Otto Rank   Der Künstler

 

Der psychische Apparat verdankt seine Ausgestaltung, die sich mit unbewußter Notwendigkeit vollzog, lediglich dem Streben nach Gewinn von Lust und nach Verhütung von Unlust, nach Abwendung innerer Not, die an den Menschen mit der höheren Kultur immer drängender herantrat. Die Ausgestaltung der Psyche hatte eine Komplizierung des ganzen Mechanismus zur Folge, über dessen wunderbare Leistungen der Mensch staunte. Er konnte sich diese Wirkungen nur aus der Betätigung überirdischer Wesen erklären, wie er sie hinter den elementaren Mächten vermutete, denn auch den Kräften in seinem Innern mußte er sich wie eine Naturkraft beugen. Die Naturgötter aber hatte er nur vermocht, sich als Wesen vorzustellen, die ihm ähnlich, die aber zugleich mächtiger als er selbst und ihm überlegen waren. Nach Analogie dieser Götter dachte er sich nun auch die Macht, die seine gesamt Tätigkeit lenkte: er nannte sein Unbewußtes Gott und rechtfertigte es auf diese Weise, indem er sich den persönlichen Gott nach seinem Ebenbilde und dem Vorbild der geliebten und gefürchteten Eltern schuf.

Aber wie er sein Unbewußtes mißverstand, so verkannte er auch die vom Unbewußten veranlaßte und geleitete Kultur; als er ihre wohltätige Wirkung bemerkte, begann er, die Kultur für den eigentlichen Zweck und ihre höchste Vervollkommnung für das Ziel des Universums zu halten; er sah hier, wie in allen wesentlichen Dingen, anthropomorphistisch, betrachtete das Mittel als den Zweck, hielt die Vorlust für die Endlust (Wahn). Mit dieser Auffassung änderte sich aber sein Verhältnis zur Kultur; sie wurde eine selbständige Macht, sie bekam gleichsam die Oberhand über den Menschen, und das Streben nach Lust verbarg sich hinter der Forderung, höhere Kulturwerte zu schaffen. Unter diesem Vorwand werden Triebe, die früher in hohem Ansehen standen, als Hindernisse der gemeinschaftlichen Kulturtätigkeit, gewaltsam von außen her unterdrückt und gezwungen, andere Arten der Befriedigung zu suchen.

 

Die Kulturentwicklung der großen historisch bekannten Völker bewegte sich, als Ganzes betrachtet, vom «Urzustand» bis zur Hysterie: von der «Allsexualität» bis zur Antisexualtität, bis zur stärksten Sexualablehnung; zwischen diesen beiden Polen aber lag bisher die gesamte kulturelle Tätigkeit des Menschengeschlechtes. Die Kunst nun – Philosophie und Religion eingerechnet – ist der höchste Ausdruck dieser Tätigkeit, sie ist gleichsam der Gipfel, von dem die Kultur nach beiden Seiten hin abfällt. Die Kunst entwickelt sich vom kindlichen Traum bis zur überweiblichen Neurose und erreicht ihren Höhepunkt in den Zeiten der größten psychischen Not, wo das Volk durch seine Künstler über dem Abgrunde der Hysterie mit der bewundernswerten Virtuosität eines Nachtwandlers zu balancieren vermag.

 

Der Künstler steht in psychologischer Beziehung zwischen dem Träumer und dem Neurotiker; der psychische Prozeß in ihnen ist dem Wesen nach gleich, er ist nur graduell verschieden, so wie innerhalb der künstlerischen Begabungen selbst. Die höchsten Formen des künstlerischen Menschen – der Dramatiker, der Philosophie und der «Religionsstifter» – stehen dem Psychoneurotiker, die niedrigsten Formen dem Träumer am nächsten. Der Philosoph objektiviert (projiziert) gleichsam sein Leiden, er ist sozusagen der Zuschauer, der Dramatiker lebt es mit seinem Gestalten durch – er ist dem Schauspieler zu vergleichen –und der «Religionsstifter» erlebt es selbst: er ist der Hysteriker. Im Künstler herrscht aber, im Gegensatz zum Träumer und zum Neurotiker, eine gewisse Aktivität vor, die ihm den Anschein des Krankhaften nimmt. Vom antisozialen neurotischen Symptom, das danach strebt, den Kranken aus der für ihn unerträglichen Wirklichkeit herauszuheben, unterscheidet sich das Kunstwerk dadurch, daß es sich gerade an die Menschen wendet und um Gefallen bei ihnen wirbt. Die Regression von der unbefriedigenden Wirklichkeit in die Phantasiewelt macht der Künstler zwar, genau so wie der Neurotiker, aber er findet, wie Freud sagt, mittels des nur ihm eigentümlichen Produktionsvermögens wieder den Weg zur Realität zurück, was dem Träumer spontan, dem Neurotiker aber trotz verzweifelter Anstrengungen nicht mehr gelingt. Die bewußte Gegenüberstellung des Ichs zur Realität, die als eine der Bedingungen der Menschwerdung angesehen werden darf, führt schließlich zu einer Entfremdung von der Wirklichkeit, die der Künstler in Anlehnung an das gleichfalls der Anpassung an die Wirklichkeit dienende kindliche Spiel in der Weise aufhebt, daß er zunächst für sich eine eigene Welt erschafft, die es ihm durch allgemeine Anerkennung ermöglicht, in der eigentlichen Realität Erfolge zu erringen. Der künstlerische Schöpfungsakt, der ein getreues Abbild der Phantasie in die Außenwelt zu versetzen imstande ist, verzichtet ebenso durch unmittelbares Handeln die Realität zu verändern, wie er es verschmäht, in hysterischer Weise eine Körperveränderung (Symptom) an die Stelle einer äußeren Aktion zu setzen. Auch in dem für den Grad der Gesundheit entscheidenden Verhalten zur Realität steht also der Künstler zwischen dem normalen Träumer und dem Neurotiker. Aber das Übermaß von Passivität, das jeder Künstlernatur zugrunde liegt, prägt dem Produzieren doch das Sympton des Leidens auf. Der Künstler ringt sein ganzes Leben hindurch mit Konflikten, für deren Wahrnehmung der normal entwickelte Mensch schon frühzeitig unempfindlich wird. Er trägt gleichsam die Leiden für alle anderen Menschen, ebenso wie es Hysteriker vermögen, «die Erlebnisse einer großen Reihe von Personen, nicht nur die eigenen, in ihren Symptomen auszudrücken, gleichsam für einen ganzen Menschenhaufen zu leiden und alle Rollen eines Schauspielers allein mit ihren persönlichen Mitteln darzustellen» (Freud, «Traumdeutung»). Nur hat der Künstler dieses Leiden weder tendenziös, wie der Hysteriker, noch freiwillig wie der Religionsstifter auf sich genommen, sondern er glaubt, die Menschheit habe sie ihm aufgebürdet, um sich selbst davon zu befreien: er verachtet die Menge, die ihrerseits dagegen den Künstler durch besondere Verehrung auszeichnet und diese Schätzung der Person, die den Künstler zum großen Manne stempelt, in eine Überschätzung der Kunst im allgemeinen umsetzt. Denn man darf wohl sagen, daß wenigstens in unserer Kultur die Kunst im großen und ganzen überschätzt wird. Daß die Künstler selbst, für die ja ihr Schaffen einen vollwertigen Ersatz des Lebens bedeutet, diese Meinung vertreten, ist begreiflich und man kann nur den Mut und die Tiefe manches modernen Künstlers bewundern, der wie beispielsweise Hebbel, Flaubert und namentlich Ibsen in seinem «dramatischen Epilog» die schmerzliche Erkenntnis von dem unzureichenden Surrogat ausgesprochen haben, das die Kunstbetätigung an Stelle des lebendigen Lebens bietet.

