Fritz Mauthner Beiträge zu einer Kritik der Sprache (3)

 

Die ewige Vermessenheit der Abstraktion, welche über die Wirklichkeit herrschen will, die Unverschämtheit der Regel, welche mehr sein will als die Einzelfälle, auf welche sie sich ordnend bezieht. Die Regel ist nichts als ein kurzer Ausdruck für den Sprachgebrauch; nachdem sie jedoch in eine Formel gefaßt ist, will sie den Sprachgebrauch, den sie nur aussprechen sollte, ändern. Es ist wie auf allen Gebieten des Handelns. Hat man durch ein Wort ausgedrückt, was ist, so möchte das Wort sofort ein Sollen sein. 

 

Unsere Sprache ist ebenso unfähig, die Passivität unserer Sinne auszudrücken, wie die Passivität unserer Willensakte. ¶

 

«Apollo schießt die Pestpfeile, Poseidon regt das Meer auf, die Parze hat diesen Menschen getötet, das Wasser treibt das Mühlrad.» Heute sucht man hinter den transitiven Verben nicht mehr eine Gottheit, wohl aber einen nackteren Fetisch, den Kraftbegriff. ¶

 

Das geschriebene Wort ist ein sichtbares Zeichen für das gesprochene Wort Apfel, welches wieder nur ein hörbares Erinnerungszeichen für einen Begriff ist, in dem sich hunderte von mehr oder weniger ähnlichen Arten und von Milliarden gewesener, gegenwärtiger und zukünftiger, großer und kleiner, süßer und saurer Äpfel unklar vereinigen. Aber auch dieses hier vorhandene Apfelindividuum, das deine Hand wägt und als glatt und rund empfindet, das deine Nase riecht, dein Gaumen schmeckt und dessen rote Backe dein Auge sieht, ist dir als Ding, als etwas außer dir vollkommen unbekannt, es ist nichts als die älteste und allgemeinste Hypothese der Menschheit, die Hypothese der einheitlichen Ursache gleichzeitiger Wahrnehmungen. Wir nennen die angenommene Ursache gleichzeitiger Wahrnehmungen ein Ding; und wir nennen die regelmäßig vorangehenden Wahrnehmungen eine Ursache der Folgen. Wir wissen von diesem Apfel da nichts als die gleichzeitigen Empfindungen in der Hand, im Auge, am Gaumen und an der Nasenschleimhaut. Ein geschickter Mechaniker oder Taschenspieler, welcher uns durch verschiedene Ursachen gleichzeitig alle dies Empfindungen vermitteln würde, könnte wirklich einen Apfel künstlich erzeugen. Um das Äußerste über die Kategorienverwirrung zu sagen: wie das Verbum, als ohne Zweck unvorstellbar, immer etwas vom Futurum hat, so das Dingwort, als Ursache von Empfindungen, immer etwas vom Perfektum. ¶

 

Womöglich noch unfaßbarer wird der Dingbegriff für den philosophischen Physiker. Ernst Mach hat prachtvoll gezeigt: «Was wir Materie nennen, ist ein gewisser gesetzmäßiger Zusammenhang der Empfindungen.» ¶

 

Unsere ganze Weltanschauung wäre einheitlicher, wenn unsere Sprache sich gewöhnen wollte, die Hypothese der Ursache, die Wirkung der Dinge aufeinander, auch bezüglich unseres Denkens auszudrücken. Seit jeher sieht der Mensch die Dinge untereinander als Ursachen von Wirkungen an und drückt es auch so aus. Die Sonne wärmt den Stein, das Schaf frißt das Kraut. Aber mit demselben Hochmut, mit der er durch ungezählte Jahrtausende die Erde für den Drehpunkt der Sonne gehalten hat, weigert sich der Mensch, seine Sinne als das Spielzeug der Dinge sprachlich anzuerkennen, trotzdem er bis vor kurzem gar nicht wußte, daß die Zufallssinne (oder vielmehr die Gehirnzentren) auch aktiv, daß die Zufallssinne des Menschen ein lebendiges Spielzeug sind. Wenn ich mit der Katze spiele, spielt vielleicht die Katze mit mir (Montaigne II. 12). Der Mensch will nicht begreifen, daß die Welt, weil sie stärker ist, die Spielregeln stellt. Und doch würde er dadurch erst recht zum Mittelpunkt der Welt, freilich nur jeder einzelne zum Mittelpunkt seiner eigenen kleinen Welt. ¶

 

Das natürliche Denken möchte immer sagen, die Dinge selbst seien süß oder weiß; es gehört eine erkenntnistheoretische Überlegung dazu, auch diese Eigenschaften schon als subjektiv zu erkennen. Nichts auf der Welt wäre weiß, gäbe es keine Augen, nichts auf der Welt wäre süß, hätten wir keine Geschmacksorgane. Daß der weißen Farbe im Gegensatz zu anderen Farben ein bestimmtes objektives Verhältnis zugrunde liegt, ebenso dem süßen Geschmack, das geht uns hier nichts an; erstens wissen wir unendlich wenig von der objektiven, meinetwegen substantivischen Grundlage der Eigenschaften, und zweitens würden auch bei vollständiger Kenntnis der Ursachen alle Eigenschaften doch Eigenschaften bleiben, das heißt Urteile über die Wirkungen, welche diese Ursachen in unseren Sinnesorganen hervorbringen. ¶

 

