Otto Rank   Kunst und Künstler

 

Der Künstler, als eine bestimmte schöpferische Individualität, benützt die von ihm vorgefundene Kunstform, um etwas Persönliches auszudrücken: dieses muß mit der herrschenden Kunst- und Kulturideologie irgendwie identisch oder verwandt sein, da er sie sonst nicht benützen könnte, es muß aber auch davon verschieden sein, da er es sonst nicht benützen müßte, um etwas Eigenes zu gestalten ...Der Künstler nimmt sozusagen nicht nur Leinwand, Farbe und Modell, um ein Bild zu malen, sondern auch die Kunst selbst, wie sie ihm formal, technisch und ideologisch innerhalb seiner Kultur gegeben ist; am deutlichsten ist dies wohl beim Dichter, dessen Material selbst die Sprache, das zirkulierende Kulturgut bildet, und nicht die tote Materie wie beim bildenden Künstler. Jedenfalls aber können wir inbezug auf alles Kunstschaffen sagen, daß der Künstler die Kunst nicht nur schafft, sondern daß er die Kunst auch benützt, um zu schaffen.

 

In meinem Buche «Seelenglaube und Psychologie» hatte ich als die Ur-Ideologie den Unsterblichkeitsglauben nachzuweisen versucht, der sich in gleicher Weise wie in den Religionen und sozialen Institutionen auch im Kunstschaffen zu manisfestieren schien ... An dieser Stelle können wir bereits erklären, daß wir als die Hauptaufgabe dieses Buches betrachten, Entwicklung und Sinnwandlung der Kunstformen aus der Entwicklung und Sinnwandlung des Seelenbegriffs aufzuzeigen, die auch die Persönlichkeitsentwicklung bestimmt, wie sie anderseits von ihr beeinflußt wird. Im Hinblick auf die zu erwartende Detaildarstellung des Zusammenhangs des herrschenden Kunststils mit dem jeweiligen Seelenglauben, können wir hier schon verstehen, wieso die Kunst von den ältesten Zeiten bis auf den heutigen Tag im Kielwasser der Religion einherzog.

 

Diese enge Verwandtschaft, ja fundamentale Identität von Kunst und Religion, die beide auf ihre Weise die Verewigung des Absoluten und Verabsolutierung des Ewigen anstreben, zeigt sich bereits auf den primitiven Vorstufen der Religionsentwicklung, wo es sich noch nicht um Darstellungen von Göttern, aber ebenso wenig um Nachbildungen der Natur handelt. Fast alle Forscher, die sich mit der Kunst der primitiven Völker beschäftigt haben, gewannen den übereinstimmenden Eindruck, dem schon der erste Darsteller der primitiven Kunst, Franz Kugler, 1842 Ausdruck verlieh: «Der Sinn der primitiven Künstler war ungleich weniger auf Naturnachahmung als auf die Darstellung besonderer Begriffe gerichtet»; und mehr als fünfzig Jahre später sagt ein so gewiegte Kenner wie Leo Frobenius dasselbe von der afrikanischen Kunst: «Ein sich direkt äußerndes Bestreben, eine Formvollendung zu erreichen, können wir nicht als vorhanden bezeichnen. Die Kunstgegenstände entspringen eben nur dem Bedürfnis, Ideen zur plastischen Darstellung zu bringen» ... Hier interessiert uns zunächst, daß das Erlösende an der Kunst, das, was sie als ästhetisch «schön» qualifiziert, die Konkretisierung und Existentmachung der abstrakten Seelenvorstellung war. Die Kunst befriedigte also – wenigstens anfangs – nicht die Unsterblichkeitssehnsucht des individuellen Künstlers, der in seinem Werk weiterlebt, sondern sie bestätigte den kollektiven Unsterblichkeitsglauben im Kunstwerk selbst, das die Seele abbildete. Daher muß die primitive Kunst kollektiv sein, wie es die primitive Seelenvorstellung sein mußte, um ihren Zweck, das individuelle Fortleben in der Gattung, zu erfüllen. Daher muß die primitive Kunst aber auch abstrakt sein, um diese Seelenvorstellung so getreu wie möglich wiederzugeben. ¶

 

