Henri Laborit  Vermischte Auszüge

 

Wenn Ihnen jemand erzählt, er kenne die ideale Erziehungsmethode, dann vertrauen Sie ihm Ihre Kinder besser nicht an.

 

Was der Tod uns nimmt mit der biologischen Matrix, die nie für sich allein das Individuelle aufrechterhalten kann, das sind die Anderen ... Das zeigt sich andersherum auch deutlich in unserer Trauer, die wir beim Tod eines geliebten Menschen empfinden. Wir weinen nicht um ihn, sondern um uns. ¶

 

Tiere sind in der Lage sich zu erinnern und zu lernen. Aber ein Hund kann nicht sprechen, deswegen kann er keine Alibi-Gründe anführen, um sein unbewußtes Handeln aufzuwerten. ¶

 

Kultur ist das, was unverkäuflich ist. ¶

 

Gewalt, die nichts von sich weiß oder die sich gerechtfertigt sieht, steht im fundamentalen Widerspruch zur Evolution der Art. Man muß sie bekämpfen – und ihr vergeben, denn sie weiß nicht, was sie tut. ¶

 

Grundsätzlich die Partei des Schwächsten einzunehmen ist eine Regel, die uns erlaubt, praktisch nie etwas bereuen zu müssen. ¶

 

Die schlimmste Krankheit der Menschheit sind nicht die Gefäßerkrankungen und Krebs, wie man uns glauben machen will, sondern es ist das Denken in Hierarchien. Hierarchien aller Art. ¶

 

Die ideale Gesellschaft

Es ist kein Pessimismus, sondern Optimismus zu erkennen, daß es die ideale Gesellschaft nie geben wird ... Es bedeutet, daß wir uns immer nur eine Gesellschaft denken können, die auf unsere Maße zugeschnitten ist, für den heutigen Tag, für dieses Jahr, für dieses Jahrhundert. Wir können nicht wissen, wie die ideale Gesellschaft für die Menschen von morgen aussieht ... Wir müssen uns mit einer «Proximospektive» begnügen, um der «Retrospektive» zu entgehen. Es geht nicht darum, die ideale Gesellschaft zu ersinnen, aus dem einfachen Grund, weil sich unsere Wünsche (désirs) immer im Rahmen unsere jeweiligen Erfahrung bewegen ...

 

Jede Generation verändert, was die vorherige Generation geschaffen hat und verändert somit auch das Ideal, verlagert es in eine Richtung, die in unbekanntes Terrain führt. Und so, Schritt für Schritt, mit verbundenen Augen und immer im Glauben, es besonders gut zu machen, verläßt sie die ausgetretenen Wege der Vergangenheit und findet neue Wege und Richtungen, die niemand zu imaginieren vorher in der Lage gewesen wäre ...

 

Unsere Rolle ist beschränkt. Sie beschränkt sich darauf, die Grammatik zu verbessern, im vollen Bewußtsein, daß wir nie die Semantik erfassen werden. Darauf, sich Schritt für Schritt einem Ziel zu nähern, das wir nicht kennen können, unter Zuhilfenahme von Arbeitshypothesen, die unser zunehmendes Wissen unaufhörlich korrigiert ...

 

Die Geschichte wiederholt sich nicht, sie ist ein Transformationsprozeß. Die einzige Konstante in ihr ist der genetische Code, der die menschlichen Nervensystem ausmacht. Aber diese verfügen über eine einzigartige Eigenschaft: Die langsam verfließende Zeit prägt sich ihnen ein mit Hilfe der Sprache. Die neueren Erkenntnisse auf dem Gebiet der Verhaltensforschung sind auch Teil der Geschichte des Menschen. Bislang hat der Mensch Geschichte gemacht, ohne zu wissen wie. Er hat die Welt verändert und sich stets gewundert, daß das Resultat nicht seinen Wünschen (désirs) entsprach. Er hat ideale Gesellschaften ersonnen und nur erneut für Krieg, Partikularismus und Dominanzhierarchien gesorgt. Er hat noch nicht begriffen, daß die Funktionsweise des Nervensystems wesentlichen Anteil an der Syntax hat, und er begeht immer wieder die gleichen Fehler, wenn er eine wesentliche Regel der Psycholinguistik nicht beachtet: daß das Unbewußte berücksichtigt werden will.

 

Ich glaube, es ist eine neue Zeit angebrochen, jetzt, da die ersten Seiten des großen Buches der lebenden Welt aufgeschlagen wurden. Die Hoffnung bestünde darin, das neue Wissen [der Neurowissenschaften; H. A.] zu nutzen, nicht um die ideale Gesellschaft zu entwerfen, sondern vorderhand eine neue Stadt zu bauen, und daß dabei vielleicht zum ersten mal nicht die verstaubten Baupläne aus babylonischen Tagen herangezogen werden.

 

Ich bin geneigt zu behaupten, die eigentlich Rolle des Menschen auf diesem Planeten sei eine politische.

 

<H. L., Éloge de la fuite, Paris: Robert Laffont 1976; Übersetzung H. A.>