Otto Rank   Technik der Psychoanalyse (II)

 

Im Moment, wo wir kausal erklären, erklären wir historisch, und im Moment, wo wir historisch erklären, interpretieren wir, weil wir uns selbst, unsere eigene Entwicklung, unsere damaligen Motive und Antrieb, immer nur im Lichte unserer gegenwärtigen, augenblicklichen Willens- und Bewußsteinshaltung betrachten können.

 

In diesem Sinne gibt es gewiß keine unbewußten Komplexe, ja nicht einmal ein Unbewußtes im topischen Sinne des Wortes. Die unerledigten oder traumatischen Erlebnisse werden nicht ins Unbewußte verdrängt und dort aufbewahrt, sondern sie werden im aktuellen Erleben fortwährend fortgesetzt, entgegengesetzt, zu Ende erlebt und auch zu ganz neuen Erlebnissen verarbeitet. Da, im wirklichen Erleben, wie es sich auch in der therapeutischen Aktion abspielt, ist nicht nur die ganze Gegenwart, sondern auch die ganze Vergangenheit enthalten ... Das Unbewußte ist eben, wie der ursprüngliche Sinn seines Namens anzeigt, ein rein negativer Begriff, der etwas bezeichnet, was (momentan) nicht bewußt ist, während ihn die Theorie Freuds zum gewaltigsten Machtfaktor im Seelenleben erhoben hat. Der Grund dafür ist aber in keiner psychologischen Erfahrung gegeben, sondern in einer moralischen Notwendigkeit, nämlich einen akzeptablen Ersatz für den Gottesbegriff zu finden, der das Individuum von der Verantwortung befreit. ¶

 

Die Wahrheit ist kein realer historischer, sondern ein aktueller psychologischer Begriff. ¶

 

Das Seelische ist so sehr ein Gegenwartsphänomen, daß das Individuum umgekehrt alles Vergangene nur als gegenwärtig denken und empfinden kann, wie beispielsweise die Traumerfahrung eindringlich lehrt. Denn Denken und Empfinden, Bewußtsein und Wollen, können immer nur gegenwärtig sein. Alles Erinnern und Vergessen hängt nur davon ob, ob der Wille im gegenwärtigen Augenblicke die Vergangenheit bejaht oder verneint, verleugnet oder akzeptiert. ¶

 

Die Gegenwart ist immer mehr peinlich, weil sie eben Gegenwart, d. h. aktuelles Wollen und Fühlen, beim neurotischen Typus noch vermehrt um das quälende Selbstbewußtsein ist. Daher flüchten wir in der Phantasie so gern in Vergangenheit und Zukunft, die, wenn sie gegenwärtig sind, ebenso peinlich und unbefriedigend wirken, wie die Gegenwart, von der wir wegwollen. Deswegen bringt jede Wunscherfüllung auch immer eine Enttäuschung mit sich, weil es eben das Wollen ist, das mehr Lust als Qual bedeutet, wie die Erfüllung in der Regel mehr Enttäuschung als Befriedigung bringt.

 

Das Kausalitätsprinzip ist historisch und das Psychische ist aktuell. In seiner Anwendung auf das Psychische bedeutet daher das Kausalitätsprinzip eine Verleugnung des Willensprinzip, indem es Denken, Fühlen und Handeln des Individuums von außerindividuellen Mächten abhängig macht, umd es von Verantwortung und Schuld zu befreien. ¶

 

Die seelische Kausalität unterscheidet sich von der naturwissenschaftlichen dadurch, daß es dort eine endlose Kette von Ursachen gibt, die man einmal mit der Setzung einer Ur-Sache abschließen muß; sie führt also irgendwie doch zum Glauben, ist letzten Endes darauf basiert. Ob es nun um die naive Lösung der Religion handelt, die im allmächtigen Gott den eigenen Willen als Ur-Sache setzt, oder um irgend eine Ur-Kraft, in der wir doch wieder nur den verleugneten Eigenwillen erkennen. Denn allein im individuellen Willensakte haben wir das einzigartige Phänomen eines Eigenantriebs, das Setzen einer neuen Ur-Sache vor uns. In diesem Sinne repräsentiert nicht nur der Wille, sondern die Individualität als Träger desselben, diese psychologisch neue Tatsache, die die Ursachenkette nicht willkürlich mit irgend einer letzten Begriffsannahme unterbricht, sondern faktisch mit dem Setzen einer neuen Ursache, ja eines neuen Faktums, nämlich der Individualität und ihrer Willensrepräsentanz, beginnen läßt. Dies ist der Sinn des Mythus vom ersten Menschen, d. h. vom Menschen als dem Anfang einer neuen Ursachenreihe, wie er nicht nur im biblischen Adam dargestellt ist, sondern in allen Heroen, die sich gewollt vom Vergangenen lösen, um ein neues Geschlecht wie Adam, eine neue Generation wie Prometheus, ein neues Zeitalter wie Christus zu beginnen.

Aber noch ein anderes in der naturwissenschaftlichen Kausalitätsreihe Neues und Unerhörtes repräsentiert das Individuum

neben seinem Willen und das ist das Bewußtsein, besonders in seiner Form als erkennendes Selbstbewußtsein einerseits und als ein sein Wollen ideologisch rechtfertigendes anderseits, mit andern Worten in seinen psychologischen und ethischen Aspekten. So ist es zu verstehen, warum eine naturwissenschaftliche Psychologie Willen und Bewußtsein leugnen und an ihrer Stelle das unbewußte Es als verursachenden Faktor einsetzen muß, das sich moralisch in nichts vom Gottesbegriff unterscheidet, ebenso wie sich die Sexualität in nichts vom Teufelsbegriff unterscheidet. Mit anderen Worten, auch die naturwissenschaftliche Psychoanalyse gibt dem Individuum nur eine neue andersartige Entschuldigung für sein Wollen und Entlastung von der Bewußtseinsverantwortung. Aufgabe einer konstruktiven Therapie, wie ich sie verstehe, ist es aber, das Individuum, das gerade am Verluste dieser Illustion leidet und auch die wissenschaftliche zu zersetzen beginnt, jenseits dieser Rechtfertigungstendenzen zur willigen Akzeptierung seiner selbst und seier eigenen Verantwortlichkeit zu führen. ¶

 

Man kann ... eine heutige Neurose weder historisch noch individuell aus der Vergangenheit verstehen. Freud hat diesen Projektionsfehler nicht nur therapeutisch im einzelnen Falle gemacht, indem er die aktuelle Neurose aus der infantilen verstehen und erklären wollte, sondern auch in der Theoriebildung, indem er das mit allem Wissen beladene und belastete moderne Individuum aus einer früheren Entwicklungsstufe verstehen und erklären wollte. Dabei ist die Ausschaltung des ganzen aktuellen Bewußtseinsinhalt, die eben das Wesen des Individuums ausmacht, gleich folgenschwer, ob es sich nun um ein Verstehen aus der individuellen Kindheit oder ein Erklären auf irgend einer mythologischen Stufe angeblicher Primitivität handelt.

 

Alle die positiven und negativen «Übertragungs-Erscheinungen», wie sie die Psychoanalyse inhaltlich zu beschreiben und zu erklären versuchte, lassen sich unter (dem) Geschichtspunkte des Willenskonflikts und seiner verschiedenen Lösungsversuche verstehen. Der willensgebrochene Neurotiker will sich zunächst im Therapeuten einen «strengen Gott» setzen, der erlaubt und verbietet, d. h. aber die moralische Verantwortung für den ethischen Willenskonflikt des Patienten übernimmt. Indem der Analytiker dieser Versuchung nicht nachgibt, wird er zu einem «liebenden» Gott, der scheinbar alles gestattet, versteht und verzeiht. Anstatt nun dies im Sinne des Willenskonflikts zu verstehen und konstruktiv auszuwerten, nimmt die Freudsche Methodik diesen in der Situation selbst gelegenen therapeutischen Vorteil nicht nur nicht wahr, sondern wieder zurück, indem sie dem Patienten eine neue inhaltliche Rechtfertigungsideologie in der Theorie des Unbewußten und des Ödipuskomplexes gibt ...

Der Patient sucht den Willenskonflikt inhaltlich zu machen, hauptsächlich indem er den ihm gerade verbotenen, versagten Analytiker will, und zwar real will, anstatt seinen Symbolwert zu erkennen. Dieser bedeutet aber nicht die Elternautorität oder ein früheres Liebesobjekt, was ja wieder nur real – wenngleich historisch – ist; sondern der Analytiker symbolisiert als Objekt der Bewunderung, Anbetung, Verehrung das eigene personifizierte Willens-Ich, ähnlich wie der Gott, der nur irreal bleibt; als Objekt des Liebesbedürfnis repräsentiert er die eigene ethische Forderung, die den Willen gutheißen und rechtfertigen soll, genau wie der Partner im realen Liebesverhältnisse ... Dieser ewige Menschheitskonflit zwischen der Personifikation des eigenen Willens im Andern (Gott) und der Personifikation des ihn gutheißenden ethischen Ideals im Andern (Liebe), mit anderen Worten zwischen religiösem Gefühl und erotischem Gefühle, spielt sich in der therapeutischen Situation vor unseren Augen ab. Und in beiden Sphären als Kampf zwischen der Tendenz zur Verinhaltlichung, zur Realisierung, und dem Wunsch nach Irrealität, die aber im Sinne der konstruktiven Therapie Ichheit, d. h. Selbständigkeit und Unabhängigkeit bedeutet. Denn die Personifikation der Gottschöpfung muß irreal bleiben, wenn sie ihren Zweck, den Eigenwillen darzustellen, erfüllen soll: daß der Gott realiter nicht existiert, ist sein seelischer Wert, da damit seine ganze Größe und Macht von selbst auf das Individuum zurückfällt.

