Henri Laborit   Glaube

 

Eine Botschaft zu ermitteln, die sich in den allgemeinen Lebensprozessen kundtut – sofern es eine solche Botschaft denn gibt –, ist dem Menschen auf wissenschaftlichem Wege unmöglich. Der Mensch kann mit großem Aufwand die Syntax des Lebens analysieren, aber nicht ihre Semantik begreifen, ja, er kann nicht einmal mit Gewißheit sagen, ob die beobachtete Ordnung wirklich sinnhaft ist. Es würde heißen, dass es ein «sendendes Bewußtsein» gibt, ein über ein Bewußtsein verfügendes Etwas, das eine Botschaft aussendet in einem Medium, das das Leben als solches wäre – und ein «empfangendes Bewußtsein», das in der Lage ist, die ausgesendete Information zu decodieren. Wer hier von «Gewißheiten» redet, bewegt sich im Gebiet des Glaubens. Dabei es ist durchaus nicht wissenschaftlich, die Existenz eines solchen Gebietes zu leugnen, nur weil es nicht dem Gebiet der Wissenschaft angehört. Aber die Argumente, die im Gebiet des Glaubens angeführt werden, vermögen doch auch nichts gegen die wissenschaftlichen Einwände auszurichten. Was gegen den Glauben spricht, sind darüber hinaus und nicht zuletzt seine fragwürdigen Erscheinungsformen (um es vorsichtig auszudrücken), in denen er uns entgegentritt.

 

Angesichts der Widersprüchlichkeit des Lebens und der Zumutung des Todes, in seiner Angst also vor einer unbegreiflichen Welt, hat der Mensch mit seiner Menschenlogik nach einer Erklärung gesucht, die ihm die bloße Erfahrung nicht liefert. Im Mythos hat er sein Therapeutikum gefunden, nicht ahnend, dass der Mythos seinerseits zur Quelle neuer Ängste werden würde. Wer kann mit Bestimmtheit sagen, was zuerst war, der Glaube oder die Angst? Ich bin geneigt, die Angst für den Ursprung des Glaubens zu halten. Tatsächlich verfügte der Glaube lange Zeit über den großen Vorzug, und tut es zum Teil noch heute, den verunsicherten Menschen Handlungsspielräume zu eröffnen. Wir haben an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß wir als den Ursprung der Angst die Ummöglichkeit zu handeln ansehen. Einer der Gründe für diese Handlungsunfähigkeit ist zweifelsohne ein Informationsdefizit, das Nichtwissen um die Folgen einer Handlung angesichts eines neuen Ereignisses, eines Ereignisses, das uns unverständlich bleiben muß in der Sprache der linearen Kausalität, die uns eingepflanzt ist. Der Glaube liefert hier Verhaltensregeln, Handlungsanweisungen. Er ist damit in der Lage, Angst zu heilen. Aber er erzeugt im selben Moment neue Ängste, wenn er einhergeht mit einem Strafsystem für den Fall, dass die Regeln nicht eingehalten werden. Er erzeugt die Angst vor der Sünde, die nicht hier auf Erden bestraft wird, sondern im Jenseits. Glaube verwandelt sich in Religion, die sich in «Gesetzestafeln» manifestiert. Je größer die Angst der Menschen, desto höher das Ansehen von Gesetzen, von Dogmen. Die große Gemeinsamkeit aller Dogmen ist, daß sie sektenbildend sind, daß sie Wertehierarchien schaffen, die nur für die wahren Gläubigen Gültigkeit haben. Sie etablieren geschlossene Systeme, die den Keim ihrer Auflösung immer schon in sich tragen. Das eint sie mit politischen Dogmen, die von derselben tödlichen Erstarrung befallen sind. Gleichzeitig gilt, daß innerhalb dieser starren Dominanzhierarchien, die schon immer der Instituierung von Gesellschaften gedient haben, die große Mehrheit der Menschen nicht in der Lage ist, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Gibt es nun einen Glauben, der den Menschen eine Belohnung im Jenseits in Aussicht stellt, stehen die Chancen gut, daß dieselben Menschen sich im Diesseits schneller zufrieden geben, daß sie eher geneigt sind, Leiden auf sich zu nehmen und zu akzeptieren, daß ihnen in dieser Welt die Belohnung verwehrt ist. Ein solcher Mythos kann nur von den wenigen Herrschenden am Leben gehalten werden, die in der Dominanzhierarchie auf ihre Kosten kommen. Es gilt, den Unmut der Beherrschten zu dämpfen. Daher das Ineinandergreifen von religiöser und politischer Hierarchie. Man erhofft sich vom jeweils anderen System, es möge beitragen zum Erhalt der etablierten Struktur. Spätestens wenn die religiöse Macht sich säkularisiert oder die politische Macht sich zur neuen Religion aufschwingt, kommt es zur Krise, die Dominanzstruktur wird total und die Kräfteverhältnisse müssen sich erst wieder stabilisieren, bis eine neue Zusammenarbeit möglich ist. 