Wenn oben gesagt wurde, daß die Zahlen unwirklich sind, die Größenverhältnisse aber wirklich, so war das eben nur mit den Mitteln der Sprache ausgedrückt. Es ist in der Natur etwas Wirkliches, was den Größenverhältnissen entspricht; in der Natur selbst können es aber keine Verhältnisse sein, weil diese erst durch Vergleichung, also durch Verstandestätigkeit entstehen. ¶

 

Die Einheit ist ein viel brauchbarer Begriff als die Vielheit, aber aus der Wirklichkeitswelt genommen ist auch sie nicht. Genau betrachtet gibt es auf der ganzen Welt für jeden Menschen nur einzige Einheit, die Einheit seines Bewußtseins, und wenn man diese Einheit analysiert, so bleibt auch da an Stelle der diskreten Einheit nur die Kontinuität des Bewußtseins bestehen. Wo immer wir sonst von einer Einheit ausgehen, da handelt es sich nur um eine Konzentration unseres Interesses, also um einen vorübergehenden Gesichtspunkt unseres Bewußtseins. Die Eins ist noch keine Zahl, sondern nur der Grenzbegriff des Zählens. Die Zwei ist die erste wirkliche Zahl. ¶

 

Wir erraten den Sinn der Wort – richtig oder falsch – nach unserer Erfahrung, wir erraten den Sinn der Tätigkeiten – richtig oder falsch – nach unserem Zweckmäßigkeitsbegriff, nach einem Interesse, wir erraten den Sinn des Naturgeschehens metaphorisch durch den Begriff der Ursache, den wir interessiert in das Geschehen hineinlegen. ¶

 

Die Regeln der Logik und Grammatik haben mit dem Organismus des Denkens noch viel weniger zu tun als der Bast, durch welchen eine Pflanze an ihren Stock angebunden wird, mit dem Organismus der Pflanze. ¶

 

Der Drang, sich durch starke Betonung verständlich zu machen, ist tief in uns eingewurzelt. Es sind nicht nur ungebildete Menschen, welche sich einem Ausländer, der kein Wort ihrer Sprache versteht, verständlicher zu machen glauben, wenn sie heftig schreien. ¶

 

Es gibt keine allgemeine Grammatik, geschweige denn eine philosophische Grammatik. Ich habe mir irgendwo einen Narren erfunden, der sich mit einem Stadtplane von Königsberg in München zurechtfinden wollte. In den Geisteswissenschaften gibt es so etwas. Warum sollte man nicht einen allgemeinen, einen philosophischen Städteplan entwerfen? Jede Straße mündet in eine andere. Abgesehen von den Ausnahmen. Über den Fluß führt am Ende der Straße eine Brücke. Abgesehen von den Ausnahmen. Der arme Teufel, der sich nach einem solchen philosophischen Städteplan richten wollte, wäre so weise wie der Schüler einer philosophischen Grammatik. ¶

 

*

 

Wenn man bedenkt, daß die drei obersten Grundsätze der Logik, der Grundsatz vom Widerspruch, von der Identität und vom ausgeschlossenen Dritten, eigentlich nur verschiedene Formulierungen des ersten Grundsatzes sind, daß ferner dieser erste Grund vom Widerspruch (was ist, das kann nicht zu gleicher Zeit nicht sein, kann nicht verneint werden) womöglich noch weniger besagt als eine Tautologie, daß endlich aus dieser absoluten Null des Denkes alle die schönen Denkgesetze hervorgegangen sein sollen, so möchte man beinahe a priori, also rein logisch zu dem Ergebnis kommen, daß die Logik für das Denken nicht mehr bedeute, als die Linien der Meridiane und Breitengrade für das Leben auf der Erde, ein schattenhaftes Netzwerk, von dem die Fauna und Flora nichts wissen, trotzdem sie danach eingeteilt werden. Nur der Schüler sieht dieses Netzwerk gröblich auf seinem Globus.

Wir wollen also festhalten, daß die Logik auf dem Satz vom Widerspruch ruht, Widerspruch aber nur in Worten existiert. ¶

 

Wir denkenden Menschen begehen oft den Fehler zu meinen oder wenigstens zu sagen, der Stein falle nach diesen Gesetzen [den «Fallgesetzen»], das heißt doch wohl, der Fall sei die Folge der Gesetze. Aber die Gesetze sind doch nur das Spätere, die Formel. Als Gehirn denken wir das Spätere, die Formel, als Körper tun war das Frühere. Wir fallen und sind schwer. ¶

 

Die uralte Annahme, daß wir unsere Begriffe oder Wort von den Dingen «abstrahieren», ist grundfalsch. Wenn der Begriff «Baum» so gebildet würde, daß ich z. B. von allen Bäumen, die ich je gesehen habe, dasjenige abziehe, abstrahiere, fortlasse, was jedem Baum individuell ist, so würde als platonische Idee, als Begriff «Baum» etwas völlig Leeres übrig bleiben, der Schatten eines Hohlgefäßes. Der Weg ist gerade der umgekehrte. Zuerst mag der Begriff «Baum» oft eine Art Eigenname sein. Der große Nußbaum z. B., der allein und einsam hinter dem Hause des Onkels stand, war mir Baum. Dann kam es, daß ich hörte, daß auch Tannen, Kirschen, Föhren usw. Bäume genannt wurden. ¶

 

Wie billige fertige Kleider aus einem Konfektionsgeschäft, so passen die Worte oder Begriffe auf die Dinge ihres Umfangs. A peu près. Oder wie die Uniform einem Regiment Soldaten. Von weitem sieht es ja nach etwas aus; aber jeder einzelne Kerl ist schlecht eingekleidet. Auch die fertigen Wort passen niemals. ¶