 

In der Liebe und duch die Liebe, sei sie nun eine göttliche oder menschliche, kann sich das Individuum selbst akzeptieren, d. h. seinen eigenen Willen, weil der Andere es tut, ein Anderer es tut. Jede Art von Erziehung sucht dagegen das Individuum im Sinne einer bestimmten Norm zu ändern, d. h. aber zwangsmäßig den Inhalt seines Wollens zu bestimmen. Daher ist die Erziehung auf Moral basiert, die Liebe auf Ethik, ja sie kann dauernd nur existieren, wenn sie ethisch, d. h. aber im Sinne der Willensrechtfertigung wirkt und nicht als Willenszwang. Daher kann Liebe bekanntlich nicht erzwungen werden, weil der Zwang ihr gerade entgegengesetzt ist, und Erziehung kann nicht ausschließlich auf Liebe beruhen, weil si sonst ihr Ziel nicht erreicht – gleichgültig, ob wir dieses als wünschenswert bezeichnen oder nicht. Eine konstruktive Therapie muß beide Prinzipien soweit als möglich zugunstn der ethischen Selbstbestimmung vermeiden.

 

Denn die ganze moralische Ehrlichkeit, wie sie die analytische Situation mit ihren «freien Assoziationen» prätendiert, ist wertlos und fruchtlos, solange sie nicht wahrhaftig im ethischen Sinne wird. Dies kann sie aber nur sein, wenn der ganze Konflikt, den Freud als «Übertragungs- und Widerstandsäußerungen» erklärt, von allen inhaltlichen Rechtfertigungs- und psychologischen Verleugnungstendenzen losgelöst und als rein innerer Willenskonflikt des Individuums selbst behandelt wird. Mit anderen Worten, man darf den Konflikt nicht real-wirklich machen, sondern muß ihn seelisch-wahr werden lassen, was nur im therapeutischen Erlebnisse möglich ist. Dies allein macht ein ganzes Stück Schuldreaktion vermeidlich, das für die Freudsche Technik unauflöslich bleibt und den Patienten entweder im «Widerstande» weggehen oder in der «Übertragung» fixiert bleiben läßt.

Der Analytiker darf sich eben nicht zu einer Autorität irgend welcher Art aufspielen wollen, sonder muß sich mit der Rolle eines «Hilfs-Ich» zufrieden geben. ¶

 

Die in der schöpferischen Phantasie sich manifestierende Willensdurchsetzung ist kein Ersatz für Realbefriedigung, sondern etwas Wesensverschiedenes: Die Realbefriedigung kann niemals in der Phantasie ersetzt werden, ebenso wie auch die Phantasiewünsche niemals von der Realität befriedigt werden können. Die beiden Sphären sind und bleiben deshalb getrennt, weil in der einen, der Phantasie, das Individuum immer selbstherrlich im Sinne seines Willens schafft, was es zwar im günstigen Fall auch in der Realität tun kann; nur ist hier das Material das andere Individuum mit seinem eigenen (Gegen-) Willen, während in der Phantasie das Ich selbst das Material und den Gegenwillen liefert. ¶

 

Wir können ... die Selbstbestimmung definieren als ein gewolltes und bewußtes Schaffen seines eigenen Schicksal, d. h. aber kein Schicksal im äußeren Sinne haben, sondern sich selbst als Schicksal und schicksalschaffende Macht akzeptieren und bejahen. Dieses eigene innere Schicksal gehört zur Selbstbestimmung auch im Sinne des lustvollen Willenskampfes mit uns selbst, des Konflikts, den wir auch bejahen, solange wir ihn bewußt-gewollt selbst schaffen und nicht neurotisch als Zwang stärkerer überirdische Mächte oder irdischer Autoritäten interpretieren. Alles hängt eben davon ab, wie dieses unvermeidliche Selbstschaffen unseres Schicksals von unserem Gefühl empfunden und von unserem Bewußtsein interpretiert wird; und dies wird wieder davon bestimmt, ob wir ein wesentlich äußeres oder inneres Ideal haben, in dessen Sinne wir uns selbst und unser Schicksal schaffen wollen. Hier ist es, wo das Gegeneinanderspiel von Wille, Gefühl und Denken sich in die Aktion umsetzt, die das Außen, die Realität gestaltet und umgestaltet. Das «wahre» Selbst des Individuums verrät sich aber in keiner dieser Sphären, sondern immer nur das andere Selbst, das war wir sein wollen, weil wir es nicht sind, im Gegensatz zu dem, was wir geworden sind und nicht sein wollen.

 

Wenn wir einmal anstatt nach den Krankheitsursachen des Neurotikers zu suchen, uns nach den Gesundheitsursachen der anderen Menschen fragen, so zeigt sich, daß sie alle auf Unverständnis, Mißverstehen, Nichtverstehen um seine eigene Psychologie, kurz auf Illusionen beruhen. Das Wissen des Durchschnittsmenschen um seine eigenen seelischen Vorgänge und Motivierungen erweist sich als so falsch, daß es nur in seiner kompletten Unechtheit, in einer durch keinerlei Wissen getrübten Illusion real wirkt. Die Realität ist immer gefühlsmäßig falsch ...

 

Der Patient braucht ... Weltanschauung und wird immer Weltanschauung brauchen, weil der Mensch immer Glauben braucht, und dies um so mehr, je mehr ihn die zunehmende Selbstbewußtheit zum Zweifeln bringt. Die Psychotherapie brauchte sich ihres weltanschaulichen Charakters auch gar nicht zu schämen, wenn sie imstande ist, dem Leidenden den weltanschaulichen Glauben zu geben, den er braucht, nämlich den Glauben an sich selbst. ¶

 

‹O. R., Technik der Psychoanalyse. II. Die analytische Reaktion in ihren konstruktiven Elementen, Leipzig und Wien 1929›

 

 

Otto Rank   Wahrheit und Wirklichkeit

 

Die Hauptaufgabe bleibt ... die Darstellung des Hauptaktors und gleichzeitigen Hauptzuschauers, des individuellen Ich in seiner Doppelrolle im Erlebnisse. Diese Doppelrolle besteht jedoch nicht nur in der des Akteurs und Selbstbeobachters, sondern hat noch einen anderen Sinn; nämlich den, daß für den Kulturmenschen das Milieu nicht mehr die natürliche Realität, also der wirklich äußere starke Gegner ist, sondern eine von ihm selbst geschaffene künstliche Realität, die wir in ihren äußeren wie inneren Aspekten als Zivilisation bezeichnen. In diesem Sinne steht der Kulturmensch, selbst wenn er nach außen hin kämpft, kaum mehr einem «natürlichen» Gegner gegenüber, sondern im Grunde genommen sich selbst, seiner eigenen Schöpfung, wie sie sich insbesondere in Sitten und Gebräuchen, Moral und Konventionen, sozialen und kulturellen Institutionen spiegelt. Das damit umschriebene Phänomen ist von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der menschlichen Beziehung zur Außenwelt ebenso wie zum Nebenmenschen. Denn während Freuds Realpsychologie wesentlich den Einfluß äußerer Faktoren, sozusagen des Milieus auf die Entwicklung des Individuums und Aufbau seines Charakters betonte, habe ich schon im «Künstler» [1907] diesem biologischen Prinzip das für die Entwicklung des eigentlich Menschlichen bedeutsame geistige Prinzip gegenübergestellt. Es basiert für mich im Wesentlichen auf der Auffassung, daß dieses von außen hineingenommene (mittels Identifizierung inrojizierte) Innen im Lauf der Zeit eine selbständige Großmacht geworden ist, die ihrerseits auf dem Wege der Projektion das Außen so beeinflußt und zu verändern sucht, daß es immer mehr und mehr dem Innen entspricht. Das ist im Wesentlichen, was ich im Gegensatz zur Anpassung als Schöpfung bezeichne und als Willensphänomen auffasse ...

Dieser Gesichtspunkt der Beeinflussung und Umgestaltung des Milieus durch das Individuum schließt also die Idee des Schöpferischen (des Typus «Künstler») in sich, für die in Freuds Weltbild kein Platz ist, da dort alle individuellen Äußerungen als Reaktionen auf soziale Einflüsse oder biologische Instinkte erklärt und somit auf Außerindividuelles reduziert werden.

 

In diesem kursorischen Überblick möchte ich den schöpferischen Typus vorläufig nur dahin charakterisieren, daß er ... befähigt ist, aus dem Triebhaft-Elementaren gewollt zu schöpfen; anderseits seine höheren Instanzen jenseits der Identifizierungen der Über-Ich-Moral zu einer Idealbildung zu entwickeln, die diesen schöpferischen Willen im Sinne der Persönlichkeit bewußt lenkt und beherrscht. Das Wesentliche dabei ist, daß er dieses sein Ich-Ideal aus sich selbst entwickelt, d. h. nicht bloß auf Grund gegebener, sondern auch selbstgewählter Faktoren, und daß er ihm bewußt nachstrebt.