Steigt nun die Sexualverdrängung im Volke noch höher und toben die Leidenschaften innerlich so heftig, daß die «Kunst» zu ihrer Paralysierung nicht mehr ausreicht, so schaffen sich die «Unterdrückten» unbewußt eine Idealfigur des Künstlers; einen Menschen, der die Menge liebt, der alle ihre Leiden freiwillig auf sich genommen hat und sie allein durch seine Sühne (Aufwand) aus der Welt schafft, um dadurch die Menschheit gleichsam auf künstliche Weise in eine Art von Naturzustand zurück zu versetzen und sie von der Verlockung zur Sünde, die die Ursache dieser Leiden war, – vom Willen zur Kultur, zum Lusterwerb – zu befreien. Die Triebe sind so weit abgeschwächt, daß die Erfüllung der Wünsche in ein Jenseits verlegt werden kann, wobei nur der Glaube an die Liebe, das heißt an die Existenz der Idealfigur, Hoffnung auf Genesung gewähren kann (Heiland). Religion ist also gewissermaßen eine psycho-therapeutische Massenkur, die das Volk zu seiner eigenen Heilung erfunden hat, ebenso wie die Kunst – eingerechnet Philosophie – eine ähnliche von einem Individuum praktizierte Kur ist, und zwar zunächst für sich und eine beschränkte Anzahl von Leidensgenossen, deren psychische Konstitutionen gleichsam die Ansätze zu der psychischen Struktur des Künstlers bilden. Die Kur des Neurotikers dagegen muß individualisierend von Fall zu Fall durchgeführt werden: er ist der vollkommene Egoist, der für das Volk leidende «Religionsstifter» ist sein Gegensatz, und der Künstler steht zwischen beiden, was die verschiedene Wertschätzung mit bedingt. ¶

 

Der in der philosophischen Wissenschaft die höchsten Triumphe feiernde Forschungsdrang verrät seinen Zusammenhang mit dem kindlichen Forschungstrieb nach den großen Geheimnissen der Erwachsenen in seiner pathologischen Verzerrung, der Grübelsucht der Zwangsneurotiker, die auch sonst durch ihre überscharfe Intelligenz, ihr Interesse für übersinnlichen Dinge und ihre ethischen Skrupel dem Typus des Philosophen nahe stehen; zugleich verraten sie auch die narzißtische Natur der Selbstbespiegelung des eigenen Denkens und dessen intensive Sexualisierung, die immer weiter weg vom ursprünglichen sinnlichen Inhalt der Vorstellungen zur Lustbetonung der Denkoperationen selbst gelangt. Dem neurotischen Grübelzwang, der pathologischen Erklärungssucht, dem die Tatkraft lähmenden Zweifel der Zwangskranken entspricht die philosophische «Verwunderung» über sonst unbeachtetes Geschehen, die logisch motivierte, pedantische Gedankenordnung nach dem Prinzip der Symmetrie, das strenge Kausalitätsbedürfnis, das sich mit Vorliebe an die unerforschbaren, von ewigen Zweifeln umwogten tiefsten Probleme des individuellen und kosmischen Daseins heftet. Die Systembildung, die als religiöse oder mythologische Fassade die Projektionen der individuellen Konfliktlösung ins Kosmische erweitert, findet ihr gut verstandenes pathologisches Gegenstück in den Wahngebilden vieler Paranoiker, deren narzißtische Identifizierung mit Gott auf die Psychologie des Religionsstifters ein Licht wirft, während der Zwangsneurotiker in seiner psychischen Struktur dem Philosophen nahesteht und der Hysteriker eine Karikatur des Künstlers darstellt. ¶

 

Der äußerliche Gott mit seinem Lobe der Schöpfung: und siehe da, es war sehr gut, ist ein schwerer Irrtum gewesen, ein Ausdruck jener ungeheuerlichen «Umkehrung der Affekte» (Abwehr), mit der alle menschliche «Erkenntnis» einsetzt; und erst die Philosophie brachte es in vieltausendjähriger Arbeit endlich in Schopenhauer zur Umwertung aller psychischen Werte im Groben: des Menschen «Wille» ist der lange gesuchte Gott, der alles lenkt und leitet, und nun darf sich der Mensch vermessen, ein Urteil über die Welt zu fällen: und siehe da, es war sehr schlecht. ¶

 

Der Neurotiker ahmt vieles nach, was er von anderen nervösen Kranken hört oder sieht, weil er fühlt, daß es auch ihm Erleichterung schaffen wird. Bleibt der Künstler, statt den dynamischen Weg der Aneignung zu betreten, auf dem der unbewußten Imitation stecken, so enstehen, je nach dem Geschick dieser Nachahmung, die Werke minderen Ranges. Dem echten Künstler aber täuscht die Natur durch einen Wahn seine hohe Berufung vor und entlockt ihm, indem sie seiner Ruhmsucht und seinem Ehrgeize schmeichelt, den Krankheitskeim im Werke. Der diesem «Wahn» entspringende Glaube jedes bedeutenden Künstlers, daß seine Kunst die höchste sei, ist zum Schaffen unbedingt notwendig und eine Steigerung der bei der analytischen Kur erforderlichern Unterdrückung der Selbstkritik, ein Nichtbeachten alles Fremden, eine geistige Blindheit für alles Äußere, ein Hinhorchen auf die Stimmen des Innern, kurz eine Wirkung der automatischen Arbeitsweise des Unbewußten.