 

Darum gilt auch der Identitätssatz «A gleich A» nur für die Idealwelt der mathematischen Wirklichkeit, die wir nicht kennen und nicht aussprechen können; in der Welt der Sprache, das heißt in der Welt der Seele ist A niemals ganz genau A. Wenn wir sprechen und das Wort «Baum» gebrauchen oder das Wort «Mensch», so ist das Wort immer da sofort unzuverlässig, wo wir etwas aus «A gleich A» schließen wollen. Wenn wir wissen wollen, ob eine totgeborene Menschenfrucht ohne Kopf, «ein Mensch» sei, das heißt heißen «dürfe» oder nicht, so fängt der Begriff sofort zu pendeln an und nicht von der Bedeutung hängt unsere Entscheidung ab, sondern von der Entscheidung die Bedeutung. Nicht der Schluß folgt aus der Definition, nein die Definition folgt innerlich dem Schluß, den wir ziehen wollen. So kann im Denken recht gut der Satz möglich werden: A = A – b, wobei b eine diskrete Größe ist. Wenn ein Zwischenglied zwischen Mensch und Affe gefunden würde, der Anthropopithekus, so könnte er recht gut ein Mensch genannt werden, ein Mensch ohne Sprache, A – b.

 

Alle diese uralten Streitigkeiten über das, was etwas ist, werden natürlich sinnlos, wenn man richtig fragt, wie etwas heiße. Und die tiefsten philosophischen Fragen würde herabsinken zu Fragen des Sprachgebrauches.

 

Dabei darf nie vergessen werden, daß Seele, Bewußtsein nichts ist als unser bescheidenes Gedächtnis, daß also die merkwürdigste Eigenschaft unserer Wort, ihre große Bequemlichkeit, leicht zu erklären ist. In der Seele ist nicht nur oft A = A – b, sondern es ist alltäglich, daß wir in der «Seele» A = – A setzen können. Denn das ist es doch, wenn ich weiß oder sage, daß diese Scherben gleich seien dem vorhin in der Hand gehaltenen Topf. Die Scherben sind aus dem Topfe «geworden». Die Blume «wird» aus dem Samen, das Leben aus dem Tode, der Tod aus dem Leben. Die Kopula «wird», die A und – A bindet, wäre ebenso wie die Kopula «ist» besser durch «heißt» zu ersetzen. ¶

 

In die formale Logik kann ein Begriff eigentlich erst eingehen, wenn er vorher abstrakt geworden ist ... Man könnte die Sache auch so ausdrücken: alle logische Deduktion wäre richtig, wenn auch nicht gerade fördernd, falls die Begriffe durch eine vollständige Induktion entstanden wären; aber eine vollständige Induktion gibt es nicht. ¶

 

Einzeldinge und Eigennamen sind etwas vor der Sprache. ¶

 

Die Unklarheit, welche jedem Wortzeichen anhaftet im Verhältnis zur Anschauung, steigert sich mit der Zahl der Anschauungen und der Stufenreihe der Anschauungsgruppen, die das Wort bezeichnen soll. An dem einen Ende ruht die Einzelvorstellung, die vor der Sprache ist, an dem anderen Ende gähnt der Abgrund der allgemeinsten Begriffe oder Kategorien, die jenseits der Sprache liegen und nur mißbräuchlich von künstlichen Worten mythologisch vorgestellt werden; zwischen diesen beiden Enden schwebt die menschliche Sprache über der Wirklichkeitswelt wie ein Nebelduft, verschönernd und die Grenzen auflösend. ¶

 

... so kann und wird der neue Weisheit letzter Schluß nur ein neues Wort sein, ein neuer Begriff, der wiedergibt, was er geborgt bekommen hat. ¶

 

... denn die Wirklichkeit spricht nicht wie die Menschen, nicht in Worten, sondern rebus, in Dingen. ¶

 

Man achte wohl darauf, daß wir die Definition als eine reine Tautologie erkannt haben, eine Tautologie, die nur den Wert hat, unserer Aufmerksamkeit bequeme Merkzeichen zu bieten ... Entweder ich gehe vom Angeschauten aus und sage: «Das da ist Wasser», oder ich gehe vom fertigen Begriffe aus und sage: «Wasser ist flüssig.» Das erste Mal ist die Denktätigkeit so minimal, daß es für gewöhnlich nicht einmal bis zum sprachlichen Ausdrucke kommt; nur wenn ein Zweifel vorhergegangen ist, pflegt so etwas besonders in Worten gedacht oder gesagt zu werden. Das zweite Mal liegt die Tautologie auf der Hand; denn wer «Wasser» denkt, denkt die Eigenschaft «flüssig» schon mit. Und so sehr hinkt die Sprache der Erkenntnis nach, daß sie noch wie in Urzeiten für gefrorenes und für gasförmiges Wasser völlig irrationale Worte hat, «Eis» und «Dampf», während unsere Kenntnisse verlangen würden, daß sich in den Worten die Identität der Substanz irgendwie ausspräche. ¶

 