 

Im Sinne unserer Auffassung könnte man sagen, daß beim Menschen mitunter selbst triebhafte Äußerungen nur ein schwacher unzureichender Ersatz für das sind, was die schöpferische Willenskraft möchte. Also sozusagen: Nicht die Phantasieprodukte «Ersatz» für unerreichte Wirklichkeit, sondern alle erreichbare Wirklichkeit nur ein schwacher Ersatz für das unerschöpfliche Wollen.

 

Wahrscheinlich war das Bewußtsein ... früher lediglich ein Sinnesorgan zur Wahrnehmung äußerer Qualitäten (Sinnespsychologie), was es ja auch heute noch ist; später trat dazu die Funktion der Wahrnehmung innerer Qualitäten und eine weitere Entwicklungsstufe des Bewußtseins war die zu einem selbständigen und selbsttätigen Organe zur teilweisen Beherrschung der Außen- und Innenwelt. Schließlich wurde das Bewußtsein zu einem Instrument der Beobachtung und Erkenntnis seiner selbst (Selbstbewußtsein) und als solches wieder hat es in der Psychoanalyse und Willenspsychologie, die ich darauf weiter baue, einen Gipfelpunkt der Entwicklung und Selbsterkenntnis erreicht. Das individuelle Ich befreit sich also immer mehr und mehr mit der Waffe der gesteigerten Bewußtseinsmacht nicht nur von der Herrschaft der umgebenden Naturmächte, sondern auch  vom biologischen Reproduktionszwange des überkommenen Es; es beeinflußt dabei auch auch mehr und mehr positiv die Über-Ich-Entwicklung im Sinne der eigenen Idealbildung und schließlich auch im schöpferischen Sinne die Außenwelt, deren Umgestaltung durch den Menschen ihrerseits wieder auf diesen und dessen Innenentwicklung zurückwirkt.

 

Das Bewußtsein wird vom Willen und den verschiedenen Willenslagen ständig interpretiert, ja das Bewußtsein ist wahrscheinlich ursprünglich selbst ein Willensphänomen, d. h. ein Instrument zur Durchsetzung des Willens gewesen, bevor es sich zu der den Willen kontrollierenden Macht des Selbstbewußtseins und schließlich des analytischen Hyperbewußtseins aufgeschwungen hat, das seinerseits wieder den Willen und die Willensphänomene ständig interpretiert, um sie so seinen jeweiligen Interessen dienstbar zu machen. Wenn wir nun wirklich Psychologie treiben wollen, müssen wir uns davor hüten, diesen konstanten gegenseitigen Prozeß der Interpretation durch irgendeine Theoriebildung weiterzuführen. Die Theoriebildung jeder Art ist dann nur der Versuch, den hundertfältigen spontanen Interpretationsversuchen von Wille und Bewußtsein einen einzigen Interpretationsversuch als konstanten, dauernden, «wahren» gegenüberzustellen. Dies ist aber auf Grund unserer eben angestellten Erwägungen geradezu antipsychologisch, da das Wesen der seelischen Vorgänge im Wechsel und in der Veränderlichkeit der Interpretationsmöglichkeiten besteht. Der Zwang zur Theoriebildung entspricht dann einer Sehnsucht nach einem festen Halt, nach etwas Konstantem, Ruhendem in der seelischen Erscheinungen Flucht.

 

Therapie kann nie vorurteillos sein, weil sie von dem Standpunkt ausgeht, daß etwas anders sein soll, als es ist ...

 

Der Patient schien anfangs an Triebunterdrückung, an Verdrängung zu leiden; offenbar weil er den Trieb als «schlecht», als unethisch ablehnte. Man könnte sich ganz gut eine Therapie vorstellen, die wirkt, indem eine Autorität (Arzt oder Priester) oder eine liebende Person, dem Individuum diese Triebbefriedigung gestattet. Mit anderen Worten, ihm sagt: Es ist nicht schlecht, wie du vorgibst, sondern gut (notwendig, schön usw.). Diese Therapie hat es immer gegeben und gibt es auch heute noch: in der Religion, in der Kunst und in der Liebe. Auch die Psychoanalyse hat damit begonnen, ist es aber im Wesentlichen immer geblieben. Erst tat sie es direkt, indem Freud seinen Patienten zu einem normalen Sexualverkehr riet, d. h. psychologsich gesprochen, ihn gestattete. Aber auch in all den komplizierten Ausgestaltungen der psychoanalytischen Therapie und Theorie ist noch immer diese eine Rechtfertigungstendenz das eigentlich wirksame therapeutische Agens. Nur heißt es jetzt: Ihre bösen Wünsche – als deren Prototypen das Ärgste, was der Mensch wollen kann: Ödipus- und Kastrationswünsche herangezogen werden – sind nicht böse, oder wenigstens sie sind nicht verantwortlich dafür, denn sie sind universell! Das ist nicht nur richtig, sondern oft sogar auch therapeutisch wirksam. Nämlich bei gläubigen Gemütern – nicht im ironischen, sondern im psychologischen Sinne des Wortes. Bei Menschen, die immer noch irgendeine Entschuldigung für ihr Wollen suchen und es jetzt im «Es» statt in Gott finden. Aber wie die Menschen den sogenannten «Priesterbetrug» durchschaut haben, der eigentlich ein Selbstbetrug ist, so haben sie schließlich jede Art von therapeutischem Selbstbetrug durchschaut, und das ist es gerade, woran sie leiden, das ist die Wurzel der Neurose.

 

Im Ritual, im Kunstgenuß, in der Unterweisung wird der Mensch durch den Anderen, den Priester, den Künstler, den Weisen entlastet und getröstet. Aber im Inhalt dieser therapeutischen Systeme dominiert die Anklage und Strafe als religiöse Demut, Gottergebenheit, als tragische Schuld und Sühne, und als Rechtfertigung im Sinne der ethischen Reaktionsbildung. Mit einem Wort in allen diesen Projektionen des großen Willenskonfliktes gesteht der Mensch auf die eine oder die andere Weise doch, daß er selbst sündig, schuldig, schlecht ist. ¶

 

Der Wille ist an sich ebenso wenig «böse» wie der judenfeindliche Schopenhauer mit dem Alten Testament glaubt, noch so «gut» wie der kranke Nietzsche ihn in seiner Verherrlichung sehen möchte. Er existiert als psychologische Tatsache. ¶

 

Daß der Wille in der Pädagogik verwerflich ist, braucht nicht erst gesagt zu werden, denn die Pädagogik ist offenkundig Willensbrechung wie die Ethik Willenseinschränkung und die Therapie Willensrechtfertigung.

 

Wenn auch meine Willenspsychologie sich nicht gänzlich aus analytischen Erfahrungen ergeben hat, sondern ebenso das Resultat meiner philosophischen, pädagogischen, religions- und kulturgeschichtlichen Studien darstellt, so will ich doch nicht leugnen, daß es wesentlich analytische Erfahrungen waren, die all diese verschiedenartigen und verschiedenwertigen Materialien zu einem psychologischen Erlebnisse für mich kristallisierten ... Was, wird man wohl fragen, ist diese neue Methode und was bezweckt sie, wenn nicht Nacherziehung, da doch «Heilung» der seelischen Leiden ohnehin ausgeschlossen ist! Um es mit einem Wort zu sagen: Selbstentwicklung! Das heißt, der Mensch soll sich selbst zu dem bilden, was er ist, und nicht wie in der Erziehung und noch in der analytischen Therapie zu einem guten Bürger gemacht werden, der die allgemeinen Ideale widerspruchslos annimmt und keinen eigenen Willen hat. Das ist wie jüngst Keyserling treffend bemerkte, die eingestandene Absicht von Adlers nivellierender Heilpädagogik und wie Prinzhorn gesehen hat, die uneingestandene aber deutliche Absicht von der Freudschen Psychoanalyse, die sich so revolutionär gebärdet und so konservativ ist. Verstünde man die Willenspsychologie nur ein wenig, so müßte man übrigens wissen, daß dieser Konservativismus das beste Mittel ist, um Revolutionäre, Willensmenschen zu züchten, die allerdings zumeist von der erdrückenden Mehrheit in die Neurose getrieben werden, wenn sie ihren Willen äußern wollen. Nein, der Mensch, der an der pädagogischen, sozialen und ethischen Willensunterdrückung leidet, muß wieder Wollen lernen und das Nichtaufzwingen des fremden Willens ist anderseits die beste Gewähr dafür, daß es nicht zu Willensexzessen kommt, die meist nur Reaktionen darstellen. Der Mensch soll sich zu dem machen, was er ist, soll es selbst wollen und tun, ohne Zwang oder Rechtfertigung und ohne Nötigung, die Verantwortung dafür abzuwälzen.

 

 

Das Bewußtsein als Erkenntnisinstrument nach Innen gewendet sucht Wahrheit, also innere Wirklichkeit, im Gegensatz zur äußeren Sinnenwahrheit, der sogenannten Realität. Der vom Bewußtsein in die Ich-Sphäre hin aufgehobene Trieb ist die Willenskraft, gleichsam gezähmter, gelenkter, beherrschter Trieb, der sich aber innerhalb der eigenen Individualpersönlichkeit frei, d. h. schöpferisch manifestiert. Und zwar nach außen wie nach innen.

 

In den religiösen Mythen erscheint der eigene schöpferische Wille im Gott personifiziert und der Mensch fühlt sich schon schuldig, wenn er sich anmaßt, gottähnlich zu sein, d. h. sich selbst diesen Willen zuzuschreiben. In den heroischen Mythen dagegen tritt der Mensch selbst schöpferisch auf und die Schuld für sein Leiden und Fallen wird dem Gott zugeschrieben, d. h. seinem eigenen Willen. Aber beides sind nur extreme Reaktionserscheinungen des zwischen seiner Gottähnlichkeit und Nichtigkeit schwankenden Menschen, dessen Wille zur Erkenntnis seiner Macht und dessen Bewußtsein zum Schaudern davor erwacht ist.

