Fritz Mauthner   Skeptische Mystik

 

Wer Meister Eckharts Mystik glücklich erleben will, wie man einen Sonnenaufgang erlebt, der lese seine Schriften entweder in der guten Pfeifferschen Ausgabe oder in der freien und feinen «in unsre Sprache übertragenen» Auswahl von Gustav Landauer. Ich wage es nicht, einen objektiven Auszug von Eckharts Mystik zu versuchen; ich würde der Gefahr unterliegen, zuviel Modernes in ihn hineinzulesen; ich liebe ihn zu sehr. Ich würde Kant in ihm finden («Ein jeglich empfänglich Ding wird empfangen und gefasset in seinem Empfangenden nach der Weise des Empfangenden; auch ein jeglich merklich Ding wird gemerket [wahrgenommen] und verstanden [begriffen] nach dem Vermögen des, der es versteht, und nicht nach dem, als es merklich ist an sich selbst») und die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien («Ich kann kein Ding ersehen, es wäre mir denn gleich; ich vermag auch kein Ding zu erkennen, es wäre mir denn gleich. Gott hat alle Dinge verborgenlich in ihm selber, aber nicht dies noch das nach Unterscheid, sondern Eins nach der Einigkeit. Das Auge hat auch Farbe in sich, das Auge empfängt die Farbe und das Ohr nicht. Das Ohr empfängt das Gedoehne, die Zunge den Geschmack. Dies hat es alles, mit dem es Eins ist.»); ich würde Schopenhauer in ihm finden («Wäre ein Ding über tausend Meilen, und ich will es haben, so habe ich’s eigentlicher, denn das ich in meinem Schoß habe, und dessen ich nichts haben will ... Wollen tun, sobald ich mag, und getan, das ist vor Gott gleich ... Stätte der Liebe ist allein in dem Willen. Wer mehr Willen hat, der hat auch der Liebe mehr», ferner das «Aufgeben des Willens») und besonders  überall, auf jeder Seite Predigt des Schweigens, Sprachkritik. Seine sogenannten apophatischen Äußerungen über das Wesen der Erkenntnis und Gottes sind nicht zu zählen. Gott ist Unbekanntheit, Verborgenheit, Stillheit, eine Wüste; wer etwas wirklich erkennen will, muß sich ledig machen von allen Gedanken, Worten und Werken; das Mittel ist Schweigen; «darum ist der Seele kein Ding so unbekannt wie sie sich selbst.» 

 

Wahrhaftig, einzig Eckhart hätte verdient, der philosophus Teutonicus zu heißen, nicht der interessante Schuster und unerträgliche Schwätzer Jacob Böhme. ¶

 

Eckhart hat «bewußt und groß» die Möglichkeit erst geschaffen, philosophische Gedanken in deutscher Sprache auszudrücken. ¶

 

Wie lösen wir diesen Widerspruch? Daß Atheisten des 20. Jahrhunderts den frömmsten Christen aus dem 14. Jahrhundert zu ihrem Lehrer wählen? Ich denke nicht an die Mitläufer, die eine Mode mitmachen; ich denke an ernste, klare Menschen, die den Widerspruch fühlen und ihn dennoch nicht lösen können.

Widerspruch ist immer nur in der Sprache, und ich werde nur Worte für seine Lösung haben; möchten es nur möglichst ehrliche Worte sein.

Der Geist der Zeit wirkt mit, dem sich niemand entziehen kann: der Historismus. Wir wissen zu viel und haben zu sehr gelernt, uns in jede ferne und starke Zeit hineinversetzen zu können; wir glauben ohne Widerspruch zu verstehen, d. h. die Seelensituation mitzuerleben: von Buddha und Sokrates zugleich, von Kopernikus und Robespierre, von Luther und Napoleon. Warum nicht auch die Seelensituation von Franziskus und Eckhart? Aber dieser Historismus könnte es nicht erklären, daß unter allen gerade der allerchristlichste Meister Eckhart zum Liebling eines unchristlichen Geschlechts geworden ist.