 

Der Glaube, in künstlerischer Hinsicht über den Vorgänger hinausgegangen zu sein, der nur in Beziehung auf das Fortschreiten im Bewußtsein gerechtfertigt wäre, ist eine im Unbewußten sich abspielende Abwehr der Ahnung, daß sein Werk auch eine Kur sei. Mit diesem Glauben hängt der Wunsch des Künstlers, sein Werk anerkannt zu sehen, innig zusammen: er ist der unbewußte Zwang, seinen «Glauben» allgemein bestätigt und dadurch den Wahn aufgehoben zu sehen; das muß aber vom Empfangenden geschehen und ist gleichsam der Gegendienst, den der Künstler von denen fordert, die sich mit seinem Werke kurieren wollen. Auch hat der in gewissem Sinne unverschämte Mitteilungs- (Enthüllungs-) trieb des Künstlers viel Gemeinsames mit der Beichte und der Absolution (Religionsstifter).

 

Das Kunstwerk wird zwar immer mit vollem Bewußtsein produziert, aber gerade deswegen muß es schließlich auf diesem Wege in Wissenschaft umschlagen, die hinter die Triebkräfte des Kunst selbst kommen, die alles bewußt machen will: denn «das richtige Bewußtsein ist Wissen von unserem Unbewußten» (R. Wagner). Zu diesem Bewußtsein vermag aber nur ein allgemeines Wissen hinzuleiten. Durch die Erkenntnis einzelner kann für die Allgemeinheit nicht viel gewonnen werden; es müßte jeder die Erkenntnis selbst, gleichsam am eigenen Leibe machen, ehe er sie besitzen und verwerten kann ... Die fortwährend Aufwandersparnis der Menge rächt sich schließlich: es muß jeder selbst einmal seine psychische Arbeit leisten, wenn er wirklich wissend werden will. ¶

 

‹O. R., Der Künstler. Ansätze zu einer Sexualpsychologie, Wien und Leipzig 1907 / 1925›

 

 

Otto Rank   Der Mythus von der Geburt des Helden

 

Daß man zum Verständnis der Mythenbildung auf ihre letzte Quelle, die individuelle Phantasietätigkeit, zurückgehen müsse, ist schon von vielen Forschern hervorgehoben worden; ebenso die Tatsache, daß man diese Phantasietätigkeit in lebhafter, ungehemmter Entfaltung nur beim Kinde antrifft ... Beim normalen erwachsenen Menschen lassen sich diese kindlichen Regungen schlechterding nicht studieren; ja man kann sogar im Hinblick auf gewisse seelische Störungen sagen, daß die psychische Normalität des Normalen eben darin besteht, daß er sein kindliches Vorstellungs- und Phantasieleben überwunden, richtiger gesagt, gut verdrängt hat: da fehlt uns also der Weg. Beim Kinde dagegen läßt uns die empirische Beobachtung, die in der Regel nur oberflächlich bleiben kann, bei der Erforschung seelischer Vorgänge im Stich, da wir noch nicht imstande sind, aus allen Äußerungen richtig auf ihre Triebkräfte zu schließen: hier fehlt uns also das Instrument. Bloß eine Klasse von Menschen, die sogenannten Psychoneurotiker, die, wie uns die Forschungen Freuds gelehrt haben, gleichsam in gewissem Sinne Kinder geblieben sind, wenn sie sich auch sonst als Erwachsene präsentieren, haben ihr kindliches Seelenleben sozusagen nicht aufgegeben; es hat vielmehr bei ihnen im Laufe der Reife eine Verstärkung und Fixierung statt einer modifizierenden Entwicklung erfahren. Beim Psychoneurotiker ist die Infantilität gesteigert erhalten und dadurch zu pathologischen Wirkungen befähigt, die uns diese sonst unbeachteten Regungen vergröbert, sozusagen in mikroskopischer Vergrößerung zeigen.

 

Die Mythen werden gewiß nicht vom Helden selbst, am allerwenigsten vom kindlichen Helden, sondern, wie wir zu wissen glauben, von einem Volke von Erwachsenen gebildet. Den Anstoß dazu gibt allerdings das Staunen über die Erscheinung des Helden, dessen außergewöhnlichen Lebensgang sich das Volk nur von einer ... wundersamen Kindheit eingeleitet denken kann. Diese außergewöhnliche Kindheit des Helden aber gestalten einzelne Mythenschöpfer – in solche müssen wir wohl den unbestimmten Begriff der Volksseele auslösen – aus ihrem eigenen Kindheitsbewußtsein heraus. Und indem sie dem Helden so ihre eigene Kindheitsgeschichte unterlegen, identifizieren sie sich mit ihm, sagen gleichsam: so ein Held war ich auch. So ist also der eigentliche Held der Romandichtung das Ich, das im Helden sich selbst wiederfindet, indem es sich in die Zeit zurück versetzt, wo es selbst ein Held war durch seine erste Heldentat, die Auflehnung gegen den Vater. ¶

 

Im revolutionären Sieg des Helden über die ihm entgegenstehenden tyrannischen Mächte ist aber nicht nur ein Stück infantiler Tendenz, sondern ... noch mehr ein Stück vorzeitlicher Urgeschichte repräsentiert. Während aber im Heroenmythus der Held die Urtat der Beseitigung des störenden Tyrannen, die in der Vorgeschichte die «gemeinsame» Heldentat der vereinigten Brüder gewesen zu sein scheint, gleichsam als eigene Leistung usurpiert (Freuds «heroische Lüge»), ist es vielmehr das einzelne bürgerliche Durchschnitts-Ich, das in der Identifizierung mit dem Helden seinen alten Anspruch an der kulturbildenden Urtat geltend macht. Der Heldenmythus dient also nur scheinbar der Anerkennung und Bewunderung des mythisch erhöhten Heros, während sich eigentlich in ihm das ganze Volk der Mythenschöpfer als Helden fühlen kann (Nationalheros). ¶

 

Man kann von diesem Gesichtspunkt aus im Heldenmythus auch einen ironisch-parodistischen Zug konstatieren, indem der bürgerliche Durchschnittssohn (Fischer, Hirt, Müller) sich einen mächtigen König zum Vater phantasiert und sich gleichsam auf diese Weise einen Urvater-Popanz schafft, um ihn – in Identifizierung mit den Helden – zu stürzen und sich so in eine Heldenrolle zu versetzen, die unter nicht heroischen  Verhältnissen lächerlich wirken müßte. ¶

 