 

Zum Schuld- und Sündenbegriff gehört so notwendig der freie Wille wie zur Nacht der Tag. Und wenn es keinen der zahlreichen Beweise für die innere Freiheit des bewußten Wollens gäbe, so wäre die Tatsache des menschlichen Schuldbewußtseins allein ausreichend, um die Willensfreiheit, wie wir sie psychologisch verstehen, über jeden Zweifel zu beweisen. Der Mensch reagiert so als wäre er schuldig, sagen wir, aber er reagiert so, weil er psychologisch schuldig ist, sich verantwortlich fühlt und daher kommt es, daß keine Psychoanalyse in der Welt ihm dieses Schuldgefühl mit dem Nachweis noch so archaischer Komplexe wegeskamotieren kann.

 

Man soll auch dem Individuum nicht nur gestatten, zu wollen, sondern es anleiten, selbst zu wollen, um so das Schuldgefühl, dem es keinesfalls entgeht, wenigstens konstruktiv zu rechtfertigen. Das heißt aber nicht durch Rationalisierungen religiöser, pädagogischer oder therapeutischer Natur, sondern durch die eigene schöpferische Leistung, durch die Tat selbst. ¶

 

Der aktive Heros, der die bewußte Willensmacht repräsentiert, kann handeln, weil er nur seinen Willen, nicht aber dessen Herkunft und Motive kennt; er geht aber eben daran zugrunde, weil er die Konsequenzen seines Tuns nicht voraussehen kann. Der passive Leidmensch kann nicht handeln, weil sein Selbstbewußtsein den Willen hemmt, was sich als Schuldgefühl vor der Tat manifestiert. Der geistig schöpferische Typus, den ich als «Künstler» charakterisiert habe, lebt im ständigen Konflikt dieser beiden extremen Möglichkeiten. Er löst ihn – für sich und die andern – indem er die Willensbejahung schöpferisch in Erkenntnis umsetzt, d. h. aber seinen Willen geistig manifestiert und das unvermeidliche Schuldgefühl in ethische Ideal-Bildung umsetzt, die ihn im Sinne der Selbstentwicklung zu immer höheren Leistungen anspornt und befähigt. ¶

 

Die Sphäre, in der sich alle diese Willens- und Bewußtseinsphänomene abspielen, die wir als Lust und Schmerz, seelisch als Glück und Leid empfinden, ist die Gefühlssphäre, die dem Wollen gleich nahe wie dem Bewußtsein steht und in der alle diese Regungen zusammenstoßen und ineinanderfließen. Das Gefühlsleben repräsentiert daher die stärkste innere Macht. Es ist auch stärker als der Sexualtrieb, der immerhin beherrschbar und irgendwie zu befriedigen ist. Nicht so das Gefühlsleben, das unbeherrschbar und unbefriedigbar ist, ja dessen Wesen geradezu in seiner Unbeherrschbarkeit und Unbefriedigbarkeit besteht. ¶

 

 

Der Zweifel ist ursprünglich bestimmt, die Wahrheit zu erschüttern, er ist der intellektuelle Repräsentant der Verleugnung, und führt erst sekundär zu dem Ringen nach Wahrheit, nach Sicherheit ...

Wie nun der Zweifel den bewußten Gegenwillen repräsentiert, so repräsentiert die Wahrheit intellektuell den Willen. Grob gesprochen könnte man sagen: Wahr ist, was ich will, d. h. was ich zur Wahrheit mache, oder banal gesprochen, was ich glauben will. Auch hier wieder ist das Problem kein inhaltliches, nämlich zu entscheiden, was die Wahrheit ist, sondern was Wahrheit ist, und diese Problemstellung enthält zugleich die Lösung in sich, so wie des Pilatus lakonische Antwort auf die Anmaßung Jesu, er sei gekommen die Wahrheit zu verkünden. Die Wahrheit ist aber nicht nur ein subjektiver Begriff und daher ein psychologisches Problem, sondern sie ist ein Gefühl, wie ihr Gegenstück der Zweifel, von dem man das lang schon erkannte. Beide haben mit der Wirklichkeit nichts zu tun, außer daß sie beide im Gegensatz zu ihr stehen: Wahrheit ist, was ich glaube, bejahe, Zweifel ist Verleugnung, Verneinung. ¶

 

Schon das reine Sinnesbewußtsein ist nicht bloß rezeptiv, sondern vom Willen geleitet und gehemmt. Ich sehe bekanntlich oder höre, was ich will, nicht was ist. Dies letzte muß erst erlernt werden, und zwar durch Überwindung der Tendenz zur Verleugnung alles dessen, was ich nicht sehen oder hören oder wahrnehmen will. Noch deutlicher ist das Denkbewußtsein vom Willen beeinflußt, denn das logische, kausal gerichtete Denken ist positiver Ausdruck des Willens zur Realitätsbeherrschung, nicht nur zur passiven Ausschaltung des Peinlichen. Die dritte Stufe, das schöpferische Bewußtsein oder die Phantasie ist positivierter Ausdruck des Gegenwillens, der hier nicht nur sagt: Ich will nicht wahrnehmen, was ist, sondern will, daß es anders ist, so wie ich es will! Und dies, nur dies ist Wahrheit!

 

Das einzig Wahre, die eigentliche «psychische Realität», ist das Gefühl, nicht aber das Denken, das es zumeist verleugnet oder rationalisiert, und auch nicht notwendigerweise das Handeln, außer es erfolgt aus dem Gefühl heraus und im Einklang damit.

 

Meist verhält es sich so, daß die vom negativen Willensursprung her unser ganzes Seelenleben beherrschende Verleugnungstendenz auf dem Gebiete des Denkens und Handelns, hauptsächlich soweit es die Beziehung zu anderen Menschen betrifft, sich als Selbsttäuschung über seine eigenen Gefühle, d. h. aber die Wahrheit, manifestiert. Das Paradoxe daran ist, daß gerade das, wovon wir bewußt vorgeben, daß es die Wahrheit ist, dies tatsächlich seelisch auch ist. Wir hängen nur dem Gefühl sozusagen diese intellektuelle Verleugnung an, um es uns selbst und den andern nicht zu gestehen. Wieder drängt sich hier der Wille – in seiner negativen Form – vor das Gefühl und muß es sogar noch verleugnen, während er es sanktioniert. Dies ist die psychologische Seite des Sachverhaltes. In Bezug auf das praktische Handeln, die Aktion, ergibt sich, daß wir uns einbilden, eine Rolle zu spielen, wenn es sich um wahre Gefühlsaktionen handelt. Wir spielen dann eigentlich, was wir in Wahrheit sind, empfinden es aber als unwahr, als falsch, weil wir wieder uns selbst nicht akzeptieren können, ohne zu rationalisieren. Ebenso ist das Übertreiben einer Aktion oder Reaktion desto echter, je mehr wir es als gewollte Übertreibung empfinden. (Ich spiel den Beleidigten, heißt: Ich bin beleidigt.)

 

Mit der Wahrheit kann man nicht leben und um leben zu können, braucht man Illusionen. Nicht nur äußere Illusionen, wie sie Kunst, Religion, Philosophie, Wissenschaft und die Liebe bieten, sondern innere Illusionen, die erst die äußeren bedingen. Je mehr ein Mensch die Wirklichkeit als das Wahre nehmen kann, den Schein als das Wesen, desto gesünder, desto angepaßter, desto glücklicher wird er sein. Im Moment, wo wir beginnen, nach der Wahrheit zu forschen, zerstören wir die Wirklichkeit und unser Verhältnis zu ihr. Sei es, daß wir in der geliebten Person in Wahrheit einen Ersatz für die Mutter oder für eine andere Person oder für uns selbst finden. Sei es, daß wir umgekehrt durch die Analyse feststellen, daß wir die gehaßte Person in Wahrheit lieben, diese Liebe aber auf eine andere Person verschieben müssen, weil unser stolzer Wille es nicht zuläßt, daß wir uns dies gestehen. Mit einem Wort die «Verschiebungen» sind das Wirkliche, die Wirklichkeit enthüllt sich der Analyse immer als etwas Verschobenes, psychologisch Unwahres. Dies ist eine Erkenntnis, aber kein Lebensprinzip.

 

Der unlösbare Konflikt, in den die Psychoanalyse selbst verstrickt ist, stammt eben daher, daß sie zu gleicher Zeit Theorie und Therapie sein wollte, was ebenso unvereinbar ist, wie Wahrheit mit Wirklichkeit. ¶

 

Das Realitätsbewußtsein stammt aus der Willensanpassung, das schöpferische Phantasiebewußtsein aus der Willensbejahung, das neurotische Selbstbewußtsein aus der Willensverneinung. Der Wille selbst wird im ersten Falle allgemein sozial gerechtfertigt, im zweiten Falle individuell-ethisch, im dritten Falle verleugnet. ¶

 

Diese Tendenz, die eigenen Willensäußerungen zu verleugnen und das Bedürfnis, diese Verleugnung zu rechtfertigen, (hat) zu all den genialen Schöpfungen geführt, wie wir sie von der religiösen Heroenbildung bis zur philosophischen Ethisierung kennen. Diese universalen Rechtfertigungstherapien versagen aber vor dem alles zersetzenden Selbstbewußtsein, das keiner Illusionen mehr fähig ist, und den letzten großartigen Versuch dieser Art, die Psychoanalyse, noch schonungsloser entlarvt als alle früheren, weil sie zugleich tröstende Inhalte zu geben versucht, die nicht mehr täuschen können, und psychologische Wahrheit, die nicht tröstet.