 

Und doch ist unbestreitbar, daß es auf der Ebene des menschlichen Bewußtseins einen Sinn fürs Kosmische gibt, der aus der resignativen Einsicht resultiert, daß wir mit unser logischen Rede weder an einen Ursprung noch an einen Zielpunkt heranreichen. Dieser Sinn  – der sicherlich derselben Angst entspringt, von der wir eben sprachen, nur ins Existenzielle gewendet – muß jedoch erst geweckt werden. Es bedarf einer gewissen Muße, über existenzielle Fragen nachzudenken. 

 

Man mag sich über die zunehmend verwaisten Kirchen wundern. Aber die Expansion der weltlichen Gesellschaft läßt den Menschen wenig Zeit für derlei Dinge. Nun, wenn ich von der Kirche spreche, meine ich durchaus nicht die Gotteshäuser, die noch immer unser Stadtbild prägen, sondern ich meine ein Gebäude, das jeder Mensch in seinem Innern errichten kann, eine Kirche, in der man aufrecht steht und Fragen stellt – wie Jesus, der vor dem Hohen Rat den Kriegsknecht fragt: «Warum schlägst du mich?» – und nicht auf Knien rutscht und Gebete murmelt. Doch Fragen sind den Vertretern der reinen Lehre (politischen wie religiösen) schon immer suspekt gewesen. Das gilt auch für Familienväter, die sich mit den Fragen ihrer Kinder konfrontiert sehen. Sie haben Angst, daß sie mit einer unbefriedigenden Antwort dem Idealbild, das sie anderen von sich vermitteln möchten, Schaden zufügen, daß ihre Dominanz geschwächt wird, aus der sie ihre Befriedigung ziehen.

 

Die religiöse Erziehung, die ich als Kind genosse haben, hat mich der Kirche nie ganz entfremdet, auch wenn sie völlig unkritisch war. Richtig kennengelernt habe ich das Christentum erst gegen Ende meiner Jugendzeit durch einen Freund, der großen Einfluß auf mich hatte. Dieses Christentum hat nicht viel zu tun mit dem autoritären, körperfeindlichen Religionsunterricht meiner Erstkommunion. Ich habe mir damals mein eigenes Bild von Jesus gemacht, so wie ich mir zuvor ein Bild von meinem Vater gemacht hatte, der mit einunddreißig Jahren starb, als ich gerade fünf war, und den ich deswegen auch nicht töten mußte (um es in der Sprache der Psychoanalyse auszdrücken), um erwachsen zu werden. Es genügte mir, er zu sein, oder wenigstens das Bild, das ich mir von ihm gemacht hatte. Ich habe nie unter dem frühen Ableben meines Vaters gelitten, der als junger Militärarzt in Mana in Französisch Guyana an Tetanus starb, da man um mich her, unbewußt, alles dafür tat, mir das Gefühl zu vermitteln, er sei noch da, damit ich zu ihm werden konnte. Noch heute, wo mir all dies klar ist, ist mein Vater, oder der Mythos von ihm, immer in mir präsent. Er ist mein Werk, und ich bin nie in die Verlegenheit gekommen, das Bild mit dem realen Menschen vergleichen zu müssen.