Die Überreste aus der menschlichen Urgeschichte, die uns in den Mythen mit wunderbarer Frische erhalten sind, wenn man sie nur zu entziffern versteht, machen es sehr wahrscheinlich, daß der Urvater auf seine mühsam erkämpften Vorrechte auf Nahrung und Frauen nicht leicht verzichtete und daß es nach einer Andeutung Freuds das Weib, das ihm die Kinder gebar, gewesen sein dürfte, das ihn allmählich an die Schonung und Anerkennung der jungen Generation gewöhnte. Auf diese Weise wurde das von Natur aus innige Band zwischen Mutter und Kind befestigt, während die von Anfang an zweifelhafte Zugehörigkeit des Vaterss sich weitter lockern konnte, wie denn auch die extreme Form des Mythus den Vater als fremen Tyrannen, die Mutter dagegen als hilfreiches Säugetier kennt. So ist es zu verstehen, wenn wir einen ironischen Sinn darin zu sehen meinten, daß für das Durchschnitts-Ich die Vaterüberwindung schon im Geborenwerden besteht, welches eigentlich die Heldentat des Durchschnittsmenschen bleibt, die er gegen den Willen des Vaters und mit Hilfe der ihm engverbündeteten Mutter vollbringt, welche ja auch im Mythus als schützendes Totemtier erscheint, während der Vater seine vortotemistische Raubtierrolle in wenig gemildertert Form weiterspielt. ¶

 

Es wird ... in diesen Mythen nicht klar ausgesprochen, daß der Konflikt mit dem Vater auf die sexuelle Rivalität bei der Mutter zurückgeht. Vielmehr erscheint die Mutter, um die der Kampf ursprünglich geführt wird, in diesem Mythenkreis bereits von Anfang an als eng Verbündete des aufrührerischen Sohnes, die ihn vor den Nachstellungen des Vaters rettet (gebiert). Im Mittelpunkt dieser Mythen steht zweifellos die Geburt als eines der größten und gefahrvollsten Mysterien für den primitiven Menschen – wie übrigens noch für unsere Kinder –, dessen symbolische Lösung in der uralten Storchfabel zu einer einseitigen Überschätzung der mütterlichen Rolle führt, während die zweifelhafte Rolle des Vaters in tendenziöser Weise vernachlässigt oder gar völlig abgeleugnet wird. Die Kinder kommen im Kästchen aus dem Wasser, wohin sie der Vater ausgesetzt hat, gegen seinen Willen heraus: das besagt der Mythus in symbolischer Einkleidung und will damit dem Vater überhaupt das Recht absprechen, über das Leben des Kindes zu verfügen, das von der Mutter kommt und von ihr geschützt wird. Möglicherweise spiegelt sich in diesen Mythen unmittelbar eine Stufe der Sexualerkenntnis, welche die Rolle des Vaters noch nicht voll erfaßt hatte in in ihm nur den störenden Bedroher der eigenen Selbständigkeit und den Konkurrenten erblickte. Wie dem auch sei, der Mythus spricht jedenfalls dem Vater das Recht auf das Leben des Kindes ab, das von der Mutter komme, und rechtfertigt gleichzeitig die Auflehnung gegen ihn, als einen fremden Menschen, dem man keinerlei Rücksicht und Dankbarkeit schulde. So macht der Held sein Gewissen für seinen Kampf gegen die Autorität frei! ¶

 

‹O. R., Der Mythus von der Geburt des Helden. Versuch einer psychologischen Mythendeutung, Leipzig u. Wien 1909/1922›

 

 

Otto Rank   Das Trauma der Geburt

 

Schon die normalen, von der Analyse als libidinös erkannten Funktionen des Kindes, die Nahrungsaufnahme (Saugen) und die Ausstoßung der Stoffwechselprodukte verraten die Tendenz, die unbeschränkten Freiheiten des pränatalen Zustandes so lange als möglich fortzusetzen. Wie wir aus der Analyse der Neurotiker wissen, gibt das Unbewußte diesen Anspruch, den das Ich zugunsten der sozialen Anpassung zurückstellen muß, niemals auf, und ist jederzeit bereit, in Zuständen seiner Vorherrshaft, die sich der Ursituation annähern (Traum, Neurose, Koma), damit hervorzutreten.

 

Die aus dem Geburtstrauma stammende ständige Angstbereitschaft des Kindes, die sich gerne auf alles mögliche verschiebt, äußert sich noch in ganz direkter, sozusagen biologischer Weise in dem auch kulturgeschichtlich bedeutsamen, charakteristischen Verhältnis des Kindes zum tode. Was uns dabei zunächst überrascht hat, war nicht die Tatsache, daß das Kind die Todesvorstellung gar nicht kennt, sondern daß es auch hier, ähnlich wie auf dem Gebiete der Sexualität, lange Zeit nicht imstande ist, ensprechende Erfahrungen und selbst Aufklärungen ihrer wirklichen Bedeutung zu akzeptieren. Es ist eines der größten Verdienste Freuds, unsere Aufmerksamkeit auf diese negative Todesvorstellung des Kindes gelenkt zu haben, die sich darin äußert, daß es beispielsweise verstorbene Personen wie zeitweise abwesende behandelt. Bekannt ist auch, daß das Unbewußte diesen Standpunkt niemals aufgibt, wofür nicht nur der unausrottbare, in immer neuen Formen auflebende Unsterblichkeitsglaube Zeugnis ablegt, sondern auch die Tatsache, daß wir von Verstorbenen wie von Lebenden träumen.

 

*

 

Es ist besonders in letzter Zeit wiederholt bemerkt worden, daß unsere gesamte Mentalität und Welteinstellung den männlichen Standpunkt so sehr in den Vordergrund rückte und den weiblichen fast gänzlich vernachlässigt hat. Vielleicht das krasseste Beispiel für diese Einseitigkeit auch es sozialen und wissenschaftlichen Denkens ist die Tatsache, daß lange und bedeutsame Perioden der menschlichen Kulturentwicklung unter dem Einfluß des von Bachofen «entdeckten» und sogenannten «Mutterrechtes», d. h. der Vorherrschaft der Frau standen und es erst einer besonderen Anstrengung, der deutlichen Überwindung von Widerständen bedurfte, um diese offenbar auch aus der Überlieferung «verdrängten» Perioden wiederzufinden und als Tatsachen zu akzeptieren. Wie weit diese Einstellung sogar noch in uns Psychoanalytikern nachwirkt, zeigt sich darin, daß wir in der Regel die Sexualverhältnisse stillschweigend nur für den Mann darstellen, wie wir vorgeben der Einfachheit wegen oder wenn wir ehrlicher sind, aus mangelhaftem Verständnis des weiblichen Lebens. Ich glaube kaum, daß diese Einstellung die Folger einer sozialen Unterschätzung der Frau ist, wie Alfred Adler meinte, sondern umgekehrt, beides der Ausdruck jener Urverdrängung, welche das Weib wegen seiner ursprünglichen Verbindungk mit dem Geburtstrauma auch sozial und intellektuell herabzusetzen und zu verleugnen sucht.