 

Während das Ideal des Durchschnittsmenschen ist, so zu sein wie die andern, ist das Ideal des Neurotikers, er selbst zu sein, d. h. was er selbst ist und nicht, wie die anderen ihn wollen. Das Ideal der Persönlichkeit endlich ist ein eigentliches Ideal im Sinne des Begriffes, nämlich so zu sein, wie er selbst sein möchte.

In der Bewußtseinssphäre wehen wir diese verschiedenen Entwicklungsstufen zur Idealbildung in drei Formeln gefaßt, die drei verschiedenen Zeitaltern, Weltanschauungen und Menschentypen entsprechen. Die erste ist das Apollonische: Erkenne dich selbst! – Die zweite ist das Dionysische: Sei du selbst! – Die dritte das Erkenntniskritische: Bestimme dich aus dir selbst (Kant)!

 

Es ist diese in der Willensdurchsetzung manifestierte Überhebung des Individuums über die ihm von der Natur gesetzten Schranken, auf die das Ich mit Schuld reagiert. Diese Schuldreaktion macht erst die Projektion in die Gottesvorstellung voll verständlich, mittels deren das Individuum sich selbst wieder einer höheren Schicksalsmacht unterwirft. Diese war für den Primitiven, der die Welt vergeisterte, die Natur selbst, für den über die Natur triumphierenden heroischen Menschen der von ihm selbst geschaffene schöpferische Gott, der zugleich verherrlichte, verleugnete und gerechtfertigte Eigenwille, und schließlich für den Menschen unserer abendländischen Kultur die realen Schicksalsmächte der Elternautorität und Liebeswahl, denen er sich freiwillig, d. h. ethisch unterwerfen will.

 

Durch das zunehmende Selbstbewußtsein wird ... dieser ganze Mechanismus der Willensprojektion mit gleichzeitiger Verleugnung des Wollens, sowie der Willensäußerung mit gleichzeitiger Verneinung in der Erkenntnis entgöttert, vermenschlicht, vom Gott in den Menschen, vom Himmel auf die Erde verlegt. Er setzt sich ... auf der Erde fort, und zwar im Liebeserlebnis und in der Liebesbeziehung, die schließlich wieder nur einen Versuch darstellt, die Verantwortung für unser Wollen und Nichtwollen auf einen Anderen abzuwälzen, den man zum Gott macht und gegen dessen Eigenwillen man zu gleicher Zeit revoltiert, wenn er sich dem unsrigen nicht angleicht und unterordnet. Hier, im Liebeverhältnis, in der Umschöpfung des Anderen nach unserem Ebenbild, stoßen wir also wieder auf den wirklichen Gegenwillen des Anderen, den wir in der Gottesschöpfung auf so raffinierte Weise umgangen haben, indem dieser göttliche Wille unseren eigenen Willen repräsentierte und zugleich rechtfertigte.

 

Der innere Dualismus, wie er sich uns als Gegenüberstellung von gattungsmäßigem Sexualtrieb und bewußtem Eigenwillen repräsentiert, findet in der Dualität der Geschlechter nur ein äußeres Symbol – nicht umgekehrt. Das heißt, daß der Dualismus des selbstbewußten Individuums nicht mehr auf der Jahrmillionen zurückliegenden Entwicklungsstufe der Bisexualität beruht, die uns ruhig schlafen ließe, hätten wir nicht in uns selbst als Folge des Willens-Schuld-Konfliktes den Willen zur Bewältigung des andern und die Sehnsucht nach Willensunterwerfung in der eigenen Gefühlshingabe entwickelt, die wir dann nur aus der Willenspsychologie heraus im Sinne der sexuellen Ideologie als «männlich» und «weiblich» interpretieren.

 

Der Wille, als konstant treibende Kraft, strebt danach, seine als lustvoll empfundene Bejahung durch das Bewußtsein zu verlängern, dauernd, d. h. aber das Glücksgefühl erlösend zu machen. Soweit diese Verlängerung gelingt, wird sie aber als unlustvoll, weil zwanghaft empfunden und so will das Individuum dann von den Geistern, die es selbst herbeirief, wieder loskommen. So soll die Sexuallust, die den inneren Willenskonflikt durch Realisierung lustvoll aufhebt, durch das Liebesgefühl dauernd gemacht werden. Diese Gefühlsabhängigkeit wird aber zwanghaft empfunden und so strebt das Individuum nach Erlösung davon durch bewußte Willensanstrengung, die zum Schuldgefühle führt, von dem wieder Erlösung in der Sphäre der Unbewußtheit gesucht wird. Hierher gehören alle Erlösungsideen mit Ewigkeitsdauer vom buddhistischen Nirwana bis zum christlichen Unsterblichkeitsglauben, die aber nur eine Erlösung vom quälenden Selbstbewußtsein anstreben und so wenig mit dem wirklichen biologischen Tode zu tun haben wie noch Freuds «Todestrieb». Denn die peinliche Realität, von der das Individuum loskommen will, ist das eigenen Bewußtsein in der Form des quälenden Selbstbewußtseins und die Erlösung wird in der Überwindung der zeitlichen Bewußseinsform, d. h. in Dauer- und Ewigkeitssymbolen gesucht, von denen Zeugung und Tod als die im biologischen Kreislauf gegebenen Inhalte seit jeher bevorzugt wurden.

 

Wird der eigene Wille bejaht und nicht verneint oder verleugnet, so resultiert der «Lebenstrieb», und Glück wie Erlösung werden im Leben und Erleben, im Schaffen und Akzeptieren desselben gefunden, ohne daß nach dem Wie, Woher, Wozu und Warum gefragt werden muß. Die Fragen, die aus der Willensspaltung in Schuldbewußtsein und Selbstbewußtsein stammen, können aber durch keine psychologische oder philosophische Theorie beantwortet werden, denn die Antwort ist umso mehr enttäuschend, je richtiger sie ist. Denn Glück kann nur in der Wirklichkeit, nicht in der Wahrheit gefunden werden und Erlösung nie in der Wirklichkeit und von der Wirklichkeit, sondern nur in sich selbst und von sich selbst. ¶

 

‹O. R., Wahrheit und Wirklichkeit. Entwurf einer Philosophie des Seelischen, Leipzig und Wien 1929›

 

 

Otto Rank   Seelenglaube und Psychologie

 

Die Psychologie als Wissenschaft dürfte objektiv, d. h. aus praktischen Zwecken mit dem Ziel der Beeinflussung und Beherrschung des Nebenmenschen entstanden sein, wobei sich die Selbsterkenntnis als ein unwillkommenes und nur später bewertetes Nebenprodukt aufdrängte.

Weiterhin scheint mir, als hätte diese Selbsterkenntnis, die weder Ursprung noch Zweck, sondern ein Nebenprodukt der Psychologie des Andern ist, erst den modernden Typus des Psychologen mit dem Ideal der Selbsterkenntnis für sich und andere geschaffen. Ich möchte dies etwas ironisch so ausdrücken, als hätte der Mensch mit der allmählich entwickelten Selbstbewußtheit diese ziemliche unnütze Fähigkeit irgendwie verwerten müssen und endlich beschlossen, ihr eine Funktion zuzuschreiben. Diese Tätigkeit erhob er schließlich zum Rang einer Wissenschaft, was die auf praktische Ziele eingestellte Menschenkenntnis (des Andern) nicht war und nur auf dem Umweg über die Psychologie werden konnte, die diese Technik in Pädagogik und Therapie «wissenschaftlich» rechtfertigte.

 

So liegt die gefühlsmäßige Stärke der Psychoanalyse gerade in ihrer wissenschaftlichen Schwäche, nämlich darin, daß sie beides zugleich ist. Naturwissenschaft und Metaphysik, Psychologie und Seelenlehre, ohne zwischen diesen beiden Sphären klar zu scheiden, oder gar zu unterscheiden. Wäre sie klarer Weise das eine oder das andere, sie wäre gar nichts, d. h. nichts Originelles. So aber ist sie eine neuartige Verbindung, Verschmelzung, Vermischung der beiden Sphären, in der Terminologie und Denkweise unseres naturwissenschaftlichen Zeitalters: der kausalen Denkweise, die eine Erklärung der Tatsachen durch psychologische Reduktion auf naturgesetzliche Zusammenhänge bezweckt, und der geisteswissenschaftlichen Denkweise, die ein Deuten des Sinnes, ein Erfassen der Struktur seelischer Erscheinungen anstrebt.

 

Ihre Idee war ursprünglich rein therapeutisch, hatte die Tendenz, den psychologischen Menschentypus vom Zwang der Selbsterkenntnis durch das Verstandenwerden (vom Andern) zu erlösen. Dieses Verstandenwerden durch den Andern hilft aber therapeutisch, weil es im Grunde genommen ein Liebesbeweis, d. h. eine Rechtfertigung unserer Individualität ist (während die Ausnützung der Psychologie zur Beeinflussung des Andern im Sinne unserer Auffassung ein feindseliger Akt ist).