 

Das Bild von Jesus, das ich für mich geschaffen habe, ist das eines persönlichen Freundes, den ich bereitwillig mit anderen Menschen teile, wohl wissend, daß sich jeder sein eigenes Jesus-Bild konstruiert hat, auch wenn andere Menschen vielleicht nichts mit ihm anfangen können (gerade dann) oder das Jesus-Bild ablehnen, das die gesellschaftliche Nische ihnen zu vermitteln versucht hat. Wäre ich in China geboren ein paar tausend Jahre vor seiner Geburt, hätte ich nie von ihm gehört. Meine Kenntnis von ihm ist also immer schon historisch determiniert. Aber meine Freundschaft zu ihm ist nur noch gewachsen, nachdem ich nach und nach begriffen habe, daß seine Kreuzigung nichts war im Vergleich zu der Gewalt, die seine Anhänger im Laufe der Jahrhunderte seiner Botschaft angetan haben. Sie haben sich mit der Syntax abgemüht, immer interessengeleitet, die Semantik haben sie nicht berührt. Von einem Freund erwartet man keine moralischen Ermahnungen, keine Regeln und Gesetze. Was man von einem Freund erwartet, ist Freundschaft, um alles andere mögen sich seine schlimmsten Feinde kümmern. Sollen sie versuchen, die Evangelien zu harmonisieren, gemäß den Errungenschaften der Französischen Revolution, sollen sie ihre Polizei und ihr Militär mobilisieren, um die Menschenrechte unseres jüdisch-christlichen Erbes zu verteidigen. Ich begnüge mich damit, wenn ich die Muße dazu finde, in Jesus den Mann zu verehren, der zu der braven Marta, die sich in der Küche abmüht, sagt, daß sie sich verliert, und zu Marie, die sich zu ihm gesetzt hat, die die Erkenntnis gewählt hat, sagt, daß sie sich für das Richtige entschieden hat, für das, was ihr niemand nehmen kann. Den Mann, der uns rät, es zu halten wie die Lilien auf dem Felde, die weder arbeiten noch spinnen und die schon damals Nullwachstum verwirklicht haben. Den Mann, der die Händler aus dem Tempel jagte, jenem Tempel, der das Haus Gottes ist, also unser Menschen-Haus. Den Mann, der doch auch den reichen Jüngling liebte, wir erinnern uns, jenen Jüngling, der alle Gebote einhielt, die ihm Jesus genannt hatte, und der fragte, was denn noch nötig sei: «Verlasse alles und folge mir.» Dem jungen Mann fehlte dazu der Mut, und er blieb traurig zurück. Jesus liebte ihn trotzdem, denn er allein wußte, wie sehr die Menschen ihren soziokulturellen Automatismen verhaftet sind. Er, der am Ölberg seinen Vater bat, den grausamen Kelch nicht bis zur Neige trinken zu müssen, und der bei dieser Gelegenheit alles andere als männlich und heldenmutig wirkte. Er, der gekommen war, nicht um Traurigkeit zu verbreiten, sondern eine frohe Botschaft. Er, der lange vor Freud sagte, daß den Menschen vergeben werde müsse, denn sie wissen nicht, was sie tun, sondern gehorchen nur ihren unbewußten Regungen. Der nicht auf väterliche Protektion hoffen durfte, als man ihn verurteilte. (Wo ist Joseph eigentlich abgeblieben?) Der gegen die Steinigung von Ehebrecherinnen einschritt und forderte, daß man über niemanden urteilen solle, wenn man nicht selbst verurteilt werden will. Der mit vierzehn Jahren seine Mutter und seine Brüder verließ und sie verleugnete. (Schöne heilige Familie!) Der verkündete, dass er das Schwert bringe und nicht den Frieden (Mt. 10, 34). Der den Sohn gegen den Vater aufbringt. Der völlig absurde Geschichten zum Besten gab, in denen die Kurzarbeiter im Weinberg den gleichen Lohn erhalten wie die Vollzeitbeschäftigten. (Schöne Wertehierarchie! Und man versteht nur zu gut, daß die Anhänger der Wertehierarchie dafür plädieren, daß eine solches System allenfalls im Jenseits Anwendung finden möge und nicht im Hier und Jetzt.) Der eine Bergppredigt hielt («Selig sind ... selig sind ...»), die einen diametralen Gegensatz bildet zu den Zehn Geboten mit ihrem «Du sollst ... du sollst ...» und dem dazugehörgigen zornigen Gott. Wie konnte, ausgehend von einer solchen Poesie, nur ein derart primitives Zwangssystem entstehen, das die Religion ist?