Sicher hat Worringer Recht, wenn er bestreitet, daß die Kunst mit Nachahmung der Natur begann oder auch nur diesen Zweck hatte; aber sie war doch Nachahmung, wenngleich in einem anderen Sinne. Denn die möglichst deutliche Darstellung einer Idee ist auch Nachahmung, im ideoplastischen Sinne, und wir möchten gerade den abstrakten Charakter der plastischen Kunst aus dieser getreuen Darstellung des Ideellen erklären, das eben auch abstrakt war. So wurde die Seele anfangs so abstrakt als möglich dargestellt, um eben diesem Abstraktum ähnlich zu sehen, die Darstellung wurde konkreter, wie wir sagen naturalistischer, je weiter die Vergöttlichung der Seele in den verschiedenen Personifikationen derselben fortschritt. Findet auf diese Weise die hartnäckig verteidigte «Nachahmungstheorie» ihre tiefe Begründung – wenngleich nicht streng im Sinne der Naturnachahmung –, so können wir auch den zweiten vielumstrittenen Grundpfeiler der alten Ästhetik zur Stützung unseres neuen Gebäudes benützen. Die angebliche Zwecklosigkeit der Kunst, die nur um der Schönheit willen existieren sollte, kann weder in Hinsicht auf die primitive Kunst noch mit Bezug auf die individuelle Schaffensdynamik des modernen Künstlers aufrecht erhalten werden. Die Kunst hat unzweifelhaft einen Zweck, wahrscheinlich dient sie sogar einer Reihe von Zwecken, nur sind diese keine praktisch-konkreten, sondern seelisch-abstrakte. Besonders die primitive Kunst hat, wie Vatter richtig bemerkt, den offenkundigen Zweck, irgendwie zu wirken (Abschreckung, Zauber, Magie) und sie tut dies auch, indem sie die supernaturale Ideologie des Primitiven greifbar und begreifbar macht. Dies ist ihr Wert, ihre Funktion, und daraus stammt die Befriedigung, die sie gewährt, eine Befriedigung, die auf einer späteren Stufe der ästhetischen Betrachtung aus dem Begriff der Schönheit abgeleitet wird, der ursprünglich und noch in der griechischen Philosophie mit dem Begriff des Guten, Befriedigenden, Nützlichen zusammenfiel.

 

Zweifellos ist, daß sich die Religion auch noch in historischen Zeiten der Kunst als eines Mittels zu Objektivierung und Konkretisierung des jeweiligen Seelenbegriffes bediente; aber nicht etwa im Sinne der «Illustration», als wäre der Mensch früherer Zeiten unfähig gewesen, sich die Seele abstrakt vorzustellen. Sie mußte nur konkret, bildhaft wirklich gemacht werden, um ihre Existenz zu beweisen.

 

Es ergibt sich hier die interessante Frage, bis zu welchem Grade die Entwicklung der primitiven Kunst und ihre offenkundige Benützung durch die Religion, zur Religionsbildung selbst beigetragen haben mag oder vielleicht unentbehrlich war. Mit anderen Worten, ob nicht der Übergang vom Animismus zur Religion, d. h. vom Seelenglauben zum Gottesglauben, erst durch die Kunst ermöglicht wurde, in deren Macht allein es stand, die Seele zu objektivieren, den Gott zu personifizieren. Zweifellos scheint uns, daß die Kunst anfangs abstrakter war, sollte sie doch gerade das Nichtexistente durch möglichst getreue Abbildung existent machen.

 

Wenn die Religion, wie kaum zu bezweifeln, sich nur mit Hilfe der Kunst aus dem Seelenglauben entwickeln konnte, und wenn andererseits in ihr, wie ich glauben möchte, die Vermenschlichung der Seele, d. h. aber die Vollendung der Religion vollzogen ist, so würde die Religion beinahe zu einem Durchgangsstadium der Kunst herabsinken. Dies ist wohl Sache der Auffassung; sicher scheint mir, daß die Kunstentwicklung immer über die Religion hinausgestrebt hat und ihre individuelle Höchstleistungen außerhalb der rein religiösen Kunst liegen, bis sie sich schließlich im modernen Zeitalter fast gänzlich vom Einfluß der Religion befreit, ja geradezu an deren Stelle gesetzt hat. ¶

 

Das persönliche Kunstschaffen ist antireligiös in dem Sinne, daß es zunächst immer dem individuellen Unsterblichkeitsdrang der schöpferischen Persönlichkeit dienen will und nicht der kollektiven Verherrlichung des Weltenschöpfers. Der individuelle Künstler bedient sich wohl kollektiver Formen, unter denen die religiösen – im weitesten Sinne – die erste Stelle einnehmen, um seinen persönlichen Dualismus durch soziale Angleichung zu überwinden; aber er versucht gleichzeitig damit, seine Individualität aus der Kollektivität zu retten, indem er dem Werk den Stempel seiner eigenen Persönlichkeit aufdrückt. ¶

