dem Zwang zur Abbildung der Welt und wählt so, scheinbar willkürlich, Gegenstände bevorzugt aus seiner unmittelbarsten Umgebung aus, dem gedankenspielerischen Charakter der Groteske entsprechend mitunter auch erst beim Schreiben. Diese so sehr privaten Gegenstände stehen nun auch im Text nicht für ein Anderes, Allgemeines, sondern bilden dort gänzlich überraschende neue Zusammenhänge mit anderen Disparata. Auf diese Weise geschieht den eigentlich ganz unwürdigen Gegenständen jene komische Überhöhung, ja Mythisierung, die alle Grotesken kennzeichnet. Man denke nur an E. T. A. Hoffmann (den großen Ahnherrn der Groteske als eigenständiger Gattung) und seine Erzählung ‹Der goldne Topf›. In ebenjenem Gefäß, dem aus dem sagenhaften Atlantis stammenen goldenen Topf, ist leicht eine sehr reale Punschterrine wiederzuerkennen, die der zuweilen exzessive Punschsäufer Hoffmann hier zum komisch-mythischen, literarischen Gegenstand gemacht hat.

 

Nun kommt ein völliges reales Phänomen wie der Rausch – ähnlich dem Traum und dem Wahn – der Groteske und ihrer Erzählweise allerdings sehr entgegen; und nicht von ungefähr ist Eugen Egners bekanntestes Buch jener 1991 erschienene schmale Band mit dem Titel ‹Aus dem Tagebuch eines Trinkers – Das letzte Jahr›. Zu einer Abschilderung im realistischen Sinn etwa der Folgen der Trunksucht kommt es da natürlich nicht. Das realistische Moment, der Trinker und sein sich dramatisch steigernder Konsum der verschiedensten geistigen Getränke, ist nur das Vehikel, möglichst leicht in die komische Schräglage der Groteske zu gelangen, wie folgende Eintragung beweist:

 

14. 2. Viel über Paralleluniversen gelesen, versucht hinzugelangen, häßlicher Sturz.[7]

 

Was nun aber die Herkunft der disparaten Requisite angeht, ist auf eine sehr private Lebenssphäre hinzuweisen, die wohl allen Autoren der Groteske ein besonders ertragreicher Fundus ist: die eigene Kindheit. Max Brod hat vom «echten Infantilismus» gesprochen, von dem Franz Kafka geprägt gewesen sei, und vermutete, daß die «besondere Art märchenhafter Erfindung und Fortspinnung der Fabel wohl aus dem Hang zur Frühzeit zu erklären (sei), in der das Kind alles, womit es spielt, verzaubert und traumhaft umgeformt sieht.» [8] Und – wie bei dem Topos «Rausch» – auch hier dienen die ausgewählten Realien nicht der Rekonstruktion einer Kinderwelt im realistischen Sinne, sondern zur Konstruktion einer ganz neuen literarischen Welt.

 

In Franz Kafkas Text ‹Wunsch, ein Indianer zu werden› etwa erleben wir diese parallele Text- und Weltentwicklung nicht wie in den oben zitierten Texten, indem die Requisiten nach und nach vor uns hingestellt, sondern umgekehrt, indem sie einfach vor unseren Augen fortgeräumt werden:

 

Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glattgemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf. [9]

 

Gewiß ist der Wunsch, Indianer zu werden, schon komisch; in Eugen Egners Text ‹Bei den Indianern› begegnet uns dieses Motiv nun gar in Form einer lästigen Pflicht, Indianer werden zu müssen. Ich zitiere aus dem Mittelteil und dem Schluß:

 

Auf dem Lehrgang war uns klargemacht worden, daß wir am besten daran täten, einfach alles, was da käme, hinzunehmen und darauf zu vertrauen, daß selbst die längste Zeit vergeht, wenn man nur lange genug wartet. (...)

Gedanken an unbequeme Einzelheiten meiner Zukunft als Indianer versuchte ich zu unterdrücken. Sicher würde ich Feinde töten müssen, was ich um so mehr bedauerte, als ich gerade eine Existenz hinter mir hatte, in deren Verlauf ich mir mit Müh und Not den Jähzorn und überhaupt alles gewalttätige Aufbrausen abgewöhnt hatte. Nun, es würde schon werden.