 

So ist denn Psychologie als Wissenschaft und wissenschaftliche Technik letzten Endes nichts anderes als Interpretation des Seelenlebens des Andern im Sinne der eigenen Gefühls- und Willenseinstellungen. Mit anderen Worten, da wir den Nebenmenschen nicht nach unserem Willen umschaffen (oder wegschaffen) können, interpretieren wir ihn wenigstens in unserem Sinne. ¶

 

Dies führt uns wieder zurück zum Ausgangsproblem, dem eigentlichen Objekt der Pschologie. Dieses war ursprünglich etwas Übersinnliches, Außermenschliches, nämlich die Seel, und erst mit dem Verblassen und Verschwinden des alten Seelenbegriffs aus unserem Bewußtsein wurde der Mensch selbst das Objekt des psychologischen Interesses und psychologischer Forschung. In diesem Sinne war und ist Religion so gut eine Psychologie wie unsere heutige naturwissenschaftliche Psychologie. Ja, das immer mehr anwachsende Interesse für Psychologie in der Gegenwart ist im Grund genommen eine Fortsetzung der Religion, des Glaubens an die Seele, die immer noch uneingestandenermaßen das Objekt des psychologischen Interesses, wenngleich nicht der psychologischen Forschung ist. Der Unterschied liegt im Wesentlichen darin, daß Religion der Glaube an die Existenz der Seel, eines allgemeinen Seelenstoffes ist, während unsere wissenschaftliche Psychologie diese Seele verleugnet, aber den Seelenglauben in Form dem Interesses für das individuelle Seelenleben, das Ich, fortsetzt. ¶

 

Ähnlich wie die Religionen sozusagen einen psychologischen Kommentar zur sozialen Entwicklung der Menschheit darstellen, über deren Psychologie wir ohne religiöse Überlieferungen nichts wüßten, so stellen späterhin die verschiedenen Psychologien selbst unsere jeweilige Einstellung zum Seelenglauben dar. Psychologie war ursprünglich das Schaffen der Seele im animistischen Zeitalter, dann die Selbstdarstellung der Seele im religiösen Zeitalter und wurde endlich zur Erkenntnis der individuellen Seele im naturwissenschaftlichen Zeitalter.

 

Was als Unbewußt-Seelisches in uns allen fortlebt, ist nicht wie die Psychoanalyse naturwissenschaftlich erklärt, das biologisch Animalische, sondern das seelisch Spirituale, das niemals in materialistischer Terminologie erfaßt werden kann. Das psychologisch Rassenmäßige, Überkommene, ist also die Seele, der Seelenglauben, kurz die alte Psychologie, an die wir unbewußt glauben, während wir sie bewußt in unserer modernen Psychologie verleugnen.

Diese Auffassung steht in gutem Einklang mit der ethnologisch immer mehr anerkannten Tatsache, daß der Primitive nicht real eingestellt ist, sicher nicht realer als der moderne Mensch, sondern im Gegenteil unreal, rein spiritual. Die Kausalität und ihre Gesetze spielen eine verhältnismäßig geringe Rolle in seiner Mentalität, im Vergleiche zu allen möglichen übersinnlichen und überirdischen Kräften, die der Mensch nicht in der Natur sehen konnte, sondern aus sich selbst in die Natur hineinprojizierte. In dem Maße als wir realer geworden sind, mußten wir das Seelische immer mehr nach innen retten, da es in der Außenwelt keinen Platz mehr fand. Der Primitive dagegen anerkannte das Seelische bewußt, glaubte an die Seele, und füllte die Welt mit seinem Seelenglauben, seinem Seelenstoff so an, daß sie unreal, d. h. aber seinem Ich ähnlich wurde. Wir sind also Psychologen, psychologisch eingestellt auf Grund unserer Verleugnung der Realität des Seelischen. So motivieren wir «kausal», was in Wirklichkeit seelisch motiviert ist, d. h. versuchen den Glauben durch ein Wissen zu ersetzen, das letzten Endes doch wieder nur auf dem Glauben, nämlich dem Glauben an die Seele ruht. Dies bringt all die Widersprüche und irrationalen Elemente in unser Seelenleben und in unsere psychologischen Systeme. Der Primitive projizierte seine Seele, an die er glaubte, in die gesamt Realität, in das Weltall und kommt so zu einer übersinnlichen, d. h. ursprünglich magischen, später religiösen Weltanschauung. Wir sehen und erkennen die Wirklichkeit und uns selbst viel realer, projizieren nicht mehr so viel in die Welt als auf den Andern, den Nebenmenschen. Und diese Projektion auf das andere Individuum nmit ihrer Rückwirkung auf uns selbst ist es eben, was sich als objektive Psychologie manifestiert.

 

Die Seele wurde ursprünglich rein materiell, als ein zweites dem Körper gleiches Ich gedacht, das fortlebt, wenn das leibliche Ich stirbt. Die Tatsache, daß diese unsterbliche Seele zuerst im eigenen Schatten oder Spiegelbild verkörpert gedacht wurde, scheint darauf hinzuweisen, daß es der Verlust des eigenen Ich, der persönlichen Individualität war, was dem primitiven Menschen nicht bloß unerträglich, sondern geradezu unvorstellbar schien. Wir sehen so am Anfang der Entwicklung des sogenannten Seelenglaubens nicht so sehr die Angst vor dem Tode als eine komplette Verleugnung desselben, die eigentlich die Möglichkeit des Verlustes, der Auflösung der Individualität verneint, wie es in der Idee der nach dem Tod fortlebenden Körperseele zum Ausdruck kommt.

So brachte eigentlich die Tatsache des Sterbens und deren Verneinung durch das Individuum die Seele in die Welt.

 

Wir finden in der Entwicklung der Menschheit fortwährend die mit unglaublicher Zähigkeit fortgesetzten Versuche, den Unsterblichkeitsglauben der Seele gegen die vereinten Zeugnisse der Sinne, der Vernunft und der Erkenntnis zu verteidigen und in religiösen, sozialen und wissenschaftlichen Institutionen zu retten. Die letzte von diesen Versuchsmöglichkeiten ist, wie einleitend angedeutet, die Psychologie selbst.

 

Die Psychoanalyse (hat) in einem materialistischen Zeitalter, das am Selbstbewußtsein krankt und nicht nur den Unsterblichkeitsglauben, sondern auch seine exoterische Repräsentanz, die Religion, einzubüßen droht, einen neuerlichen Versuch bedeutet, das Seelische im Menschen zu retten. Ihre Großtat besteht darin, daß sie dies in der Mentalität unseres Zeitalters versuchte, in dem sie den Seelenbegriff nicht bloß wie frühere Epochen exoterisch symbolisierte und sozial konkretisierte, sondern ihn naturwissenschaftlich zu demonstrieren versuchte. Diese Art Realpsychologie bedeutet aber den Tod der Seele, deren Ursprung, Wesen und Wert, wie wir sahen, gerade im Abstrakten, Unfaßbaren, Esoterischen gelegen war. Die Wirkung der Psychoanalyse auf die Menschen erklärt sich daraus, daß sie ihnen die bereits verloren geglaubte Seele noch einmal existent zeigte; der Widerstand gegen sie aus der Art, wie sie es tat: indem sie deren Existenz naturwissenschaftlich demonstrieren wollte. Dieser Beweis mußte seiner Natur nach mißlingen, da er nur zum Ergebnis führen konnte, daß sich die Existenz der Seele naturwissenschaftlich nicht beweisen lasse, genau so wenig wie die Existenz Gottes, mit dem sie ja identisch ist. Beim Versuch, die Seele wissenschaftlich zu demonstrieren, verflüchtigte sie sich, wie die edlen Stoffe in der Retorte des Goldmachers, der statt der erhofften Substanz nichts als den Niederschlag weniger primitiver Elemente vorfand. Aber die Menschen versuchten auch noch mit der Psychoanalyse, sich an das zu halten, was sie brauchten und wünschten, indem sie nun in dieser «Psychologie ohne Seele» eine Erlösungslehre suchten, was sie wissenschaftlich niemals sein konnte, obwohl in der Therapie noch die Idee vom Rettenwollen der Seele und des Seelenheils deutlich nachklingt. Sie wirkte aber nur so weit und so lange sie die Illusion des alten Seelenglaubens stützen kann, d. h. soweit sie Seele ohne Psychologie zu bieten vermag.

 

Die Naturwissenschaften waren von ihrem Beginn Geisteswissenschaften: die babylonische Astrologie so gut wie die Meta-Physik der ionischen Philosophie und die Alchemie der mittelalterlichen Schwarzkünstler. Sie waren selbst nur Manifestationen des Seelenglaubens auf verschiedener Bewußtseinsstufe: in der Alchemie wollte man die Seele künstlich erzeugen (Homunkulus), in der Astrologie ihr zukünftiges Schicksal aus den mit ihr identifizierten Sternen ablesen; also der individuellen Unsterblichkeit das eine Mal durch Verknüpfung mit der ewigen Weltseele, das andere Mal durch bewußte Ergründung ihre Geheimnisses sich versichern.