 

Ich kann nicht mit Bestimmtheit sagen, inwieweit meine (ganz rudimentäre) christliche Erziehung meine Arbeit als Wissenschaftler beeinflußt hat. Immerhin habe ich mich in meiner logischen Rede stets bemüht, die beiden Bereiche voneinander getrennt zu halten. Daß es Beziehungen gibt, will ich nicht leugnen, aber die Wissenschaft trat ja erst viel später in mein Leben und nicht nur in beruflicher Hinsicht. Es war die Wissenschaft, die mir die fehlenden Informationen geliefert hat, die ich zur Beschreibung des menschlichen Verhaltens brauchte. Bis dahin hatte ich nur widergegeben, was mir an willkürlichen Werturteilen von meiner soziokulturellen Nische mühsam ins Nervesystem gepflanzt worden war. Ich war einigermaßen störrisch, aber letztlich doch angepaßt. Paradoxerweise geschah es durch meine wissenschaftliche Forschung, daß ich jenen hellsichtigen Freund fand, diesen ebenso poetischen wie asozialen Jesus, der seit zweitausend Jahren darauf wartet, daß, wer Ohren hat zu hören, dies auch tue. Aber ist es wirklich meiner Arbeit als Wissenschaftler zu verdanken, werden Sie einwenden, daß ich Jesus für mich entdeckt habe? Habe ich nicht, um seine Worte zu verwenden, nur gesucht, was ich längst gefunden hatte? Die höchste aller Wissenschaften, ist für mich die der Strukturen, der Schönheit, und das wichtigste Vademecum in diesem Gebiet sind für mich die Evangelien. Sie haben mich gelehrt, nichts auf die trostlose Pascalsche Wette zu geben, nichts auf das Gefeilsche der Krämerseelen, die sich um ihr ewiges Lebern sorgen. Ich erwarte nicht von meinem Freund, daß er meine Wiederauferstehung garantiert, meinen sozialen Aufstieg in einer jenseitigen Welt.

 

Man verlangt nichts von einem Freund, sondern man gibt nur, und zwar seine Freundschaft. Was bedeutet Freundschaft? Bedeutet es nicht, daß sich zwei Menschen in ein und derselben räumlichen Nische befinden und der eine des anderen Objekt der Belohnung (Gratifikation) ist? Was nur möglich ist, wenn zwischen ihnen jegliches Bedürfnis nach Dominanz fehlen würde wie auch die Bereitschaft, sich zu unterwerfen. Und was außerdem nur möglich ist jenseits unserer logischen Sprache, die immer verfälscht und deformiert. Die Zwecke, die die Menschen verfolgen, müßten gemeinsame Zwecke sein und wären das Resultat gegenseitiger, praktischer Erkundungen jenseits von vorgegebenen Regeln. Und das Ganze muß in einem Territorium stattfinden, in dem kein Wettbewerb herrscht, einem Territorium also, das nicht von dieser Welt ist, weil es das Reich unserer Vorstellungskraft, unserer Imagination, ist.

 

Es ist ein Gemeinplatz zu sagen, die Wissenschaft habe die alten Götter getötet und den Glauben verdrängt. Es ist richtig, daß sie den Glauben als Therapeutikum gegen die Angst abgelöst hat. Der Mensch erwartet jetzt von der Wissenschaft, daß sie ihn unsterblich macht, bereits in dieser Welt, nicht erst in der nächsten. Aber die Enttäuschung muß auf den Fuß folgen, denn die Wissenschaft ist in der Tag ganz von dieser Welt, und wenn sie auch gewisse materielle Probleme des Menschen zu lösen im Stande ist, kann sie doch nicht am Schicksal des Menschen ändern. Wir haben gesagt, daß sie keinen «Sinn des Lebens» bereitstellt. Sie schafft Ordnung. Oder wenn sie einen «Sinn» ermittelt, dann den, daß es keinen gibt, sondern daß wir es mit Zufallsprozessen und hochgradigen Unwahrscheinlichkeiten zu tun haben. Und das, was wir «Zufall» nennen oder etwa «freien Willen» ergibt sich erst als Resultat unserer Unwissenheit. Und ist dieses geordnete Universum, das wir nach und nach entdecken, schon alles? Die Tragik des Menschen ist, daß er vom Universum genug weiß, um zu begreifen, daß er nichts weiß über seine Stellung und seine Bestimmung in ihm, und daß er nie genug wissen wird, um sagen zu können, ob es noch mehr gibt, was gewußt werden kann?