 

*

 

Der Zustand des Schlafes, der sich allnächtlich automatisch herstellt, legt die Auffassung nahe, daß auch der normale Mensch, wie zu erwarten, das Geburtstrauma eigentlich nie ganz überwindet, da er ja die Hälfte seiner Lebenszeit in einem dem intrauterinen fast gleichkommenden Zustand verbringt. In diesen Zustand verfallen wir automatisch, sobald es dunkel wird, also wieder wie beim dunklen Zimmer der Kinderangst, wenn die äußeren Umstände dem Unbewußten die Identifizierung mit dem Urzustand nahelegen. Daher wird auch das Dunkelwerden im Vorstellungsleben aller Völker in anthropomorpher Angleichung als Rückkehr der Sonne in den Mutterleib (Unterwelt) aufgefaßt. ¶

 

Der infantile Charakter des Traumes geht also viel weiter zurück und ist viel tiefer fundiert als wir bis jetzt uns anzunehmen getrauten, weil wir mit unserem Bewußtsein, das zur Wahrnehmung der Außenwelt geschaffen ist, dieses eigentliche tiefeste Unbewußte nicht erfassen konnten. ¶

 

Wenn wir versuchen, die nächsten Konsequenz aus dieser Tatsache zu ziehen, so müssen wir darauf gefaßt sein, verschiedenen Einwendungen zu begegnen, die uns vor allem gerade von der sogenannten Realität, d. h. der Außenwelt, entgegengehalten werden, an der ja schließlich doch die Macht des Unbewußtn, und wenn wir uns sie auch noch so groß vorstellen, ihre natürliche Grenze finden müsse. Nun wollen wir gewiß nicht so weit gehen, die reale Außenwelt zu leugnen, obwohl gerade die großartigsten Denker in der menschlichen Geistengeschichte, zuletzt noch Schopenhauer in seiner idealistischen Philosophie, sich einer solchen Einstellung stark annähern. Die «Welt als Vorstellung», d. h. als meine individuelle Vorstellung in meinem Ich, hat eben doch gute psychologische Gründe, deren analytische Aufdeckung die Realität der Außenwelt nicht einschränkt und doch die Macht der «Vorstellung» erklärt. Wenn wir alles dem Ich als Objekt der Außenwelt Gegenüberstehende in das von Natur aus Gegebene und alles andere als vom Menschen Geschaffene teilen, so ergeben sich zwei Gruppen, die wir als Natur und Kultur zusammen können. Von der Kultur läßt sich nun, angefangen von den primitivsten Erfindungen, wie dem Feuer und den Werkzeugen, bis zu den kompliziertesten technischen Leistungen, zeigen, daß sie nicht nur vom Menschen, sondern auch nach dem Menschen gebildet sind, dessen anthropomorphe Weltanschauung von dieser Seite her erst ihre Berechtigung erhält. Es würde zu weit führen, diese Auffassung, die von der Ur- und Kulturgeschichte in gleich Weise wie von der Analyse die stärksten Beweise erhalten hat, hier im Detail zu begründen. Wesentlich ist das Verständnis des psychologischen Mechanismus, mittels dessen alles «Erfinden», das eigentlich ein Herausfinden von etwas latent Vorhandenem ist, und somit die gesamte Kulturschöpfung, vor sich geht, die sich in den Mythen als menschliche Weltschöpfungen nach dem Muster der eigenen Schöpfung spiegelt. ¶

 

Wir glauben die «Symbolik» als wichtigste Mittel zur Realanpassung in dem Sinne verstanden zu haben, daß aller «Komfort», den Zivilisation und Technik fortwährend zu steigern suchen, nur durch immerwährende Substitutioin das Urziel zu ersetzen sucht und sich dabei im  Sinne der sogenannten Entwicklung immer weiter davon entfernt ... Denn die vom Menschen geschaffene Realwelt selbst hat sich uns als eine Kette ununterbrochen erneuerter Symbolbildungen erwiesen, die aber nicht bloß einen Ersatz für die verlorene Urrealität darstellen sollen, die sie möglichst getreu nachbilden, sondern gleichzeitig so wenig als möglich an das daran hängende Urtrauma erinnern dürfen. ¶

 

Haben wir so die «Symbolbildung» als das eigentlich menschliche Urphänomen erkannt, das den Menschen zum Unterschied vom Tier befähigt, statt der Veränderung des eigenen Körpers (Autoplastik wie beim Giraffen, der sich «nach der Decke», d. h. dem Futter streckt), die Außenwelt in derselben Weise als genauen Abklatsch des Unbewußten zu gestalten (Alloplastik), so erübrigt noch, mit einem Wort auch des eigentlich intellektuellen Ausdrucksmittels zu gedenken, das gleich dem aufrechten Gang den Menschen vom Tier fundamental unterscheidet: der Sprache und ihrer Entwicklung. Die merkwürdige analytische Erfahrung, daß einerseits die Übereinstimmungen in der Symbolik als einer lautlosen Universalsprache über die Sprachgrenzen weit hinausgehen, andererseits verblüffende sprachliche Gleichklänge und Anklänge sich bei Völkern finden, bei denen eine direkte Beeiflussung gänzlich ausgeschlossen erscheint, wird mit einem Schlage verständlich, wenn wir die Symbolik nicht als Niederschlag der Sprachbildung, sondern diese als Fortentwicklung der «Ursymbolik» verstehen. ¶

 

*

 

Weit naiver als die unter dem Zeichen der mythischen Kompensation erfolgende Heroenbildung verraten die Kindermärchen, d. h. die Märchen, in denen der Held selbst noch als Kind, also vorwiegend leidende Person auftritt, die typischen Reaktionen auf das Urtrauma. neben dem bereits analytisch gewürdigten Geburtsmärchen vom Rotkäppchen, das sogar die Asphyktie des aus dem Wolfsbauch geschnittenen Kindes und seinen Blutandrang zum Kopfe (Rotkäppchen) nicht vergißt – (und seinen Varianten: sieben Geißlein usw.), sei hier nur, als die vielleicht eindeutigste Darstellung des Geburtsthemas, das Märchen von Hänsel und Gretel genannt, welches aus dem Kinder verschlingenden Tier wieder die böse Urmutter (Hexe) macht und zeigt, wie die postnatale Situation der Lebensnot (Hunger) durch immer neue Darstellungen des mühelos ernährenden Mutterleibes ersetzt wird: im Schlaraffenlandmotiv vom eßbaren Haus, im Käfig, wo man so dick gefüttert wird, daß man schließlich heraus muß, aber nur, um wieder in den heißen Backofen zu kommen. ¶

 