Die Freude an der Kunstform wirkt mit. Gewiß. Die Bilderpracht der Psalmen, die Gewalt des Dies irae, die Grazie der platonischen Dialoge, alles verblaßt vor der innigen Größe von Meister Eckharts Sprache. Aber unser Entzücken ist nicht bloße Kunstfreude. Wenn wir bei Dante den Hymnus des San Bernardo an die Vergine Madre genießen, wenn wir mit Hochgefühlen den Anblick des Straßburger Münsters, der Assunta von Tizian, die Töne von Bachs Pfingstkantate erleben, so trennen wir doch – nachher wenigstens – die Form vom Stoffe und sagen uns vielleicht, daß wir gerade dem bösen Historismus doch das Glück verdanken, solche Kunst zu genießen, durch die Form, deren Stoff wir ungeformt ablehnen würden. Bei Meister Eckhart aber lehnen wir nichts ab, nichts, nicht den Gott, nicht die Einswerdung mit Gott, nicht die Überfahrt zu Gott, nicht Gottes Deutung ins Nichtesnicht. Wir haben den Gottesbegriff aus unserm Wörterbuch gestrichen und lesen, ja beten fast andächtig Worte der inbrünstigen Gottesliebe.

Ein wenig aus dem Widerspruch heraus führt wieder die Trennung der adjektivischen Welt von der verbalen und von der substantivischen. Lassen wir die Toten ihre Toten begraben, die Substantive ihr Substantive. Was liegt an der Grammatik! Es gibt in der Welt der Wirklichkeiten keine Dreieckigkeit, aber darum der pythagoräische Lehrsatz dennoch wahr. Es gibt keine Bosheit und keine Güte; aber es gibt in unserem Erleben böse und gute Menschen, es gibt in unsrem Erleben sogar Handlungen, die wir als gut oder böse bewerten. Es gibt kein Recht, es gibt aber ein Gefühl dessen, was recht ist. Es gibt keinen Gott; aber es gute, gottvolle, göttliche Mystiker.

So komme auch ich nicht aus ohne die alten Wort: Gott und Religion?

Ich will es versuchen, wieder einmal das Unsagbare zu sagen, mit armen Worten auszusprechen, was ich etwa frommen Ungläubigen zu geben habe an nominalistischer Mystik, an skeptischer Mystik. Eindringen in die Psychologie der theologischen Mystik muß – so meine ich – zu solcher Kontemplation führen, über cogitatio und meditatio hinweg. Wir drücken es anders aus, wir meinen es ebenso, wie man’s vor 600 Jahren meinte.

Die Welt ist nicht zweimal auf der Welt. Es gibt nicht den Gott neben der Welt, es gibt nicht die Welt neben Gott. Pantheismus hat man diese Überzeugung genannt, pedantisch auch wohl (um den persönlichen Gott scheinbar zu retten): Pantheismus. Warum nicht? Es sind ja nur Worte. In der höchsten mystischen Ekstase empfindet das Ich, daß es Gott geworden ist. Angelus Silesius und Eckharts Beichtkind Kathrei haben das empfunden. Warum nicht? Soll ich um Worte streiten?

Seit zehn Jahren lehre ich: das Ichgefühl ist eine Täuschung, die Einheit des Individuums ist eine Täuschung. Wenn ich nicht Ich bin, trotzdem aber bin, dann darf ich wohl auch von allen andern Wesen glauben: sie sind nur scheinbar Individuen, sie unterscheiden sich nicht von mir, ich bin Eins mit ihnen, sie und ich binnen Eins. Sind das bloß philosophische Wortfolgen? Spiele der Sprache? Nein. Was ich erleben kann, ist nicht mehr bloß Sprache. Was ich erleben kann, das ist wirklich. Und ich kann es erleben, für kurze Stunden, daß ich nichts mehr weiß vom principium individuationis, daß der Unterscheid aufhört zwischen der Welt und mir. «Daß ich Gott geworden bin.» Warum nicht?