Sollte es noch mehr geben, dann ist es gewiß nicht irgendein Katechismus, der uns davon in Kenntnis setzt. Der von den Toten auferweckte Lazarus hat um nichts gebeten, ihm wurde einfach gegeben. Nie würde ich Jesus darum bitten, mir die Angst zu nehmen. Wir haben auch nichts getan, um ihm die seine zu nehmen. Ich bitte ihn nur darum, er möge der sein, für den ich ihn halt, nicht der historische Jesus aus meinem Religionsunterricht, sondern ein Mensch wie kein anderer Mensch auf Erden. Ich glaube, er ist einfach derjenige, der «begreift», im wörtlichen Sinn, der «ergreift», «erfaßt». Und wann hätte je ein Katechismus etwas begriffen?

 

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Viele Christen schließen sich heute der marxistischen Lehre an. Viele Christen haben erkannt, daß die Institution Kirche seit den Tagen der Märtyrer immer wieder Konkordate mit der herrschenden Macht geschlossen hat, wenn es ihr nicht möglich war, allein zu herrschen. Sie hat sich mit den Herrschenden verbündet, wohingegen Jesus auf Erden gewandelt ist und um sich die Schwachen und Geknechteten geschart hat. Der logische Diskurs der Kirche ist einfach: Das Reich Jesu ist nicht von dieser Welt, rühren wir also nicht an den bestehende irdischen Dominanzhierarchie, sondern bereiten wir uns auf die jenseitige vor. Man muß sich fragen, warum Jesus in diesem Fall überhaupt Mensch geworden ist, wenn er mit allem Fleischlichen nichts zu tun hat und ausschließlich für den Geist zuständig ist und so den Pharisäern und Hohepriestern aller Epochen das Feld überläßt, um ihre Macht auszuüben und die Menschen zu schinden und zu quälen. Wir sollen leiden, das es uns in der anderen Welt hundertfach vergolten wir. Wir sollen Jesu Beispiel folgen. Dabei könnte ein anderer logischer Diskurs ebensogut den Schluß ziehen, daß seine Geschichte, daß das Leben und Sterben Jesu veranschaulichen soll, wozu institutionalisierte Mächte fähig sind, als abschreckendes Beispiel, nicht um es zu wiederholen. Vielmehr müßten uns die Worte und das Leiden Jesu dazu bringen, gegen diese Reichen zu kämpfen, die ebenso wenig ins Himmelreich kommen, wie ein Kamel durch ein Nadelöhr paßt, und dafür zu sorgen, daß diese Gerechten, die die Wahrheit und die Macht für sich beanspruchen, in der menschlichen Gemeinschaft keinen Platz mehr haben.

 

Die christlichen Marxisten haben bei Marx die Beschreibung der Mechanismen gefunden, wie der Mensch den Menschen ausbeutet, und sie konnten gar nicht anders als fasziniert sein von seiner Lehre, da man doch ganz offensichtlich ähnliche Ziele verfolgte. Aber sofort wurde ihnen vorgeworfen, sie würden das Heilige profanisieren, würden das Transzendentale politisieren, das Jenseitige auf Erden zerren, das doch aus gutem Grund im Jenseits angesiedelt ist, damit es hier nicht stört. Selbst einige Christen, die sich als links verstehen, dennoch an der Welt, wie sie ist, nichts ändern wollen, weil sie ihnen gute Aufstiegschancen garantiert, schwingen sich zu wahren Eiferern auf (lauter heilige Johannese vom Kreuz im Zeitalter des Verbrennungsmotors) und lesen den christlichen Marxisten die Leviten, die es auf die gute alte Kirche abgesehen haben, die längst wieder von den Händlern bevölkert ist, die Jesus zur Tür hinausgejagt hat. Ihre Argumente sind bekannt: Der Marxismus (der sie wirklich beunruhigt) ist als Ideologie überholt. Er hat direkt zum Stalinismus geführt und verleugnet die menschliche Individualität. (Die Leute meinen natürlich ihre Indivualität, und sie zu verleugnen, wäre wirklich eine Schande.) Nebenbei bemerkt hat die christliche Ideologie ihrerseits ebenso direkt zur Inquisition geführt, zu Glaubenskriegen und Kreuzzügen, und sie ist überall auf der Welt hilfreich dem Imperialismus zur Hand gegangen. Sie machen sich nicht klar, daß die Lehren, auf die sie sich berufen, immer von Menschen interpretiert wurden, Menschen, die ihrem unbewußten Dominanzstreben folgen, ihrem narzistischen Bedürfnis, sich selbst aufgewertet zu sehen, und nicht zuletzt den soziokulturellen Konditionierungen, die ihr Nervensystem bis ins letzte Molekül geprägt haben.