Als erstes führte mich Robert zu unserem Zelt und zeigte mir meinen Schlafplatz. Für Schlafplätze hatte ich stets eine große Vorliebe, deshalb kroch ich sofort ganz verzückt in das Nest aus Fellen und Wolldecken. Es duftete angenehm, ich steckte meine Nase zufrieden in eines der Felle und schlief – anders als im früheren Leben – sofort problemlos ein. Robert habe ich nie wiedergesehen, ebensowenig die übrigen vom Lagerfeuer. Auch konnte ich mich in der neuen Situation nicht bewähren, denn wir wurden in derselbigen Nacht allesamt von einem Spähtrupp General Custers im Schlaf erschlagen.[10]

 

Noch ein Beispiel von Franz Kafka. Diesen ‹Aufruf› lesen wir in einem der Prosafragmente:

 

An alle meine Hausgenossen.

Ich besitze fünf Kindergewehre, sie hängen in meinem Kasten, an jedem Haken eines. Das erste gehört mir, zu den andern kann sich melden wer will, melden sich mehr als vier, so müssen die überzähligen ihre eigenen Gewehre mitbringen und in meinem Kasten deponieren. Denn Einheitlichkeit muß sein, ohne Einheitlichkeit kommen wir nicht vorwärts. Übrigens habe ich nur Gewehre, die zu sonstiger Verwendung ganz unbrauchbar sind, der Mechanismus ist verdorben, der Pfropfen abgerissen, nur die Hähne knacken noch. Es wird also nicht schwer sein, nötigenfalls noch weitere solche Gewehre zu beschaffen.[11]

 

Traugott Neimann, der Held in Eugen Egners Roman ‹Der Universums-Stulp› von 1993, sieht sich auf dem Höhepunkt der Handlung ebenfalls gezwungen, zu den Waffen zu greifen. «Instinktiv», heißt es dort, «dachte Neimann an die Waffen, die er als Kind besessen hatte: an seinen Aluminium-Tomahawk, der Schocks und Ohnmachten verursachen konnte, und an den legendären Puppy-Revolver. Letzterer war einfach nicht leerzuschießen und traf unter allen Umständen sein Ziel.»[12] Neimann macht sogar eine Zeitreise zurück in die Kindheit, um diese Waffen zu besorgen, dabei geht irgend etwas gründlich schief: Neimann kommt zu spät an und wird von der Mutter erwischt. Die Waffen hat sie weggeschlossen, Neimann erhält sie erst, als er «den Herrn Pastor mit Kniefall und Handkuß» ehrt. Ich zitiere noch, wie es weitergeht:

 

Als nächstes wurde das «stubensieche, schwache» Kind eingeschult. Sein Kopf wurde in den ledernen Schlingen eines eisernen Kreuzes befestigt. An dem eisernen Kreuz war eine Rolle angebracht, über welche eine Leine lief, die weiterhin über zwei an der Zimmerdecke angeschraubte Rollen ging. Die Enden der Leine waren mit Handgriffen versehen. An diesen zogen die Pädagogen je nach Erfordernissen des Lehrplans. Tag für Tag rollte Traugott an der Leine von Klassenzimmer zu Klassenzimmer. [13]

 

Wir können ihm auf seinem weiteren Bildungsweg hier nicht folgen, denn mein Beitrag ist an sein Ende gelangt, und ein uralter Brauch verlangt an dieser Stelle nun so etwas wie ein Resümee. Ich möchte statt dessen lieber noch aus einem anderen Text Eugen Egners zitieren, einfach, weil es sich um einen meiner Lieblingstexte handelt; er trägt den Titel ‹Wir brauchen Motoren, wir bauen sie selbst›. Wer will, kann aber in den beiden Ausschnitten, die ich ausgewählt habe, ebenjene drei Merkmale wiederfinden, mit denen ich das Wesen der Groteske darzulegen versucht habe:

 

1. das Wunderbare oder einfacher das Phantastische, das ausschließlich auf der Folie alltäglicher Erscheinungen Gestalt annimmt und so komisch gebrochen wird (hier handelt es sich um die Gestalt eines Automobils, und eine alltäglichere Erscheinung läßt sich wohl kaum denken);

 

2. die Welterfindung, die mit der Texterfindung in der Art eines Gedankenspiels einhergeht (diese Welterfindung wird hier einmal mehr unmittelbar zum Thema: ein Auto wird gebraucht, also wird es erfunden);und –

 

3. die daraus resultierende komische Überhöhung disparater Realien (Realien unter anderem auch aus dem eben erwähnten Spezialfundus, der Abteilung für Kinderkram). Also aufgemerkt:

 

(Der Erfinder des Motorengeräusches erinnert sich)

Am Anfang standen die Arbeiter ratlos in der Fabrikationshalle herum. Niemand vermochte ein Automobil herzustellen. Blinder Aktionismus, konfuse Pseudo-Planung, aber keine Motoren.