Es gibt weder eine absolute Identität der Objekte, noch eine des Ichs. Ich war vielleicht vor zwanzig Jahren leichtsinnig und bin jetzt geizig. Ich war vielleicht ... Doch wozu das Bekannte wiederholen. Vor zwanzig Jahren war mir der Satz: «Ich spreche hier von Berlin mündlich mit meinem Bruder in Wien» – da war mir dieser Satz ein unmögliches Urteil. Jetzt ist er alltägliche Wahrheit. Es braucht sich aber nicht um so krasse Fälle zu handeln. Unaufhörlich wechseln die Objekte ihre Eigenschaften, unaufhörlich wechseln meine Begriffe ihren Umfang und damit leise fließend ihren Inhalt. Während ich den Satz ausspreche oder denke oder höre: «Metall ist schwer«, fällt mir ein, daß unter «Metall» heute weit mehr Elemente verstanden werden als zu meiner Schulzeit, daß «schwer» ein relativer Begriff ist und daß einzelne Metalle leichter sind als Wasser, und wie mir das einfällt, zum erstenmal vielleicht ins Bewußtsein fällt, wird eben durch das Denken und im Denken dieses Satzes die Fülle meines Bewußtseins vergrößert, mein Ich verändert, und der den Satz zu Ende spricht, ist ein anderer, als der ihn angefangen. ¶

 

Ein konstantes Wort für einen konstanten Begriff gibt es so wenig wie eine mathematische Linie. ¶

 

Eine Mutter wurde von einem vierjährigen Mädchen gefragt, warum sie weine. «Ich habe Grund», antwortete sie und glaubt wahrscheinlich etwas zu sagen. Also glaubte auch das Kind etwas zu hören und wußte von der Zeit an, «Grund» sei etwas Schmerzhaftes, etwas wie eine Krankheit. Und noch jahrelang, wenn die Mutter ein betrübtes Gesicht macht, fragte das gute Kind: «Hast du wieder Grund?»

Die Abstrakta unserer Sprache sehen diesem kindlichen Grunde zum Verwechseln ähnlich. Ich habe Rheumatismus, ich habe Reue, ich habe Leibweh, ich habe Kummer, ich habe Glauben und alle ähnlichen Wendungen enthalten irgendwo versteckt die liebe Dummheit: «Ich habe Grund.» ¶

 

Ich glaube meinen Gedanken am besten versinnlichen zu können, wenn ich in einer ungeheuerlichen Phantasie (die aber als Vorstellung von Gott ganz alltäglich und gemein ist) ein Wesen annehme, das mit Allwissenheit ausgestattet das Größte und Kleinste der Wirklichkeit genau kennt und diese unendliche Kenntnis auch gegenwärtig hat. Ich lasse dabei dahingestellt, ob man diese Allwissenheit noch Wissen nennen könnte, ob diese Allwissenheit nicht vielmehr, da sie neben dem unendlich vielen «Einzelnen» die Allgemeinbegriffe gar nicht brauchen könnte, eher die «Wirklichkeit» selber wäre. Für dieses allwissende Wesen nun wäre, wie mir scheint, zwischen Wirkung und Zeitfolge ganz und gar kein Unterschied. Wäre ich z. B. dieses allwissende Wesen, so würde für mich Wirkung und Zeitfolge in dem einen Begriff der Notwendigkeit zusammenfließen. Hätte ich z. B. in diesem Augenblick alle Luft- und Windverhältnisse der ganzen Erde, dazu alle Wärme- und Feuchtigkeitsverhältnisse und alle Höhenunterschiede, so hätte ich auch alle meteorologische Erscheinungen des nächsten Augenblicks als Notwendigkeit gegenwärtig und wüßte nicht zu sagen, ob der zweite Augenblick aus dem ersten als Zeitfolge oder als Wirkung hervorgehe. Hätte ich in diesem Augenblick das Weltganze vollkommen gegenwärtig, das heißt noch vielmehr ins Einzelne gegenwärtig als der Naturforscher etwa ein tierisches Gewebe unter der tausendfachen Vergrößerung seines Mikroskopes sieht, dürfte ich in diesem Augenblick das Weltganze noch unendliche genauer überschauen, das Jagen und Wirbeln der Sonnen, der Planeten und Meteorsteine, das Glühen und Brodeln im Innern der Erde, das Schrumpfen und Stoßen der Erdrinde, das Haschen und Fliehen ihrer chemischen Elemente, das Drängen und Weichen ihrer Atome, das Peitschen und Blitzen und Donnern ihrer elektrischen Bewegungen, das Werden und Sterben des Lebendigen und dazu die ererbten und gewohnten Gleise aller Gehirne: wahrhaftig, wir wäre der Weltzustand des nächsten Augenblicks nicht weniger gewiß und nicht anders gewiß, als mir die nächste Sekunden in der Zeitfolge gewiß ist.

 

Aus solchen Phantasien heraus mögen so große Denker wie Hume und Kant zu ihren großen Irrtümern gekommen sein; Hume glaubte alle Wirkung auf die Zeitfolge zurückführen zu können, Kant doch wohl alle Zeitfolge auf eine Wirkung, auf die Wirkung des menschlichen Verstandes; uns bestärkt die vorgebrachte Phantasie in der Resignation, weder das Wesen der Wirkung, noch das der Zeitfolge zu kennen und nur zu ahnen, daß sie zwei menschliche Worte für dieselbe übermenschliche Tatsache sind. Vielleicht ist der Weltzustand des Augenblicks der Raum, und die Änderung, die der Weltzustand des nächsten Augenblicks heißt, nur die Bewegung des Raums in der vierten Dimension, der Zeit. Und vielleicht ist diese tiefsinnige Betrachtung nur eine Reihe klingender Worte, und es wäre wertvoller, ein Weizenkorn zu düngen, als solche Betrachtungen anzustellen.