 

Ich treffe hin und wieder einige dieser neuen Eiferer des Status quo, oder sehe sie im Fernsehen. Ihr Auftreten ist in der Regel selbstsicher und ihre Rede wirkungsvoll, doch ich bin stets geneigt, meine Aufmerksamkeit eher auf ihr Äußeres zu richten, auf ihre Haltung, ihre Gestik und Mimik, ihre Stimme, um die Motivation zu erkennen, die Ängste und Unsicherheiten, die hinter ihrer Rede stecken und die die organische Hülle zu verbergen versucht. Und ich frage mich dann, ob eine Psychoanalyse diesen Menschen helfen könnte, sich ein wenig mehr ihrer selbst bewußt zu werden. Oft empfinde ich diesen Menschen gegenüber Mitleid – verbunden mit jener Aggressivität, die immer mit diesem Sentiment einhergeht.

 

Mitleid ist, wie die Liebe, eine mehr als suspekte Gefühlsregung. Vielleicht kennt jemand die Vorkriegskomödie «The Green Pastures»? Ich habe den Film immer gemocht. Am Ende sieht man den Herrgott, Jahwe, zornig und rachsüchtig wie je, auf einer Wolke sitzen, wie er seiner eigenen Kreuzigung in Gestalt seines Sohnes auf einem fernen Planeten namens Erde beiwohnt. Er leidet, was verständlich ist, und als sein zweites Ich den letzten Atemzug tut, murmelt er nur: «Soviel zum Thema Mitleid.» Oder etwas in der Art. Da ich nicht Gottvater bin, empfinde ich in aller Regel Mitleid (mit diesen Menschen) nur, wenn es mir nicht gelingt, meine Intoleranz zu bekämpfen und zu akzeptieren, daß da jemand nicht meinen Vorstellungen entspricht. Mitleid erlaubt es demjenigen, der es empfindet, sich selbst eine (subjektive) dominante Rolle zuzuweisen, während das Objekt des Mitleids in Abhängigkeit gehalten wird. Es ist ein tröstliches Gefühl. Aber sollten wir nicht eher Nachsicht haben mit Menschen, die andere (von ihren Ansichten) zu überzeugen versuchen, wie selbstgefällig sie dabei auch immer auftreten, denn versuchen sie nicht letztlich nur sich selbst zu überzeugen? Ohne das Informationsdefizit gäbe es keine Angst, und ohne Angst keine vermeintlichen Gewißheiten, die man propagieren könnte.

 