«Bei Mutter betteln wir um eine Stricknadel mit Kopf», hörte ich sagen, und: «Dann besorgen wir uns einen Metallstreifen!»

«So!» sagte ich und hieb ihnen den Bauplan eines Mittelklasse-PKW hin. «Nun sehen wir uns die Zeichnung an, damit wir wenigstens wissen, was wir bauen wollen.»

Das half. Mit diesem Wissen belastet, konnten die Menschen schon ein komplettes Auto bauen. Ich wagte angesichts dessen, was sich nach ein paar Tagen abzeichnete, eine Prognose: «Unser Motörchen wird nicht sehr kräftig sein, aber es macht durch sein eifriges Arbeiten Freude.»

(...) Ich eröffnete den Betrieb in unserer Motorenbauanstalt mit der Herstellung des Luxusklasse-Personenkraftwagens Landpfleger-Dickkopf. Den abergläubischen Arbeitern hämmerte ich in ihre Schädel:

«Dies ist eine kleine Kraftmaschine, die durch die Erde selbst angetrieben wird. Rätselhaft, nicht wahr? Und doch klingt’s nur so gelehrt, während es in Wahrheit eine alltägliche Erscheinung ist. Ein Wunder aber trotzdem!»[14] ¶

 

 

<Vortrag, gehalten in der Alten Universität Marburg, 11. 1. 1996, im Rahmen der ‹Marburger Komik-Tage›. Erschienen in: Nils Folckers, Wilhelm Solms (Hg.), Risiken und Nebenwirkungen. Komik in Deutschland, Berlin: Edition Tiamat 1996>

 

 



[1] In: Eugen Egner, Als der Weihnachtsmann eine Frau war und andere erstaunliche Geschichten, Zürich: Haffmans 1992, S. 62-64.

[2] In: Ilse Aichinger, Eliza Eliza. Erzählungen (1958 – 1968), Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch 1991, S. 93.

[3] A. a. O., S. 131 und 134.

[4] Wolfgang Preisendanz, Humor als dichterische Einbildungskraft, München: Wilhelm Fink 1963, S. 109.

[5] Victor Erlich, zit. n. Ludmilla A. Foster, Gestaltung des Nichtabsoluten. Struktur und Wesen der Groteske, in: Otto F. Best (Hg.), Das Groteske in der Dichtung, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980, S. 207.

[6] In: Der Rabe. Magazin für jede Art von Literatur, Nr. 39, Zürich: Haffmans 1994, S. 110. Wiederabdruck in: Eugen Egner, Die Durchführung des Luftraums. Neue Kurzprosa, Frankfurt a. M.: Zweitausendeins 2002.

[7] Aus dem Tagebuch eines Trinkers – Das letzte Jahr, Zürich: Haffmans 1991.

[8] Max Brod, Über Franz Kafka, Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch 1974, S. 37 und 41.

[9] Franz Kafka, Drucke zu Lebzeiten, hg. von Hans-Gerd Koch u. a., Frankfurt a. M.: S. Fischer 1994, S. 32 f.

[10] In: Eugen Egner, Als der Weihnachtsmann eine Frau war und andere erstaunliche Geschichten, S. 56 f.

[11] Franz Kafka, Nachgelassene Schriften und Fragmente I, hg. von Malcolm Pasley, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1993, S. 329.

[12] Eugen Egner, Der Universums-Stulp, Zürich: Haffmans 1993, S. 73.

[13] Der Universums-Stulp, S. 82.

[14] Eugen Egner, Wir brauchen Motoren, wir bauen sie selbst, Kassel: Edition EE&ff 1994. Wiederabdruck in: Eugen Egner, Die Traumdüse. Kurze Texte und Kolumnen, Bellheim: kuk / Edition Phantasia 2009.

Eugen Egner, Illustration zur Erzählung ‹Das Erlebnis›
Eugen Egner, Illustration zur Erzählung ‹Das Erlebnis›