Wenn also selbst die Todesstrafe, die in der biblischen Erzählung die Vertreibung aus dem Paradies wiederholt und verschärt, letzten Endes als die definitivste Wunscherfüllung des Unbewußten erscheint, so steht dies in vollem Einklang mit der infantilen Auffassung des Sterbens als Rückkehr an den Ort, woher man gekommen ist. ¶

 

*

 

Die letzte Tendenz aller Religionsbildung liegt in der Schaffung eines helfenden und schützenden Urwesens, in dessen Schoß man aus allen Nöten und Gefahren flüchten kann und zu dem man schließlich in ein jenseitiges, zukünftiges Leben zurückkehrt, welches das getreue, wenn auch stark sublimierte Abbild des einmal verlassenen Paradieses ist. Am konsequentesten ist diese Tendenz ausgebildet in der die gesamte antike Weltanschauung zusammenfassend abschließenden christlichen Mythologie, mit ihrem reich bevölkerten Himmel, der allerdings eine Wiedervermenschlichung der altorientalischen Himmelsmythologie darstellt, an die dann in einem späteren Verdränungsschub die mittelalterliche Astrologie mit ihren Geburts-Horoskopen wieder anknüpft, um dann schließlich in der wissenschaftlichen Astronomie, die noch reichlich unbewußt-phantastische Elemente enthält, zu münden. (Die Astrologie könnte man eigentlich als die erste Lehre vom Geburtstrauma bezeichnen: Des Menschen ganzes Wesen und Schicksal wird davon bestimmt, was im Moment seiner Geburt (am Himmel) vorgeht.)

 

Wir wissen nun durch Freuds Aufklärungen, daß die Dämonen sich ursprünglich auf die Furcht vor den Toten beziehen, d. h. dem nach außen projizierten Schuldgefühl entsprechen ... Der Weg vom Dämonen- zum Götterglauben ist mythologisch und folkloristisch gut erforscht; das psychologische Agens der ganzen Entwicklung liegt aber im allmählichen Ersatz der angstbesetzten Muttern (Dämonen) durch die an die «sublimierte» Angst, das Schuldgefühl, appellierende Vatergestalt.

 

Der Vatergott ist an Stelle der angst-lustbesetzten Urmutter gesetzt worden, um ganz im Sinne des Freudschen «Totemismus» die soziale Organisation zu schaffen und zu gewährleisten. Jeder Rückfall in die Mutterverehrung, der sich nur sexuell auswirken kann, gilt darum als antisozial und wird mit allen Schrecken des sog. religiösen Fanatismus verfolgt, der aber letzten Endes, wie auch die soziale Revolution, auf Erhaltung und Verstärkung der väterlichen Macht zum Schutz der sozialen Gemeinschaft hinauslauft. ¶

 

Unter diesen Gesichtspunkten können wir, neben der von Freud geschilderten sozialen Entwicklung der «Brüderhorde» zur Gemeinschaft, auch deren religiöse Entwicklung ein Stück weiter verfolgen, und zwar in Übereinstimmung mit unserer Annahme von der sozialen Entwicklung (König-infans), als Übergang des Muttelkultus zur Vaterreligion über die Sohn-Gottschaft, die im Christentum ihren reinsten Ausdruck gefunden hat. Vielleicht beruht die welthistorische Bedeutung des Christentums überhaupt darauf, daß sie es zum erstenmale gewagt hat, den Sohn-Gott in den Mittelpunkt zu stellen, ohne gleichzeitig die ursprünglichen Rechte der Mutter und die sekundären des Vaters anzutasten. Dem entspricht auch die hohe Bewertung des Kindes durch Christus in den Evangelientexten. Christus selbst ist immer infant geblieben, wie ihn auch die Bildwerke –selbst noch als Toten – darstellen (Pietà).

 

Erweist sich so das infans – letzten Endes das Ungeborene – als Gott, ganz wie sein Statthalter auf Erden, sei es nun der König oder noch stärkeren Einschränkungen unterworfene Papst, so wird gefolgert: jede war einmal selbst «Gott» und kann es wieder werden, wenn bzw. so weit er sich wieder in den Urzustand zurückversetzen kann und deswegen ist jeder so leicht imstand, sich mit dem späteren «einen und einzigen Gott» zu identifizieren.

 

*

 

Vergleichen wir ... nur flüchtig das klassische Zeitalter der griechischen Kunst mit seinen orientalischen Vorläufern, so können wir sagen, daß die Griechen die affektiv erlebte Tendenz, sich vom Mutterleib zu lösen, die in den Sphinx- und Kentaurgestalten einen so eigenartigen Ausdruck gefunden hat, in der ganze Entwicklung ihrer Kunst konsequent durchgeführt haben, indem sie die tierischen Götter der asiatischen Welt durch menschliche, ja in Homers Darstellung allzu menschlichen Fabelwesen, an denen die griechische Mythologie so überreich ist, scheinen den Schmerz und die Qual dieser Loslösungsbestrebung von der Mutter widerzuspiegeln, dessen Resultat wir in dem edelgeformten, von allem Menschlichen losgelösten und doch so menschlich gebliebenen Körper ihrer Bildwerke, insbesondere des nackten Jünglings, bewundern. ¶

 

Wie unvollkommen (die) Verdrängung des Weibes gelungen ist, blickt noch in den ehelichen Zwistigkeiten des Göttervaters Zeus mit der Muttergöttin Hera durch, die schon bei Homer des komischen Beigschmacks nicht entbehren dun die Figur des göttlichen «Pantoffelhelden» rechtfertigen, den Offenbach aus dem abenteuerlustigen Ehemann gemacht hat. – Das christliche Gegenstück dazu ist des Teufels Großmutter, die auch unbestrittene Herrin der Unterwelt bleibt. ¶

 

Der Übergangs- und Knotenpunkt (der) entscheidenden Wendung zu unserer abendländischen Kulturentwicklung liegt in Kreta, wo sich bekanntlich zuerst ägyptische Einflüsse mit griechischen zur mykenischen Kultur vermengt haben. Wie diese nach Furtwängler in der Greiffigur die deutlichsten Übereinstimmungen mit dem Sphinxtypus des Neues Reiches zeigt, so brachte sie auch den ganz ägyptisch anmutenden Minotaurus hervor, der gänzlich in Menschengestalt, nur mit einem Stierkopf gebildet ist. Das Gefängnis der Mißgeburt, das berühmte Labyrinth, ist seit dem bedeutsamen Fund Weidners auch dem analytischen Verständnis zugänglich geworden ... Weidner hat aus Inschriften erkannt, daß es sich bei den unentwirrbar verschlungenen dunklen Gängen des Labyrinths um Darstellungen der menschlichen Gedärme handelt (»Palast der Eingeweide» heißt es in den von ihm entzifferten Inschriften), deren analytische Auffassung als Gefängnis der mißgebildeten Gestalt (Embryo), die den Ausgang nicht finden kann, im Sinne der unbewußten Wunscherfüllung klar ist. ¶