Um zu erklären, was ich mit christlich-marxistisch meine, möchte ich noch einmal das Begriffspaar aus der Linguistik bemühen, das ich zu Anfang angeführt habe, als es um die Frage nach dem «Sinn des Lebens» ging. Ich habe gesagt, daß die Semantik der Lebensbotschaft ins Reich des Glaubens gehört, weil der Mensch sie mit seiner Vernunft nicht erfassen, «ergreifen» kann. Ich glaube, daß Jesus uns diese Semantik zugänglich macht, aber ich habe ebenfalls erklärt, warum ich dafür keinerlei Beweis anführen kann und warum es mir fernliegt, um andere zu überzeugen, die Angst heraufzubeschwören, die ohnehin jeden Menschen früher oder später heimsucht. Die Angst macht jeden Glauben zu einer fragwürdigen Angelegenheit, und ausgerechnet auf ihr basieren weltweit die Religionen. Angst, die durch die Mauern jener Gefängnisse sickert, die da sind das Unrecht, das Leiden und der Tod. Der Witz mit Jesus ist, daß er Mensch geworden ist, daß er uns die Semantik in Form einer Botschaft gebracht hat, in Form eines Signifikanten, den wir verstehen können. Dummerweise nimmt der Signifikant zu verschiedenen historischen Zeiten unterschiedliche Formen an, während das Signifikat unverändert bleibt. (Wie man ein und dieselbe Idee auch in verschiedenen Sprachen ausdrücken kann.) Die Botschaft ist eng gebunden an unseren jeweiligen Kenntnisstand. Aus diesem Grund hat Jesus Parabeln als Signifikanten gewählt, Begriffe wie Mehrwert, Klassenkampf und Produktionsverhältnisse konnte er schließlich nicht bemühen. Marx hingegen hat sich ausschließlichmit der Syntax befaßt, mit den Signikanten. Er hat darüber hinaus das Alphabet und die Grammatik seiner Zeit verwendet, in denen es noch keine Buchstaben und keine Regeln gab für die Erkenntnisse, die die Verhaltensbiologie, die Informations- und die Systemtheorie und die moderne Mathematik bereitstellen sollten. Aber unabhängig davon gibt Marx nur unzureichend Antwort auf die Frage nach der existentiellen Angst, nicht zuletzt deswegen, weil seine Botschaft erklärtermaßen Wissenschaft ist, also dem Wesen nach immer revisionsbedürftig. Seine Anhänger jedoch, sind verzweifelt auf der Suche nach einem trostreichen Mythos. Sie haben Marx daher zu ihrem Gott gemacht und behandeln sein Werk wie die Theologen es seit Jahrhunderten mit den Evangelien tun. Sie deuten hinein, was ihr Unbewußtes darin finden möchte. Im übrigen hat sich der überstrapazierte Signifikant als wahrer Sauerteig erwiesen, nicht anders als das Signifikat der Evangelien. Von Anfang an war er eine Quelle der Gewalt und des sozialen, ökonomischen und politischen Dominanzstrebens. Die Quelle ist nicht der Analyse des marxistischen Signifikanten entsprungen, sondern der verzweifelten Suche nach einem Signifikat, nach einem «Sinn». Die Menschen wollen mit aller Macht einen «Sinn des Lebens» in Marx finden, doch es gelang ihnen nicht, ausgehend vom marxistischen Homo faber, diesem Werkzeug- und Warenhersteller mit seinen Produktionsverhältnissen, einen «sinnstiftenden Sender» zu ermitteln, oder eine «Botschaft», deren Träger homo faberwäre (und dessen «Trägereigenschaften» Marx logisch analysiert); geschweige denn einen «Empfänger», der die Botschaft zu decodieren in der Lage wäre. Enttäuscht nahmen die Menschen zur Kenntnis, daß sie in Marx’ Schriften nur ein Regelwerk vorfanden, eine Gebrauchsanweisung fürs Leben, die uns keinen Zugang zur geheimnisvollen Schaltzentrale verschafft, in der die eigentlichen Entscheidungen getroffen werden. Umgekehrt haben die Christen, die sich im Besitz des christlichen Signifikats wissen, haben im marxistischen Signifikanten eine zeitgemäßere Terminologie gesucht, als es ihre Parabeln sind, um ihr Signifikat in Worte zu kleiden. Daher rührt, so meine ich, die gegenseitige Annäherung vieler Christen und Marxisten. Es bleibt aber die große Frage, ob es möglich ist, das Reale und das Imaginäre zur Deckung zu brichen, das «Modell» mit dem «Werk». Denn das Signifikat, das wir heute in der christlichen Botschaft zu entdecken glauben, ist nur, was uns unser gegenwärtiger Wissensstand vom Signifikanten zu verstehen erlaubt. Das eigentliche Faszinierende ist aber, daß dieses menschgewordene Imaginäre – das in letzter Konsequenz nichts anderes sein kann als wir selbst– womöglich eine Invariante aufweist, die so essentiel ist, daß sie den Menschen ein für allemal von seiner angeborenen Angst befreien könnte.  

 

<H. L., Une foi, in: Éloge de la fuite, Paris: Robert Laffont 1976; Übersetzung H. A.>