 

Aus dem kollektiven Unsterblichkeitsglauben entsteht die Religion, aus dem individuellen Persönlichkeitsbewußtsein die Kunst. ¶

 

Wenn wir auch die Religion mit ihrer Kollektivierungstendenz letzten Endes «kunsthemmend» fanden, so heißt das nur, daß unter ihrem Einfluß eine andere Art von Kunst entsteht und gedeiht, welche nur der andersartigen individuellen Ausdruckskunst hinderlich ist, die ihrerseits wieder die Entwicklung der Kollektivkunst in neue Bahnen drängt. Trotzdem scheint es psychologisch unerläßlich, dem Selbstentäußerungsdrang des Menschen einen Selbstbehauptungstrieb gegenüberzustellen, wenn man den schöpferischen Persönlichkeitstypus verstehen will, wer er sich aus dem Geniebegriff entwickelt hat.

 

Psychologisch bedeutete der Geniebegriff, von dem noch ein letzter Abglanz auf unseren modernen Künstlertypus fällt, die Vergöttlichung des Menschen als einer schöpferischen Persönlichkeit, womit die religiöse Ideologie (zu Ehren Gottes) in den Menschen selbst verlegt wird; soziologisch bedeutete er die Schaffung und Anerkennung des Typus «Genie» als eines für die Gemeinschaft hochwertigen Kulturfaktors, der eben die Rolle des göttlichen Heros auf Erden übernimmt; künstlerisch endlich bedeutete er die individuelle Stilform, die sich zwar noch an Vorbilder hält, wie sie später in der Ästhetik als Regeln niedergelegt erscheinen, die aber doch schon frei und selbstherrlich in göttlicher Schöpferkraft neue Formen aus sich heraus bildet. Dieser von Gott erlöste, selbst Gott gewordene Künstler setzt sich bald über die kollektiven Stilformen und ihre abstrakten Formulierungen in der Ästhetik hinweg und schafft selbst neue Ausdrucksformen individueller Natur, die sich daher auch nicht in Regel fassen lassen.

 

Wenn wir vom Studium des produktiven Neurotikers an dieses Problem herantreten, d. h. aber von dem heute lebenden modernen Künstlertypus ausgehen, so kommen wir zu folgender Bedingung für das künstlerische Schaffen. Der Neurotiker, gleichgültig ob produktiv oder gehemmt, leidet im Grunde genommen daran, daß er sich selbst, seine eigenen Individualität, seine Persönlichkeit nicht akzeptieren kann oder will. Auf der einen Seite kritisiert er sich zu sehr, auf der anderen Seite idealisiert er sich zu sehr, d. h. stellt an sich, an seine Vollkommenheit zu hohe Ansprüche, deren Nichterreichung nur zur Verschärfung der Selbstkritik führt. Handelt es sich um einen produktiven Typus (wie wir voraussetzungshalber noch sagen) und vergleichen wir ihn mit dem schöpferischen Künstler, so ist ohne weiteres klar, daß der Künstler in gewissem Sinne ein Gegenstück zu dem selbstkritischen Neurotiker darstellt. Nicht etwa, daß der Künstler sich nicht selbst kritisierte, aber in der Akzeptierung seiner Persönlichkeit zeigt er nicht nur das erfüllt, wonach der Neurotiker vergebens strebt, sondern geradezu eine Glorifzierung des eigenen Selbst.