 

Die homerische Darstellung gibt uns ein gutes Beispiel davon, wie der Dichter beim Versuch der Rückerinnerung peinlicher historischer Ereignisse auf die eigenen unbewußten Wunschphantasien zurücksinkt. Während die Ilias nur die vergeblichen Kämpfe um Troja schildert, wird in der Odyssee der ruhmreiche Abschluß dieses zehnjährigen Ringens rückschauend erzählt. Der kluge Held läßt in der berühmten Geschichte vom hölzernen Pferd, in dessen Bauch versteckt die Achäischen Helden in das Innere der Festung gelangen, die Kämpfe ihren Abschluß finden. Diese menschlich und poetisch gleich tiefe Überlieferung zeigt deutlich, daß es sich letzten Endes für die vom Mutterboden gewaltsam vertriebenen Auswanderer um die Wiedergewinnung des ewig jungen und schönen mütterlichen Ideals (Helena) auf fremdem Boden handelte, und zwar in der dem Unbewußten einzig möglichen Form der Erfüllung, der Rückkehr in den tierischen Mutterleib, die der furchtlosen Helden sonst so wenig als Zuflucht und Versteck würdig wäre, wenn wir nicht wüßten, daß gerade ihre Heldennatur sich von der Schwierigkeit des Geburtstraumas und der Kompensation der Angst ableitet. ¶

 

Die sprichwörtliche Schlauheit und Verschlagenheit des Odysseus, die übrigens allen «Himmelsstürmern» der griechischen Mythologie eignet und ihnen den Sturz in den Tartaros und die Höllenstrafen einträgt, wirft ein bedeutsames Licht auf die Psychologie des Dichters. Odysseus, der als Erzähler all dieser Lügenmärchen, welche die Rückkehr in den Mutterleib berichten, ganz offenbar als Vertreter der Dichters selbst auftritt, darf wohl als Repräsentant und Urvater des epischen Dichters überhaupt aufgefaßt weden, dessen Funktion es zu sein scheint, das Urtrauma durch lügenhafte Übertreibungen zu entwerten und dabei doch die Illusion einer hinter der Urphantasie liegenden Urrealität aufrecht zu erhalten. Noch die spätesten Nachfahren dieser Gattung, wie der berühmt gewordene Baron von Münchhausen, suchen das Unmögliche, nie zu Erreichende – ja der Natur direkt Widersprechende, z. B. sich selbst an den Haaren aus dem Wasser zu ziehen und anderes mehr – als die leichteste Sache von der Welt darzustellen, wobei gerade die Unmöglichkeit der Situation fürs Unbewußte das am meisten beruhigende und befriedigende Element darstellt. ¶

 

So steht die Kunst als Darstellung und gleichzeitige Verleugnung der Wirklichkeit dem kindlichen Spiel nahe, von dem wir erkannt haben, daß es das Urtrauma durch das Bewußtsein des Unernstes zu entwerten sucht. Von dan führt ein Weg zum Verständnis des Humors, dieser höchsten Stufe der Verdrängungsüberwindung, durch eine ganz bestimmte Einstellung des Ich zum eigenen Unbewußten, dessen Genese wir aber hier nicht weiter verfolgen können ...

 

*

 

Die Eroslehre Platos, die von psychoanalytischer Seite bereits mehrfach gewürdigt wurde, stellt den menschlichen Zeugungstrieb in den Mittelpunkt der Welterklärung, indem sie auf den verschiedenen Stufen des Eros die sinnliche, seelische, philosophische und religiöse (mythische) Einstellung nachweist. Hier ist zum erstenmal das philosophische Problem an der Wurzel erfaßt, und wir dürfen uns daher auch nicht wundern, wenn Plato zur Darsellung seiner Lehre auf Bilder zurückgreift, die den biologischen Tatsachen ganz nahe kommen. Er faßt den Eros als die Sehnsucht nach einem verlorenen Zustand, ja noch deutlicher nach einer verlorenen Einheit auf und erklärt auch in seinem berühmten Gleichnis von dem in zwei Hälften geschnittenen Urwesen, die nach Wiedervereinigung streben, das Wesen des Geschlechtstriebs. Dies ist die deutlichste bewußte Annäherung an das Verlangen nach Wiedervereinigung des Kindes mit der Mutter, die bisher in der menschlichen Geistesgeschichte erreicht wurde und an die erst Freud wieder mit seiner Libidotheorie anknüpfen konnte.

 

Hatte in Plato die philosophische Erkenntnis des Menschen ihren Höhepunkt erreicht, so bleibt nur zu erklären, was die Denker der folgenden zwei Jahrtausende zwang, sich von dieser großartigen Synthese und Idealisierung der naiven naturphilosophischen Entwicklung des frühen Griechentums wieder abzuwenden und die krausen Wege der Verdrängung und intellektuellen Verschiebung einzuschlagen. Plato war der gesuchten Urerkenntnis so nahgekommen, daß eine starke Reaktion unvermeidlich wurde, als deren Träger wir seinen unmittelbaren Schüler und Nachfolger Aristoteles erkennen. Diesem gelang durch Abwendung vom philosophisch formulierten Urtrauma die naturwissenschaftliche Eroberung eines neuen Stückes der Wirklichkeit, mit der er der Vater der eigentlichen Natur- und Geisteswissenschaften wurde. Dazu aber mußte er wieder den Blick nach innen verschließen und in zwangsneurotischer Verschiebung der verdrängten Urlibido auf die Denkvorgänge die logisch-dialektische Spekulation zur höchsten Blüte bringen, von der das ganze abendländische Philosophieren bis auf Schopenhauer gezehrt hat, der erst wieder auf die indische Urweisheit und ihre philosophische Darstellung bei Plato zurückgriff. ¶

 

Die philosophischen Mystiker stellen ... die direkte Fortsetzung der religiösen Mystik, des Versenkens in das eigene Innere dar. Nur nennen sie den Gott, den sie jetzt in ihrem eigenen Innern aufsuchen, Erkenntnis, aber das Ziel ist das gleiche: die unio mystica, das Einswerden mit dem All. Daß diese mystische Erlebnis stark sexuell gefärbt ist, die Vereinigung mit der Gottheit unter dem Bilde einer geschlechtlichen Vereinigung (Erkennen = coire) geschaut und empfunden wird, weist nur auf den libidinösen Urgrund des ganzen Strebens, die Rückschau in den Urzustand hin.