 

Eines aber kann die Skepsis nicht überschreien, die Entdeckung nämlich, daß in dieser undurchbrechlichen Kette der Notwendigkeit, mag sie nun Wirkung oder Zeitfolge heißen, weder die menschliche Sprache, noch die Erscheinung einer logischen Folge irgend welchen Platz habe. Man muß es sich so klar wie möglich machen, daß jene phantastische Allwissenheit alle Dinge zugleich wüßte, also unmöglich daneben noch Begriffe oder Worte von ihnen haben könnte, daß jene Allwissenheit ebenso alle Änderungen und Bewegungen zugleich wüßte, also unmöglich daneben noch ihre hübschen Klassifikationen besitzen könnte, die sogenannten Naturgesetze. Die Allwissenheit hätte also weder Sprache noch Wissenschaft; natürlich, sie wäre ja die stille Natur selbst. Die Allwissenheit besäße Notwendigkeit, Gesetzmäßigkeit wüßte sie nicht, weil Gesetzmäßigkeit im All nicht ist. ¶

 

Der Naturforscher entdeckt unter dem Mikroskop einen Organismus, der ihm bald unter die Definition des Tieres, bald unter die der Pflanze zu fallen scheint. Nach dem Satze vom Widerspruch dürfte der Forscher nicht zugleich sagen dürfen: diese Amöbe z. B. ist ein Tier, ist eine Pflanze. Er sagt es aber. Und nach dem Grundsatz vom ausgeschlossenen Dritten müßte er sagen: diese Amöbe gehört ohne Gnade entweder zum Tierreich oder zum Pflanzenreich. Das sagt er aber nicht, wenn er nur Haeckel ist, sondern kommt mehr oder weniger klar zu der Überzeugung, daß Tier und Pflanze nur fließende, konträre Gegensätze sind, daß es ein Drittes zwischen ihnen gibt, wenn die Sprache das auch bisher noch nicht gewußt hat. Er wird also infolge dieser Erkenntnis oder Beobachtung für dieses Dritte einen neuen Begriff, ein neues Wort erfinden und über, unter oder zwischen dem Tier- und Pflanzenreich ein neues Reich aufstellen, das der Protisten. Damit werden sich die obersten Denkgesetze wieder eine Weile beruhigen, bis zur nächsten sprachschöpferischen Beobachtung. ¶

 

Alle Wunder – soweit sie nicht Sinnestäuschungen oder Betrügereien waren – sind ein Verwundern über die Ungenauigkeit der Sprache gewesen. ¶

 

Alles Denken ist psychologisch, logisch ist nur das Schema unseres Denkens. ¶

 

Hätte Kant die Klangfiguren der Sprache durchschaut, so hätte er auf seinem Wege schon damals zu der Erkenntnis kommen müssen: unser gesamtes Denken sei unlogisch, sei nur Sprache und Erinnerung an Sinneseindrücke, alle Denkoperationen seien nur eine aufmerksame Besinnung innerhalb unserer Erinnerung. ¶

 

Es gibt in der Wirklichkeitswelt keine Negation; die Logik nur, weil sie mißverstandene Grammatik ist, muß sich damit abquälen. ¶

 

Die alte Lehre, daß unser Denken auf dem Wege von logischen Denkoperationen aus künstlich gruppierten Urteilen neue Urteile erschließe, ist nicht mehr zu halten. Es ist endlich an der Zeit, daß sie umgestürzt werde, nicht nur in einzelnen Teilen, sondern von Grund aus. Der Begriff «Schluß» ist für uns ein sinnloses Wort geworden, ein geträumtes Dach für ein Haus, das keine Wände hat. ¶

 

Hätte Aristoteles gewußt, daß die bewohnte Menschenerde ein Planet sei, so hätte er ganz gewiß den lächerlichen Induktionsschluß gezogen, auch die übrigen Planeten seien von Menschen bewohnt. Und dieser lächerliche Induktionsschluß wird heute noch von allen denen gezogen, welche behaupten, der Mars sei von Menschen bewohnt.

 

Die Gelehrten aber, welche diese Behauptung nicht geradezu aufstellen, welche aber doch die Frage zu beantworten suchen, unterliegen demjenigen, was das Wesen der Induktion ausmacht: der Verführung zu einer Erwartung, einer Verführung durch Wunsch, nicht durch «Schließen».¶

 

Wir denken nicht in Urteilen, sondern in Begriffen; Begriffe (wohl freilich Worte) sind ihrem Wesen nach weder negativ noch partikular. ¶

 

Wenn die Wellen des Meeres turmhoch gegen die Felsenufer schlagen und im Laufe der Jahrhunderte langsam die verwitterten Teilchen von den glatten Felsenwänden in das Meer hinunterspülen, so wird die Felsenwand die Welle definieren als ein böses Ding, welches sie beraubt, der Meeresboden wird dieselbe Welle definieren als ein gutes Ding, welches ihn beschenkt. Die Welle selbst wird sich für eine Welle halten. Jedes einzelne Wasserteilchen wird von einer Welle nichts wissen. Kein Menschengeist kann sagen, ob er sich da mit der Welle oder mit dem Wassermolekel, mit der Felsenwand oder mit dem Meeresgrund vergleichen kann. ¶

 