 

Ursprünglich rein individuell als Fortleben des körperlichen Ich gedacht, wurde die Unsterblichkeit auf der Stufe des Seelenglaubens in ein kollektives System gebracht, das mit Recht als religiös bezeichnet wurde (Totemismus), weil es dem Sinne des Wortes «religio» nach eine Zusammenfassung bedeutete. Aber nicht nur eine Zusammenfassung verschiedener Stufen des Unsterblichkeitsglaubens zu einem religiösen System, sondern vor allem die Zusammenfassung einer Gruppe von Individuen unter der sozialen Herrschaft dieses seelischen Systems. ¶

 

Die Psychologie (ist), bis zu ihrer naturwissenschaftlichen Entwicklung im 19. Jahrhundert, eigentlich immer Darstellung der Seele und verschiedener Aspekte des Seelenglaubens gewesen, während die Erkenntnis der Seele als etwas im Sinne der religiösen Dogmatik dem Menschen Unerreichbares gar nicht angestrebt wurde. Ihre Existenz, d. h. aber der Unsterblichkeitsglaube, wurde entweder angenommen oder abgelehnt, das eine oder andere war aber ebenso unbeweisbar wie die Existenz oder Nichtexistenz Gottes. Die wirkliche Gefahr drohte aber der Seele nicht von atheistischen Naturwissenschaftlern, sondern von den individualistischen Seelensuchern, die ihre eigene Unsterblichkeit außerhalb der kollektivistischen Seelenideologie und jenseits der generativen Sexualideologie gewinnen mußten, weil sie weder in der Religion noch in der Familie – ebenso wenig in dem beide repräsentierenden Staat (Volk) – eine Befriedigung ihres persönlichen Unsterblichkeitbedürfnisses finden konnten.

Diese Gefahr besteht in der mit zunehmender Erkenntnis seiner selbst und seiner eigenen Bewußtseinsvorgänge entwickelten Psychologie des Individuums, die sich zuerst in Griechenland als Reaktion auf den großen Seelenverkäufer Plato zeigte. Sein Nachfolger und Schüler Aristoteles war der erste, der auf Grund seiner naturwissenschaftlichen Einstellung auch die Seele als Objekte der Erforschung des Organischen reklamierte. Seine Seelenlehre, die Psychologie, gehört methodisch in das Gebiet der Physik, während er das eigentlich Seelische in der auf der Willensfreiheit basierten Ethik und der von dem immateriellen Gottesbegriff handelnden Metaphysik unterbringt. So gelangt er zur ersten naturwissenschaftlichen Psychologie, indem er die Seele in die Willensfreiheit (Ethik) und in den Gottesbegriff (Metaphysik) rettet. Diesen Ausweg haben nach ihm die mittelalterlichen und neuzeitlichen Philosophen immer wieder betreten, als das Erblassen der alles umfassenden christlichen Ideologie diesen ersten wissenschafltichen Konkretisierungsversuch der Seele wieder ans Licht brachte. ¶

 

Die philosophische und naturwissenschaftliche Erkenntnis konnte diesem unsterblichen Seelenglauben so wenig anhaben, wie die Erkenntnis der natürlichen Lebensvorgänge dem naiven Unsterblichkeitsglauben der Primitiven. Bekanntlich waren gerade die Denker und Forscher, denen die Wissenschaft ihre größten Fortschritte dankt, in einem tieferen seelischen Sinne gläubig. Glauben und Wissen schließen einander nicht aus, ja bedingen vielleicht einander, können jedenfalls nebeneinander bestehen und miteinander Großes bewirken. Nur eine Art von Erkenntnis macht davon eine Ausnahme, eben die psychologische Selbsterkenntnis, die unausweichlich zum Zweifel führt. Die Erkenntnis des Todes war nicht imstande, den individuellen Unsterblichkeitsglauben zu erschüttern; die intellektuelle Neugierde aber, diese unsterbliche Seele zu erfassen und zu begreifen, sie womöglich zu sehen, zu demonstrieren und schließlich zu erklären, führte zum tiefsten Zweifel des Individuums überhaupt, dem an ihrer Existenz überhaupt.

 

Wie der Kampf zwischen weltlicher Macht und religiösem Glauben, diesseitiger und jenseitiger Werte, das Mittelalter beherrscht, so der Kampf zwischen Religion und Wissenschaft die Neuzeit. In allen diesen Kämpfen ist die Kirche bisher Sieger geblieben, weil sie dem Individuum etwas bietet, was der Wissenschaft nicht nur fehlt, sondern was sie verneint. Alle diese erbitterten Kämpfe gehen im Grunde genommen nur um eine Entscheidung: ob das Individuum unsterblich ist oder nicht und ob es die Voraussetzung dazu, die Seele gibt. Nur dies erklärt die Affektivität der Kämpfe, nicht das Machtstreben, das sich mit Besitz und Wissen befriedigt hätte. Ging es doch um mehr als dieses flüchtige Leben auf Erden, um ewige Seligkeit, die die Religion versprach, die Wissenschaft leugnete, die psychologische Erkenntnis aber bezweifelte. Und dieser Zweifel ist es, an dem wir leiden, nicht das Wissen, dem man den Glauben entgegenstellen kann. ¶

 

Da die fortschreitende Selbstbewußtheit den Glauben an die Seele unaufhaltsam untergrub, erklärte man dieses unerwünschte Nebenprodukt der Individualitäts-Entwicklung, die Selbsterkenntnis, für die Hauptsache. So wurde aus der Not des quälenden Selbstbewußtsein die Tugend der heilsamen Selbsterkenntnis gemacht, und deren Resultat als «Wahrheit» gepriesen. Da aber unsere intellektuellen Prozesse von unseren Wünschen und Leidenschaften bestimmt und gelenkt werden, so wurde die Wahrheit leicht zu einer subjektiven, d. h. aber zu einer intellektualisierten Religion des Individuums, die seinen alten naiven Seelenglauben wieder retten konnte. Denn statt des kollektiven Glaubensbekenntnisses: was alle glauben ist wahr, heißt es jetzt individualistisch: wahr ist, was ich glaube! Das religiöse credo ergo sum (unsterblich), wird aus dem philosophischen dubito ergo sum (selbstbewußt, sterblich) zum psychologischen cogito ergo sum des Descartes, das die moderne Psychologie einleitet. Von hier an versucht das Ich seine eigene Wahrheit durch psychologische Selbsterkenntnis zu bestimmen. Ein letzter intellektueller Versuch die Seele zu retten, der sich hinter dem abstrakten Wahrheitsbegriff so geschickt verbirgt, daß es der Heranziehung seiner symbolischen Repräsentanzen bedarf, um im Wahrheitskult den alten Seelenglauben zu erkennen. Die Wahrheit, die man nicht schauen kann ohne zu sterben, ist die Seele, die gleichfalls als nackte Frau dargestellt wird. Aller Streit um die Wahrheit ist so letzten Endes der alte Kampf um die Existenz der Seele und ihre Unsterblichkeit. So lebt der Seelenglaube, der durch die psychologische Selbsterkenntnis beinahe vernichtet worden wäre, in ihrem obersten Götzen, der Wahrheit wieder auf.

 

Das Wesen der Psychoanalyse als einer Rettung der Seele in die Psychologie kommt vielleicht am deutlichsten in ihren zwei extremen Fortsetzungsversuchen zu Ausdruck, wie sie in Jungs Kollektivpsychologie und in Adlers Individualpsychologie vorliegen. Jede dieser Theorien arbeitet eine der in der psychoanalytischen Lehre verschmolzenen Aspekte einseitig heraus und vernachlässigt die für Freuds Denkweise charakteristische naturwissenschaftliche Ideologie des Sexualzeitalters. Bei Adler, der die rationalistische Interpretationsmethodik der Psychoanalyse hypertrophiert, bleibt gar kein Unbewußtes, sozusagen keine Seele übrig; während Jungs Kollektiv-Unbewußtes dem alten Seelenbegriff viel näher steht als das Freudsche individuell gedachte Unbewußte, das auch noch in seiner Formulierung als «Es» diesen individuellen Charakter nicht aufgibt. Ist Adlers Individualpsychologie zu rationalistisch im Sinn der bewußten Interpretation des Ich, so ist Jungs Kolletivpsychologie zu irrational. Die erste ist zu viel Psychologie, die zweite zu viel Religion, während Freuds Lehre zu viel Biologie ist. Freud macht das Kollektive rationell, indem er es sexualisiert, d. h. nur auf der Stufe der generativen Sexualideologie interpretiert; Jung wiederum erklärt das Individual-Psychologische kollektiv, d. h. er macht den alten Seelenbegriff zu einem psychologischen Erklärungsgrund, während er nur ein seelisches Phänomen darstellt; Adler endlich, der alles Seelische individual-psychologisch rationalisiert, findet das Kollektive im Sozialen, wie Jung im Religiösen und Freud im Biologischen. Während Freud die Tatsachen (des Sexuallebens) wie eine Ideologie behandelt, macht Jung aus der Ideologie (des Kollektiv-Seelischen) eine psychologische Tatsache und Adler leitet aus den sozialen Tatsachen eine individuelle Ideologie ab.

Zweifellos erfaßt dabei jeder von ihnen bis zu einem gewissen Grade verschiedene Seiten des Gesamtphänomens; aber jeder von ihnen versäumt, in dem Ehrgeiz die psychologische Erklärung der Phänome gefunden zu haben, ihren verschiedenartigen Wert und ihre verschiedene Wertung zu untersuchen, einschließlich von Wert und Wertung der Erklärung, die ja nur eine Interpretation der Phänomene selbst ist. Tatsachen werden nicht dadurch erklärt, daß man sie zu Ideologien umwertet, ebenso wenig wie Ideologien dadurch erklärt werden, daß man sie zu psychologischen Tatsachen stempelt. Gegenstand der Psychologie sind nicht nicht Tatsachen, sondern nur Ideologien, die man, wie z. B. den Seelenglauben, überhaupt nicht auf Tatsachen zurückführen kann, sondern als Ideologien behandeln und als solche aus einer bestimmten Mentalität zu verstehen suchen muß, statt sie aus einer bestimmten Realität erklären zu wollen. Man darf also auch nicht Konkretisierungen dieser Ideologien, wie z. B. die Gesellschaft oder die Familie, psychologisch als bloß Tatsachen zu verstehen suchen, sondern eben als Ausdruck von Ideologien.