Freilich, die oberste Tugend aller bessern Religionen und Morallehren hält nicht stand in solchen Stunden des Ekstase. Was ist denn noch Güte für einen Menschen, der nichts mehr weiß vom principium individuationis? Güte ist Aufgeben der eigenen Invididualität, ist aber Anerkennung der fremden. «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.» Nicht mehr. Habe ich mein eigenes Selbst nicht mehr, dann hat es auch mein Nächster nicht. Wer noch gut ist, ist noch nicht frei. In den heiligen Stunden der Ekstase ist man nicht gut. Güte ist nicht möglich ohne Unterscheid.

Mitleid? Ja. Wenn wir unter leiden das verstehen, was es ursprünglich hieß; passiv erleben, ohne Schmerz miterleben. Alle Kreatur erlebt die Eine Welt. Jeder einzelne erlebt sie mit, miterleidet sie. Nimmt sie wahr, soviel seine Wimper hält: der Mensch, das Tier, die Pflanze, der Regentropfen. Wir wollen mitleidig sein, wie die Blumen und der Regentropfen mitleiden. Das Mitleiden ist die Freude der Blume und des Regentropfens.

Hast du solche Stunden der Ekstase niemals gehabt? Ärmster! Dann hast du die Freude nicht gekannt.

Du liegst an einem stillen Sommertag im hohen Grase. Tief unten fließt der Ganges oder der Rhein. Neben dir nur noch dein Hund, dem du den Kopf kraust, der dir die Hand leckt. Spielst du mit ihm? Spielt er mit dir? Der Unterscheid ist aufgehoben. Und alle andern Unterscheide.

Der Unterscheid des Geschlechts. Weil du alt geworden bist? Einerlei. Vielleicht ist darum Mystik, das Aufhören alles Unterscheids, die Weisheit der Greise. Das Motiv der Liebe hat seine Kraft verloren. Und legt sich still ins Grab neben das Motiv der Güte.

Der Unterscheid von Mein und Dein. Du willst ja nichts, gar nichts. Du bist ja froh. Und das Motiv des Hungers hat seine abscheuliche Kraft verloren, für die kurze Stunde der Ekstase. Du denkst gar nicht daran, den Hasen drüben zu schießen, dem Baume da seine Frucht zu nehmen. Du lachst. Tausendfältig um dich kriechen und schwirren Würmer und Insekten, im Banne der Liebe und des Hungers. Spinnen und Fliegen. Sie wissen’s nicht besser. Da! Wieder ein Käfer. Verliebt und hungrig. Armesle! Und du weißt nicht, du ekstatischer Mensch, selbst Armesle, daß du unaufhörlich, regelmäßig den Sauerstoff der Luft einsaugst, der doch auch leben wollte, der sich doch auch für Einen hielt. Armer Sauerstoff! Weil er so dumm ist, sich für Einen zu halten.

Der Unterscheid der Menschen hört auf, der schwerste Unterscheid, und mit ihm verliert das Motiv der Eitelkeit seine Kraft. Du hast es nie für möglich gehalten, jetzt aber, in dieser heiligen kurzen Stunde, hast du es erfahren: die Menschen können dir nicht mehr wehe tun, weil du sie auf einmal so ansiehst, als wären sie Tiere, oder Pflanzen, oder Regentropfen. Oder die Wellen des Stromes da unten, des Ganges oder des Rheins. Der Hund kann dich beißen, der Baum kann dich im Sturze erschlagen, die Wellen können dich hinunterziehen. Aber weh tun kann dir niemand und nichts, seitdem die Motive der Liebe, des Hungers, der Eitelkeit schweigen. Was kümmert es den Mond, wenn ihn der Hund anbellt? Was kümmert es dich, wenn die Tiermenschen, die Pflanzenmenschen, die Wellenmenschen vor dir etwas bellen oder rauschen? Die Armen! Jedes von ihnen glaubt noch, es wäre Eins. Jawohl. Solange, bis auch über die andern deine Stunde kommt und aller, aller Unterscheid aufhört. Wie er jetzt aufgehört hat zwischen dir und der Sonne. Gelt? Schwester Sonne, Messer lo frate Sol, wir gehören zusammen? Wer Liebe, Hunger, Eitelkeit nicht mehr kennt, der ist Sonne, Gott, Grashalm.