 

*

 

Es scheint, daß der Urangstaffekt der Geburt, der das ganze Leben hindurch, bis zur neuerlichen Trennung von der allmählich zur zweiten Mutter gewordenen Außenwelt im Tode wirksam bleibt, von Anfang an nicht bloß Ausdruck physiologischer Beeinträchtigungen (Atemnot – Enge – Angst) des Neugeborenen ist, sondern infolge Verwandlung einer höchst lustvollen in eine äußerst unlustvolle Situation sogleich einen «psychischen» Gefühlscharakter bekommt. Diese empfundene Angst ist so der erste Inhalt der Wahrnehmung, sozusagen der erste psychische Akt, welcher der noch ganz intensiven Tendenz zur Wiederherstellung der eben verlassenen Lustsituation die erste Schranke entgegensetzt, in der wir die Urverdrängung zu erkennen haben. Die Konversion, deren normale Äußerungen Freud in dem sogenannten körperlichen Ausdruck der Gemütsbewegung erkannte, erweist sich so als identisch mit der Entstehung des Psychischen aus der Körperinnervation, d. h. mit dem bewußten Eindruck der wahrgenommenen Urangst. Wäre diese rein physiologisch, so könnte sie wahrscheinlich früher oder später auch voll abgeführt werden; so aber wird sie psychisch verankert, um die Rückstrebung (Libido) zu verhindern, die sich dann in allen späteren Zuständen, wo Angst entwickelt wird, an diesem Grenzwall der Urverdrängung bricht. Das heißt, der wahrgenommene und psychisch fixierte Eindruck der Urangst löscht die Erinnerung an den vorangegangenen Lustzustand aus, verhindert damit die Rückstrebung, die uns lebensunfähig machen würde, wie ja der «mutige» Selbstmörder, der diese Angstgrenze rückschreitend zu passen vermag, beweist.

 

Der Trieb ist tatsächlich nichts anderes als die nächste Reaktion auf die psychisch verankerte Urangst, sozusagen der durch diese modifizierte Instinkt, indem das Ich in seinem Rückdrang von der Angstgrenze immer wieder aufs neue vorwärts getrieben wird, das Paradies statt in der Vergangenheit in der nach dem Ebenbild der Mutter gestalteten Welt zu suchen und, soweit dies mißlingt, in den großartigen Wunschkompensationen der Religion, Kunst und Philosophie. Denn diese ungeheure Anpassungsleistung gelingt in der Realität erstmalig nur einem Typus Mensch, den uns die Geistesgeschichte als Heros überliefert hat, soweit es sich um ein Gestalten realer Werte handelt, und den wir als «Künstler» im weitesten Sinne des Wortes bezeichnen möchten, soweit es sich um ein Schaffen ideeller Werte, des phantastischen Überbaus handelt, der aus den in der Realschöpfung unbefriedigten Resten der Urlibido geschaffen wird. Der normale Mensch wird dann in diese das Ursymbol bereits repräsentierenden Welt hineingeboren und findet die dem durchschnittlichen Verdrängungsgrad entsprechenden Befriedigungsmöglichkeiten bereits als fertige Formen vor, die er aus seiner individuellen Urerfahrung nur wieder zu erkennen und zu gebrauchen hat («Symbolik»).

 

Aber auch was uns biologisch als Todestrieb erscheint, kann nichts anderes anstreben, als den bereits erlebten Zustand vor der Geburt wiederherzustellen, und der «Wiederholungszwang» rührt von der Unerfüllbarkeit dieses Strebens her, das immer wieder in neuen Formen alle Möglichkeiten erschöpft. Diesen Vorgang heißen wir biologisch gesprochen «Leben». Ist es im Verlaufe desselben dem durch das Geburtstrauma losgelösten «normalen» Individuum auch gelungen, unter den geschilderten Schwierigkeiten der Kindheitsentwicklung und mit Vermeidung neurotischer Rückfälle, sich die Außenwelt als die «beste aller Welten», nämlich als Mutterersatz, anzupassen, so zeigt sich, daß doch das Unbewußte inzwischen mit zäher Beharrlichkeit den ihm vorgeschriebenen Rückweg eingeschlagen hat, der es gegen den Willen des Ich doch zu seinem ursprünglichen Ziele zurückführt. Dieser Vorgang, den wir «Altern» nennen, muß sich aber zur Erreichung dieses unbewußten Zieles auf die systematische Zerstörung des ganzen Körpers verlegen, den es durch Krankheiten aller Art schließlich zum Tode führt. Im Moment des Sterbens trennt sich der Körper neuerdings von dem Mutterersatz, der «Frau Welt», deren Vorderseite schön und wohlgebildet, deren Rückseite jedoch häßlich und grauenerregend gedacht wird, welche Trennung für das Unbewußte doch leicht ist, da es sich ja nur um das Aufgeben eines Ersatzes zur Erlangung der eigentlichen Seligkeit handelt. Hier wurzelt nicht nur die populäre Vorstellung vom Tod als Erlöser, sondern auch das Wesentliche aller religiösen Erlösungsideen. Andererseits ist die schreckhafte Vorstellung des Todes als Sensenmann, der Einen mit gewaltigem Schnitt wieder vom Leben trennt, auf die Urangst zurückzuführen, die der Mensch beim letzten Traum, dem letzten Atemzug des Todes, zum letztenmal reproduziert und so aus der höchsten Angst, der Todesangst, noch den Lustgewinn der Negierung des Todes durch Wiederbelebung der Geburtsangst zieht. Wie ernst es dem Unbewußten mit der Auffassung des Sterbens als einer Rückkehr in den Mutterleib ist, geht aus den Totenriten aller Völker und Zeiten hervor, welche die Störung des ewigen Schlafes (durch den Vater) als die größte Unbill und den ruchlosesten Frevel ahndet.

 

Wir müssen uns ... davor hüten, in den von Nietzsche mit Recht kritisierten «Sokratismus» zu verfallen, einer Gefahr, der aber auch Sokrates selbst schließlich auf gewaltsame Weise entging. Wir alle sind immer noch viel zu sehr «theoretische Menschen» und geneigt zu glauben, daß das Wissen tatsächlich schon «tugendhaft» mache. Das ist, wie gerade die Psychoanalyse bewiesen hat, durchaus nicht der Fall. Die Erkenntnis ist etwas vom Heilfaktor durchaus Verschiedenes. Das tiefste Unbewußte ist seinem Wesen nach ebensowenig zu ändern wie andere lebenswichtige Organe des Menschen; das einzige, was wir in der Psychoanalyse erreichen können, ist eine veränderte Einstellung des Ich zum Unbewußten.

 

‹O. R., Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse, Leipzig, Wien u. Zürich 1924›