 

Die Seele, selbst eine aus dem Unsterblichkeitsglauben geborene Ideologie, schafft also fortwährend neue Ideologien, die als solche immer nur der Aufrechterhaltung des Seelenglaubens dienen, und in diesem Sinne ist die Seele schöpferisch. ¶

 

Im Animismus sehen wir, wie alles Übersinnliche aus der seelischen Interpretation eines psychischen Phänomens, des Willens, abgeleitet wird, weil dieser, unsichtbar und unfaßbar, sich jedem kausalen Verständnis entzieht. Die Willensäußerungen sind unberechenbar, sowohl was ihr Auftreten wie ihre Wirkung betrifft, die Willenskraft selbst unfaßbar und daher außernatürlich. Aber auch die magische Übertragbarkeit der Willenskraft, die wir heute Suggestion nennen, ohne sie damit besser zu verstehen als der Primitive, ist rätselhaft genug, um als übersinnlich zu gelten. Es ist daher nicht zu verwundern, daß diese mysteriöse Kraft als «Ursache» von unerklärbaren Tatsachen angesehen wurde, unter denen an erster Stelle der Tod stand. Da der Glaube, daß jemand eines natürlichen Todes sterben kann, dem Primitiven fernliegt, so wird dieser Tod vom mana eines Anderen herrührend betrachtet und diese Auffassung leitet unmittelbar zum Dämonenglauben über, denn dieser Andre kann ebenso wohl ein Toter wie ein Lebender sein. Wir erkennen aber schon hier die für unsere Betrachtungen wichtige Tatsache, daß gerade die einfachen menschlichen Phänomene, wie Wille und Tod, wegen ihrer kausalen Unverständlichkeit als außernatürlich und übersinnlich angesehen wurden. Erst viel später wurden sie mit den Naturgewalten verglichen und verbunden, aber nicht weil sie aus diesen stammten, sondern weil sie dadurch verständlicher und erklärlicher wurden.

 

Das Individuelle ist das außerhalb der Gesetzmäßigkeit Liegende und kann daher weder mit der naturwissenschaftlichen Kausalität noch mit der geisteswissenschaftlichen, der Finalität, völlig erfaßt und erklärt werden.

 

(Wir) wissen ... vom animistischen Weltbild, daß es durchaus nicht auf Erkenntnis der Natur und der Naturgesetze gegründet ist, sondern auf einer naiven Projektion seelischer Phänomene in die Realität. Und gerade darin liegt sein Wert für unsere Betrachtung, daß es nicht wie unsere wissenschaftliche Interpretation der Welt vorgibt, seine Auffassung aus der Natur abgelesen zu haben, allerdings sich auch noch nicht dessen bewußt ist, daß sie als Projektion des inneren Seelenlebens zu verstehen sei. So ist die das Weltall animistisch belebende Kraft des Primitiven sein mana, das aber als übersinnliches Phänomen aufgefaßt wird, offenbar, weil man nur seine Wirkungen sieht, ohne die Ursache zu kennen. Aber wieder ist es nicht, ähnlich wie bei den biologischen Sexualvorgängen, diese Unkenntnis selbst, die uns und ihm zum Problem wird, sondern die Tatsache, daß diese Unkenntnis auch weiter aufrechterhalten wird, wenn sie de facto nicht mehr besteht. Diese Aufrechterhaltung erfolgt durch einen Willensakt, den ich Verleugnung genannt habe, und steht im Dienste des Ich, das sich erhalten, schützen, verteidigen, rechtfertigen will. War es also auch anfangs die Unkenntnis der Willensvorgänge, auf Grund deren man die Wirkungen einer übersinnlichen Ursache zugeschrieben haben mochte, so war es sehr bald gerade die Erkenntnis des eigenen, Böses bewirkenden Willens, was zu einer rechtfertigenden Projektion auf Andere (Zauberer, Dämomen, Götter usw.) führte. Die Ursachen, die man so – zunächst für die natürlichen Lebensvorgänge wie Tod und Zeugung – fand oder besser erfand, waren falsche Ursachen, die den angeblichen «Kausalhunger» des Primitiven deswegen befriedigten, weil sie praktisch wirksam, tröstlich, weil sie «therapeutisch» waren.

Obwohl nun seither der menschliche Geist zweifellos viele richtige Ursachen, besonders für das natürliche Geschehen gefunden hatte, ist doch die Psychologie, soweit sie Interpretation seelischen Geschehens war und ist, immer noch auf dem Standpunkt der falschen, d. h. rechtfertigenden, therapeutischen Verknüpfung stehen geblieben. Die Psychoanalyse aber, die sich anmaßte, die «psychische Realität» hinter den seelischen Phänomenen aufgedeckt zu haben, ist nicht nur eingestandenermaßen therapeutisch orientiert, sondern ihre ganze kausale Theorie des Psychischen ist in ihrer Abwälzung der Verantwortung vom Individuum ein einziger Tröstungsversuch, der in nichts dem Seelenglauben oder der religiösen Tröstung nachsteht – außer, daß sie dieselbe Tröstung aus der Anwendung des Kausalitätsprinzips zieht, die der Seelenglaube aus dessen Verleugnung und die Religion aus der Moralisierung desselben gewonnen hatte.

 

Zuerst wurde der Körper für unsterblich gehalten, dann die kollektive Seele, später die generative Sexualität und schließlich das individuelle wie das kollektive Werk (die Wissenschaft). Aber mit dieser Entwicklung hat sich auch die Seelenvorstellung selbst verändert und verschoben. Vor allem die Auffassungen über den Sitz der Seele, die ursprünglich in die Lebensstoffe selbst (Blut, Atem), dann in lebenswichtige Organe (wie Leber, Herz usw.), später in die für die Fortpflanzung wichtigen weiblichen Sexualorgane und männlichen Sexualstoffe (Samen), endlich jedoch in das Bewußtsein verlegt wurde ... So kommt es zu der Paradoxie, daß der Mensch sich gerade in seinem flüchtigen Bewußtsein, das mit dem Tode erlischt, unsterblich fühlt, während er von der Hinfälligkeit und Vergänglichkeit des Körpers überzeugt ist, den sich der Primitive ewig fortlebend dachte. So wir der Tod, der durch das Bewußtsein erkannt wurde, durch das individuelle Selbstbewußtsein verleugnet.

 

Die Seele mag nicht existieren und vielleicht wie der Unsterblichkeitsglaube als die größte Illusion der Menschheit nachgewiesen werden; trotzdem muß sie nicht nur den Gegenstand, sondern auch den Inhalt der Psychologie bilden, deren Objekt nicht Tatsachen, Fakten sind, sondern Ideen, Ideologien, die eben vom Seelenglauben geschaffen wurden, wie unsere ganze menschliche Realität, einschließlich der wissenschaftlichen Psychologie. Die Psychologie hat es nur mit Interpretationen seelischer Phänomene zu tun, sei es solcher, die bereits konkretisiert wurden, sei es subjektiver, im eigenen Selbst und das eigene Ich betreffend. Die Interpretation selbst ist aber nichts anderes als ein intellektualisiertes Willensphänomen. Mag es sich dabei um die Interpretation der Welt, des Nebenmenschen oder eigenen Ich handeln, immer liegt in dieser Art von Verstehen auch ein «Begreifen» im eigentlichen Sinne des Wortes, eine Besitznahme, eine Vergewaltigung, ein Schaffen im Sinne des eigenen Ich, im Ebenbild seiner selbst. ¶

 

Der Mensch lebt im Grunde nicht als biologisches Wesen, sondern als moralisches, und dieser Widerspruch erklärt alle seine Probleme.

 

Die einzige Realität, die es im Psychischen gibt, ist das Jetzt, dasselbe Jetzt, das die Physiker so unfaßbar und unbrauchbar, ja geradezu undenkbar finden. ¶

 

Die Psychologie hat, wenn man so sagen kann, noch weniger mit Tatsachen zu tun als die Physik, sie kann das Bewußtsein nicht einmal zum geringsten Grade aussschalten, ist also keine Naturwissenschaft im Sinne der Physik oder Biologie, sondern eine Beziehungswissenschaft, d. h. eine Betrachtungsweise von Verhältnissen und Relativitäten. Die Psychologie ist also nicht einmal Interpretation von Tatsachen (wie Physik und Biologie), sondern Interpretation von Einstellungen des eigenen Selbst, das wir in der sogenannten objektiven Psychologie auf den Andern projizieren. Psychologie ist Selbstinterpretation im Andern, so wie Physik Selbstinterpretation in der Natur ist. Psychologie als Menschenkenntnis ist in diesem Sinne Selbstbehauptung, Selbstdurchsetzung; Psychologie als Selbsterkenntnis ist Selbsttäuschung, d. h. Glaube. Denn das psychologische Glaubensbekenntnis der Menschheit ist die Unsterblichkeit. ¶

 

‹O. R., Seelenglaube und Psychologie. Eine prinzipielle Untersuchung über Ursprung, Entwicklung und Wesen des Seelischen, Leipzig und Wien 1930›