Der schöne Irrtum unserer Ideologen von Kant bis Schopenhauer bestand darin, daß sie ihre titanenhafte Sehnsucht nach einer Vollendung der Welterkenntnis wirklich für eine Vermehrung der Erkenntnis hielten; es waren gewaltige Dichter, die im Lande ihrer Sehnsucht zu Hause waren, sich ihr Gefühl nicht verwirren ließen und irgend ein leuchtendes Bild, unter welchem sie sich die Wirklichkeitswelt symbolisierten, schließlich für wahre Wirklichkeit nahmen. Wie der junge Chemiker die Metapher von der Wahlverwandtschaft erlernt, um nachher die Metapher für eine genügende Erklärung zu halten, so glaubten Hegel und Schopenhauer an ihre Metaphern von der Begriffsbewegung und vom Willen. Was der hundertjährigen Herrschaft der deutschen Philosophie zugrunde liegt, das ist die ganz richtige Ahnung, es sei der menschliche Verstand ein dummer Kerl und die Welterkenntnis müsse sich über die Kenntnisse des Verstandes erheben. ¶

 

... daß alle unsere Naturerkenntnis Naturbeschreibung bleiben muß, daß das Gedächtnis der Menschheit oder die Sprache niemals über adjektivische Merkmale, das heißt über bildliche Vergleichung der Dinge hinausgelangen kann. ¶

 

So würde ich sagen: jeder neue technische Ausdruck sei eigentlich nur beschreibend, nur Adjektiv; daß man ihn als Substantiv gebrauche, sei schon der Anfang seines Mißbrauchs. Die Menschensprache wäre philosophischer, wenn sie überhaupt keine Substantive besäße. ¶

 

Unser ganzes Denken ist vielleicht nur mit dem elenden Tropfen Öl zu vergleichen, mit dem die Maschine sich automatisch schmiert, damit alles glatter geht. Und wie uns in schweren Stunden aufreibender Gedankenarbeit der ganze Materialismus als ein gemeiner Traum erscheint, so kann auch das Wortgebäude unseres Denkens am Ende doch im Sinne anderer Menschen der unruhige Traum der Materie sein.

Der Rest ist Zweifel. Nur wer an etwas glaubt, z. B. an den Wert der Worte, könnte Verzweiflung sagen. ¶

 

Aus der Geschichte des Materialismus ist nichts so belehrend wie die Geschichte des Atombegriffs. Es liegt im Wesen des menschlichen Verstandes, zu diesem Scheinbegriff zu gelangen. Das Kind zerlegt sein Spielzeug und fängt nachher zu weinen an. Der philosophische Mensch zerlegt die Dinge so lange, bis nur Stoff übrig bleibt, dann zerlegt er den Stoff, solange er kann; ist er fertig geworden, so schreit er «Atom» ... Nach wie vor sind die Atome ein sprachlicher Ausdruck für die Grenze unserer Sinneswahrnehmung. ¶

 

Unsere Vorstellung vom Körperlichen ist uns seit Jahrtausenden so geläufig geworden, daß wir uns immer noch, trotzdem die Körperwelt in ein Spiel von Kräften aufgelöst worden ist, die Kräfte als an etwas extra Körperliches angebunden vorstellen. Und es ist eigentlich völlig gleich, ob wir das: «Etwas» oder «ein Körperliches» nennen. Das Wort, an welchem wir uns ein Abstraktum von allen Körpern vorstellen oder vielmehr ein Bild, ist Materie oder Stoff oder Etwas, und dieses Etwas ist für den Materialismus das Ding-an-sich, der unendliche Stoff, das Körperliche, das verborgene Pferd, welches der Bauer in der Dampfmaschine vermutet, wie Friedrich Lange einmal gesagt hat. ¶

 

Wir suchen die Gesetze in der Natur, erblicken also in der Natur und Gesetz keinen Gegensatz. Die Alten stellten – immer bildlich – der Natur einen äußeren Gesetzgeber gegenüber. Der Fortgang des Denkens führte im Mittelalter dazu, daß das Bildliche aus dem Begriff Gesetz so oder so verschwinden mußte ... Dieser Fortgang der Weltanschauung also, der christliche, vernichtete das Bild vom Gesetz dadurch, daß er das Gesetz für Wirklichkeit hielt. ¶

 

Wir aber wissen es: daß die Einzelerscheinungen sich zu ihren sogenannten Gesetzen ebenso verhalten wie unsere Einzelwahrnehmungen zu unseren Begriffen. Sowenig unsere Einzelwahrnehmungen die Wirkungen oder die Folgen von ihrem Begriffe sind, sowenig gehen die Erscheinungen aus den Gesetzen hervor. Nicht die Gesetze gehen voraus, sondern die Tatsachen. Nicht die Tatsachen gründen sich auf Gesetze, sondern die Bequemlichkeit unseres Denkens gründet Gesetze auf Tatsachen, wie sie Begriffe auf Wahrnehmungen gründet. Die Gesetze sind nicht das Vorausgehende, sondern das Nachkommende. Und das einzig und allein in unserem Gehirn. ¶

 

In dem Begriffe eines Gesetzes ist immer eine heimliche Absicht versteckt. ¶

 

