Georg Christoph Lichtenberg Sudelblätter

 

Was mir an der Art, Geschichte zu behandeln, nicht gefällt, ist, daß man in allen Handlungen Absichten sieht und alle Vorfälle aus Absichten herleitet. Das ist aber wahrlich ganz falsch. Die größten Begebenheiten ereignen sich ohne alle Absicht; der Zufall macht Fehler gut und erweitert das klügst angelegte Unternehmen. Die großen Begebenheiten in der Welt werden nicht gemacht, sondern finden sich. ¶ 

 

Unsere ganze Geschichte ist bloß Geschichte des wachenden Menschen; an die Geschichte des schlafenden hat noch niemand gedacht. ¶

 

Die oft schon gemachte Betrachtung, daß einem jeden das Seine am besten gefällt, ließe sich noch einmal recht lebhaft und mit vieler Philosophie behandeln. ¶

  

Daß der Mensch das edelste Geschöpf sei, läßt sich auch schon daraus abnehmen, daß es ihm noch kein anderes Geschöpf widersprochen hat. ¶ 

 

Es ist ein großer Unterschied zwischen etwas noch glauben und es wieder glauben. Noch glauben, daß der Mond auf die Pflanzen wirke, verrät Dummheit und Aberglaube, aber es wieder glauben zeugt von Philosophie und Nachdenken. ¶

 

Ist das nicht ein herrlicher Zug in Rousseaus «Bekenntnissen», wo er sagt, er habe mit Steinen nach Bäumen geworfen, um zu sehen, ob er selig oder verdammt würde? Großer Gott, wie oft habe ich Ähnliches getan. Ich habe immer gegen den Aberglauben gepredigt, und bin für mich immer der ärgste Zeichendeuter. Als N. auf den Tod lag, ließ ich es auf den Krähenflug ankommen, wegen des Ausgangs mich zu trösten. Ich hatte, wenn ich am Fenster stand, einen hohen Turm mir gegenüber, auf dem viele Krähen waren. Ob rechts oder links vom Turm die erste Krähe erschien. Sie erschien von der Linken. Allein da tröstete ich mich wieder damit, daß ich nicht festgesetzt hatte, welches eigentlich die linke Seite des Turms genannt zu werden verdient. Es ist vortrefflich, daß Rousseau sich mit Fleiß einen dicken Baum aussuchte, den er also nicht leicht fehlen konnte. ¶

 

Ich habe es sehr deutlich bemerkt: Ich habe oft die Meinung, wenn ich liege, und eine andere, wenn ich stehe. Zumal wenn ich wenig gegessen habe und matt bin. ¶ 

 

Ich habe mich zuweilen recht in mir selbst gefreut, wenn Leute, die Menschenkenner und Weltweise sein wollen, über mich geurteilt haben. Wie entsetzlich sie sich irren. Der eine hielt mich für weit besser und der andere für weit schlimmer, als ich war, und das immer aus sehr feinen Gründen, wie er glaubte. ¶ 

 

Ich kann mir leicht vorstellen, wie leicht ein Mensch durch Zeitungslob verführt werden kann, zu glauben, er sei endlich, was diese Leute von ihm behaupten. ¶ 

 

Er wunderte sich, daß den Katzen gerade an der Stelle zwei Löcher in den Pelz geschnitten wären, wo sie die Augen hätten. ¶ 

 

Dieser Mann arbeitete an einem System der Naturgeschichte, worin er die Tiere nach der Form der Exkremente geordnet hatte. Er hatte drei Klassen gemacht: die zylindrischen, sphärischen und kuchenförmigen. ¶ 

 

Wenn auch das Gehen auf zwei Beinen dem Menschen nicht natürlich ist, so ist es doch gewiß eine Erfindung, die ihm Ehre macht. ¶ 

 

Es geht im einzelnen wie bei der Menge, an welche Anreden gehalten werden: Es hören nur die Nahestehenden, allein die Entfernten schreien mit, wenn es zum Beifall geht. So darf nur bei mancher Überlegung eine Leidenschaft Beifall geben, so rufen alle übrige, und selbst Vernunft, mit in den Haufen. ¶ 

 

Theorie der Falten in einem Kopfkissen. ¶

 

Wieviel in der Welt auf Vortrag ankommt, kann man schon daraus sehen, daß Kaffee, aus Weingläsern getrunken, ein sehr elendes Getränk ist, oder Fleisch bei Tische mit der Schere geschnitten, oder gar, wie ich einmal gesehen habe, Butterbrot mit einem alten, wiewohl sehr reinen Schermesser geschmiert. ¶ 

 

Es ist immer sonderbar, daß man so viel von unserer Fortdauer nach dem Tode spricht und so wenig von der Vor-Dauer vor der Geburt. ¶

 

Die edle Einfalt in den Werken der Natur hat nur gar zu oft ihren Grund in der edeln Kurzsichtigkeit dessen, der sie beobachtet. ¶ 

 

Er vernünftelte mich ganz aus meiner Vernunft heraus. ¶ 

 

Ich glaube kaum, daß es möglich sein wird zu erweisen, daß wir das Werk eines höchsten Wesens und nicht vielmehr zum Zeitvertreib von einem sehr unvollkommenen sind zusammengesetzt worden. ¶ 

 

Aus der Weisheit Gottes manche Sachen schließen zu wollen ist nicht viel besser, als es aus seinem eignen Verstand zu tun. ¶

 

Es ist ja doch nun einmal nicht anders: die meisten Menschen leben mehr nach der Mode als nach der Vernunft. ¶ 

 

Populärer Vortrag heißt heutzutage nur zu oft der, wodurch die Menge in den Stand gesetzt wird, von etwas zu sprechen, ohne es zu verstehen. ¶ 

 

Wenn man die Natur als Lehrerin und die armen Menschen als Zuhörer betrachtet, so ist man geneigt, einer ganz sonderbaren Idee vom menschlichen Geschlechte Raum zu geben. Wir sitzen allesamt im Collegio, haben die Prinzipien, die nötig sind, es zu verstehen und zu fassen, horchen aber immer mehr auf die Plaudereien unserer Mitschüler als auf den Vortrag der Lehrerin. Oder wenn ja einer neben uns etwas nachschreibt, so spicken wir von ihm, stehlen, was er selbst undeutlich hörte, und vermehren es mit unsern eigenen orthographischen und Meinungsfehlern. ¶ 

 

Ein Licht (die Sonne) über 18 000 000 Meilen zu stellen, so daß man mittags um 12 Uhr in der halben Welt, gedruckt und geschrieben, lesen kann, ist wirklich etwas Großes. ¶

 

Man kann wirklich nicht wissen, ob man nicht jetzt im Tollhaus sitzt. ¶

 

Der vollkommenste Affe kann keinen Affen zeichnen, auch das kann nur der Mensch, aber auch nur ein Mensch hält dieses zu können für einen Vorzug. ¶

 

Es mag ein Einfall noch so einfältig sein, er reguliert immer etwas und herrscht irgendwo. Das Gesicht im Mond herrscht in unsern Kalenderzeichen. ¶

 

Die Griechen verdarben, möchte ich fast sagen, nicht die schönste Zeit ihrer Jugend mit Erlernung von toten Sprachen, und so lernten sie die Sprachen, die sie nötig hatten, durch die Sachen und nicht wie wir umgekehrt in unzähligen Dingen die Sachen durch die Wörter. Plutarch war schon ziemlich bei Jahren, als er Latein lernte. ¶

 

Und ich danke es dem lieben Gott tausendmal, daß er mich zum Atheisten hat werden lassen. ¶