Habe ich dir nicht einmal noch von andern Motiven menschlichen Lebens gesprochen als von diesen drei argen? Nicht vom Wissensdurst und von dem Ruhebedürfnis, der Todessehnsucht? Schweigen jetzt auch die, in der seligen kurzen Stunde der Ekstase?

Sie schweigen beide. Sie werden geschweigt. Du willst ja nichts, gar nichts, nicht einmal wissen willst du mehr. Weil du erfahren hast, daß auch der Unterscheid zwischen dem Wissenden und dem Wißbaren vergangen ist mit dem Unterscheide zwischen dir und der Welt. Du hast erfahren, daß du nicht zum Wissen eingerichtet bist, die Welt nicht zum Gewußtwerden. Ist ja alles nur so ein bißchen Herumfahren, wie eine Raupe um ihr Blatt herumfährt. Du hast keinen Durst mehr nach dem bißchen Wissen, das andre Leute getrunken und wieder ausgespieen haben; du weißt, daß es ein Wissen der letzten, tiefsten Gründe nicht gibt. Dich dürstet nicht nach der Pfütze.

Und gar das Ruhebedürfnis schweigt, weil du ruhig geworden bist, ganz ruhig, wohl gar tot. Du willst ja nichts. Und wie die doctissima ignorantia dein abgründiges Wissen ist, besser als das ausgespieene Wissen aller Weisen der Vorzeit, so ist deine Ruhe jetzt lebendiger als alle deine alte Vitalität, dein Tod jetzt lebendiger als all dein früheres Handeln.

Alle Motive des Lebens schweigen dir. Da. Noch nicht still? Mörder! Räuber! Jetzt erst bemerkst du es, daß du mit jedem Atemzug Luft schluckest, um dich mit dem Sauerstoffe der Luft zu nähren, der doch so gerne selber leben und Einer sein möchte. Mörder! So willst du noch etwas. So hast du noch nicht getan nach deiner Erkenntnis. So bist du noch nicht ruhig. So bist du gar nicht einmal gut, du Mörder des Sauerstoffs.

Du tust nach deiner Erkenntnis. Du atmest nicht einmal mehr. Und du bist endlich eins geworden mit der Welt, welche einst Gott genannt worden ist, eins geworden mit dem Bruder Sol, der eins ein Gott genannt worden ist. Schön ist’s. Tausend Farben, tausend Töne. Harmonie. Himmlische Heerscharen. Auch die Heiligen, die du für ein Märchen hieltest, fehlen nicht. Sie sammeln sich um dich und flüstern dir stumme Worte zu. An ihren geschwiegenen und schweigenden Worten errätst du, wie sie einst hießen im Scheine des Lebens. Çakhia Muni, der Buddha, flüstert mit dir, und Franziskus und Goethe und der Novalis und Meister Eckhart und ein Bauer lacht dazu und schreit: «Es kann dir nix g’schehn! Selbst die größt’ Marter zählt nimmer, wann vorbei is! Ob d’ jetzt gleich sechs Schuh tief da unterm Rasen liegst, oder ob d’ das vor dir noch viel tausendmal siehst – es kann dir nix g’schehn! Du g’hörst zu dem all’n, und dös all g’hört zu dir! Es kann dir nix g’schehn!»

Hätte er doch nich so laut geschrien. Seine Menschenstimme legt sich wie ein Alp auf deine Brust. Luft! Du willst nicht, aber du mußt. Nur einen Atemzug. Mörder!

Unsinn. Das ist ja das Leben. Nehmen, was man braucht. Leben wollen. Vorüber ist die kurze Stunde heiliger Mystik. Du bist zurückgekehrt zum Scheine des Lebens, zu seinen Motiven, zu seinem Wissen.

Armesle. ¶

 

‹F. M., Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 1. Auflage in 2 Bänden: München 1910/11 (Auszüge aus dem Artikel «Mystik»); Faksimile-Nachdruck, Zürich: Diogenes 1980›