Der Begriff der Notwendigkeit wiederum, das heißt die etwa seit dreihundert Jahren aufgekommene Überzeugung, daß alles auf der Welt ohne Ausnahme auf einen zureichenden Grund und dieser wieder auf eine andere Ursache und so ins Unendliche zurückzuführen sei, dieser Begriff ist doch nur ein bildlicher Ausdruck des menschlichen Verstandes. In jede regelmäßige Folge von Ursache und Wirkung, das heißt von einer Änderung, auf die regelmäßig eine andere Änderung folgt, verlegen wir Menschen, ohne es zu wissen und ohne es zuzugestehen, das Bild eines (absichtlich) handelnden Menschen. Die Ursache bewirkt die Folge, in unserer Sprache, in unserem Denken. Von der Wirklichkeit kennen wir nur die Zeitfolge oder was wir so nennen. Es steckt also auch in dem Begriffe der Notwendigkeit schließlich das sprachliche Bild einer Absicht, die nur eine menschliche Absicht sein kann, weil wir doch alle Sprachbilder nur von uns selbst abstrahieren können. Unsere heutige Sprache denkt freilich bei Absicht immer nur an den Seelenvorgang in einem handelnden Individuum. Was das sei, was wir Absicht oder Wollen nennen, wissen wir übrigens nicht. ¶

 

Daß die Absicht oder der Zweck, gelehrt ausgedrückt die Teleologie, nach der Pensionierung eines persönlichen Gottes überall den neuen kleinen Gottheiten oder Naturgesetzen heimlich und unbewusst zugeschrieben worden ist, sehen wir an hundert Fällen unserer Untersuchung. In allen Lehren von der natürlichen Entstehung der Welt steckt tief verborgen und in hundert Verkleidungen der Glaube an eine überweltliche Absicht. Dieser Glaube läßt sich nie und nimmer aus dem menschlichen Denken entfernen, weil er sich aus der armen menschlichen Sprache nicht entfernen läßt; nicht nur die Götter, sondern auch die anderen Begriffe seiner Sprache hat der Mensch nach seinem Bilde geschaffen, nach dem Bilde seiner eigenen Handlungen hat er sich das Naturgeschehen vorgestellt, und wie er als Ursache seiner eigenen Handlungen seinen Willen im sogenannten Bewußtsein vorfand, so hat er – seitdem ein Regentropfen fiel und der Mensch ihn fallen und die Erde benetzen sah – das vorausgehende Ereignis stets als eine Ursache mit einer unbewußten Absicht verstanden. Der Leser ruft: «Aber der Tropfen ist doch auch wirklich die Ursache der Nässe!» Ich aber antwortet: Das ist ein Bild, das du von deinen menschlichen Handlungen hernimmst. ¶

 

Alles Wirkliche ist zufällig. ¶

 

Die Wissenschaft von der Wirklichkeitswelt konnte sich mit einer Beschreibung begnügen, indem sie möglichst übersichtlich einen Katalog der gegenwärtig zufällig vorhandenen Erscheinungen aufstellt. Jeder Versuch einer Welterklärung wird über die Beschreibung hinausgehen und eine Geschichte der Erscheinungen zu ergründen suchen. Besäßen wir dafür aber auch die nötigen Kenntnisse – wovon wir himmelweit entfernt sind –, besäßen wir die Geschichte des Planetensystems, der Erde, der Tiere und Pflanzen, der Wärme, der Elektrizität usw., so würde erst recht die zufällige Entstehung des zufällig Vorhandenen in die Augen springen müssen. Denn jede Ursache ist ein Zufall, auch für ihre Folge. Und man wäre versucht in künstlerischen Rhythmen zu lachen, wenn man hört, daß in jüngster Zeit innerhalb des kleinsten Teils der Weltengeschichte, nämlich in der kurzen Menschengeschichte, versucht worden ist, besondere Gesetze aufzustellen. Wie: daß auf die Demokratie der Militärdespotismus folge und dergleichen.

 

Gesetzmäßigkeit ist die jüngste Mythologie, die der Mensch in die Natur hineingelegt hat; es ist der Grundirrtum der modernen Naturwissenschaft, daß sie Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit miteinander verwechselt. Beide Begriffe sind menschliche Bilder menschlich ursächlicher oder menschlich zeitlicher Auffassungen der Natur. Die Gesetzmäßigkeit ist aber eine veraltende Metapher, gut genug für Laboratorien und andere Küchen, elend für die Welterklärung. Auch die Notwendigkeit ist eine menschliche Metapher; aber sie ist bis auf weiteres so unausweichlich wie die beiden ältesten Hypothesen der Menschheit: Wirklichkeitswelt und Ursachbegriff.

 

Die Sprache also mitsamt ihren allgemeinsten Formulierungen in Grammatik und Logik, mit ihren Worten oder Hypothesen ist eine zufällige Erscheinung. Zufällig im Gegensatz zu dem menschichen Bilde der Gesetzmäßigkeit. Zufällig aber auch, insofern wir ihre Notwendigkeit ergründen möchten. Noch einmal: Was wir wissen möchten, das Wirkliche, das ist zufällig; was wir nicht wissen, was wir darum mit unserer menschlichen Bildersprache umnebeln, das ist unsere Wissenschaft. Wirklich ist, was kein Gespenst ist; und «Zufall» ist eine von allen Zufällen der Wortgeschichte umnebelte Negation der Gespenster Absichtlichkeit, Wesentlichkeit und Notwendigkeit. ¶

 

Die scheinbare Zweckmäßigkeit der Welt ist nur unser egoistisches Zurechtfinden in dem regelmäßigen Chaos der Wirklichkeit, und die Regelmäßigkeit dieses Chaos ist doch nur die Wiederkehr der unzähligen Egoismen, die als Zellen, als Individuen und als Gruppen oder Aktiengesellschaften einzig und allein selbst leben wollen. Die vermeintliche Ordnung, das heißt das Sichzurechtfinden in der Großstadt wird durch Erdbeben, durch Seuchen, durch Kriege gestört; meine Straßenbahn kommt dann vielleicht nicht. Die ungeheuren Revolutionen, welche die Ordnung der Natur gestört haben mögen, kennen wir nur nicht. Wir halten uns an die Regelmäßigkeit der beobachteten paar tausend Jahre, nennen sie Entwicklung, und jeder wartet auf das Farbenzeichen seines Wagens. So stehe ich an der Ecke und höre nicht, wie in jedem Hause rings um mich her irgend ein Liebender Schwüre ruft, irgend ein Sterbender röchelt. Wenn es Nacht wäre und im Walde, so würde ich das alles hören. Dann würde es bis zu meiner Aufmerksamkeit dringen. Die Ordnung der Welt, die uns bald Notwendigkeit, bald als Zweckmäßigkeit erscheint, ist Orientierung unserer Aufmerksamkeit. Was in Wirklichkeit die Wiederkehr ähnlicher Erscheinungen veranlaßt, das Geheimnis der Weltordnung kennen wir nicht. Wir dürfen aber nicht sagen: es ist ein Geheimnis da, welches wir nicht enträtseln können. Wir wissen nur von der subjektiven Ordnung in unserem Kopfe; wir wissen nicht, ob wir das, was diese Ordnung objektiv entspricht, noch unter der Menschenvorstellung Ordnung begreifen können. Wir können die Wirklichkeit mit desem Menschenwort nicht fassen. Der Mensch hat die Ordnung in die Natur hineingetragen, durch seine arme Sprache. Nachher verzweifelt er, wenn er seine Ordnung in der Natur nicht finden kann. ¶

 

Schon 1857 klagt Vischer (Ästhetik III. 1217): «Wie schön ist das Wort Entwicklung, und wie Viele brauchen es, wo Werden, Wachsen, sich Bilden und dergleichen vollkommen hinreichend wären!» Entwickelung oder Evolution ist daneben auch das Modewort der populären Wissenschaft geworden und stellt sich immer wieder ein, wo deutlichere Begriffe fehlen ... Wir denken nämlich alle, wenn wir Entwickelung oder Evolution sagen, an ein Fortschreiten von niedrigeren, schlechteren Formen zu höheren, bessern Formen. Wenn der sozialistische Volksredner es als Ziel der Entwickelung hinstellt, daß der Individualismus der Vergangenheit einem Sozialismus der Zukunft Platz machen werde, so schwebt ihm und uns die Zukunft als eine höhere, bessere Gestaltung vor. Aber auch der Biologe, der die Entwickelung z. B. des Menschen aus der einfachen Zelle lehrt, versteht unter dem jeweilig späteren Organismus jedesmal den höheren und beseren. Da ist also in dem Begriff Entwicklung eine Wertvergleichung mitverstanden, ohne daß wir wüßten, woher wir den Maßstab für solche Schätzungen gewonnen hätten. ¶

 

Ordnen wollen wir die Natur, um in ihr nicht unterzugehen; aber Ordnung ist nicht wirklich, Ordnung ist nur die Sehnsucht der menschlichen Sprache. ¶

 

Alle Religion ist alte Wissenschaft. ¶

 

Reine Kritik ist im Grunde nur ein artikuliertes Lachen. ¶

 

Die niederste Erkenntnisform ist in der Sprache; die höhere ist im Lachen. ¶

 

Es gibt keine Sprache in der Einsamkeit. Wo aber der eine mit dem anderen zusammentrat, da schied sich einer vom anderen, da schied sich das Ich von der Welt, und der alte Gegensatz zwischen Natur und Geist blieb fortbestehen im Denken und Sprechen bis auf den heutigen Tag. In Naturwissenschaften und in Geisteswissenschaften ordnete die Menschheit, die es zu jeder Zeit so herrlich weit gebracht hatte wie heute, weil jede Zeit ihre eigene Gegenwart ist, ihre ererbten und erworbenen Erinnerungen. ¶

 

Die Sprache ist kein Besitz des Einsamen, weil sie nur zwischen den Menschen ist; aber die Sprache ist auch zwei Menschen nicht gemeinsam, weil auch bloß zwei Menschen niemals das gleiche bei den Worten sich vorstellen. ¶

 

So ist das Entsetzliche gewiß, daß kein sterblicher Mensch die Worte seiner Sprache jemals verstehen könnte mit all ihrem historischen Gehalt, weil seine Lebenszeit und seine Fassungskraft nicht hinreichen würden zur Aufnahme dieses ungeheuern Wissens, daß aber auch dann, wenn es einen solchen Menschen gäbe, seine Worte keine Wirklichkeit bezeichnen könnten, weil die Wirklichkeit nicht stillsteht. Wie der Mond kreisend auf die kreisende Erde fällt, ohne sich ihr dauernd zu nähern, so umkreist das bewegliche Wort der Menschensprache die kreisende Wirklichkeit und kommt ihr nicht näher. Nicht einmal die Geschichte der Menschheit kann das Wort erfassen, und wiederum ohne die Geschichte seiner selbst bleibt das Wort unfaßbar. ¶

 

‹F. M., Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Dritter Band: Zur Grammatik und Logik; zweite, überarbeitete Auflage, Stuttgart und Berlin 1913; Faksimile-Ausgabe, Frankfurt a. M. und Berlin: Ullstein 1982›