Die Geniereligion, der Persönlichkeitskultus beginnt also beim schöpferischen Individuum mit sich selbst; er ernennt sich sozusagen zunächst selbst zum Künstler, kann dies freilich nur tun, wenn in der Gesellschaft, in der er lebt, eine solche Genie-Ideologie existiert, anerkannt ist und hochgewertet wird. Dennoch ergibt sich die Einsicht, daß die produktive Persönlichkeit, wenn sie diesen entscheidenden Schritt der Selbsternennung mit Hilfe der sozialen Künstlerideologie vollzogen hat, diese Ernennung zwangsmäßig durch das Werk, ja durch immer höhere Leistungen rechtfertigen muß. So sehen wir das Problem vom künstlerischen Schaffensprozeß, der nur einer zwangsläufigen Dynamik entspricht, sich auf die Voraussetzung derselben, nämlich die eigene Persönlichkeitserhöhung verschieben. Hier finden wir nun eine aufschlußreiche Parallele mit dem «absoluten Kunstwollen» Riegls, das Worringer als ein Herausheben des Objekts aus der Natur und dessen Vereweigen in einer abstrakten, schematischen Form definiert, die das Wesentlich, Essentielle wiedergibt. Wir erkennen nämlich, daß dieser selbe Prozeß, der auf der primitiven Stufe des kollektiven Abstraktionsstils das Objekt betrifft, auf der entwickelten Stufe der Individualkunst sich zunächst am Subjekt selbst abspielt. Mit anderen Worten, das Individuum hebt sich durch die Einreihung in den Genietypus genau so aus der Gemeinschaft heraus, wie das Objekt durch die künstlerische Stilisierung aus dem Naturzusammenhang gerissen wird. Das Individuum abstrahiert sich sozusagen selbst in dem ideologischen Geniestil und konzentriert damit auch das Essentielle seines Wesens, nämlich den Zeugungstrieb im Geniebegriff. Es sagt gewissermaßen: Ich habe nur zu schaffen, nicht zu zeugen! Das Neue unserer Auffassung liegt aber darin, daß wir aus guten Gründen annehmen, dieses Schaffen beginne am Individuum selbst, d. h. mit der Selbstschöpfung der Persönlichkeit zum Künstler, die wir mit seiner «Ernennung» zum Typus Genie umschrieben haben. Die schöpferische, künstlerische Persönlichkeit ist so das erste Werk des produktiven Individuums und bleibt im Grunde auch sein einziges Hauptwerk, da alle anderen Werke teils vervielfachter Ausdruck dieser Urschöpfung des eigenen Selbst, teils Rechtfertigung desselben darstellen (Dynamismus).

 

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Der Akt, den wir als Selbsternennung des Künstlers beschrieben haben, ist selbst eine spontane Äußerung des Schaffensdranges, der sich nur hier zunächst in der Gestaltung der Persönlichkeit manifestiert. Überflüssig zu sagen, daß dieser rein psychische Vorgang noch nicht den Künstler, geschweige denn das Genie macht, zu dem man – wie Lange-Eichbaum bemerkt – nur von der Gemeinschaft, den Zeitgenossen oder der Nachwelt ernannt wird. Aber die eigene Ernennung und Bildung zum Künstler ist die Voraussetzung allen Schaffens, ohne das auch niemals die allgemeine Anerkennung kommen kann.

 

Der Schaffensdrang selbst manifestiert sich zunächst und vor allem an der eigenen Persönlichkeit, die so, ständig umgeschaffen, Kunstwerk und Erleben in gleicher Weise hervorbringt. Wollte man diesen neuen Standpunkt recht drastisch vom früheren unterscheiden, so würde man sagen, der Künstler schafft nicht aus dem Erleben (wie es z. B. so deutlich bei Goethe erscheint), sondern beinahe trotz des Erlebens. Denn der Schaffensdrang im Künstler, der aus einer Selbstverewigungstendenz entspringt, ist so mächtig, daß er sich fortwährend gegen das vergängliche Erleben wehrt, das sein Ich aufzehrt und verbraucht. Der Künstler flüchtet mit all seinen Erlebnissen vor dem wirklichen Leben, das für ihn Vergänglichkeit und Hinfälligkeit bedeutet, während das von ihm gestaltete Erleben ihm als Schöpfung imponiert, das er ja auch tatsächlich im Werk umzusetzen sucht. Scheint auch die ganze Künstlerpsychologie um das «Erlebnis» zentriert, so ist dieses Selbst nur aus dem Schaffensdrang zu verstehen, der wieder aus dem persönlichen Verewigungsdrang stammt. Im Schaffen versucht der Künstler sein vergängliches Leben zu verewigen; er will sozusagen Tod in Leben verwandeln, verwandelt aber eigentlich Leben in Tod. Denn das Kunstwerk lebt nicht nur weiter, sondern ist auch in gewissem Sinne tot; nicht nur im Material, das es beinahe unorganisch macht, sondern auch seelisch, psychologisch, indem es ihm nichts mehr bedeutet, für ihn tot ist, sobald er es produziert hat. So flüchtete er wieder zum Leben zurück, indem er Erlebnisse schafft, die ihrerseits wieder nur Vergängliches repräsentieren, die er aber gerade deswegen im Werk verewigen will. ¶

 

Wir haben verstehen gelernt, daß zu der ursprünglich biologischen Dualität zwischen Trieb und Hemmung (Angst) beim Menschen der psychologische Faktor kat exochen, der individuelle Wille hinzutritt, der sich teils negativ als Kontrolle, teils positiv als Schöpferdrang manifestiert. Dieser Schöpferdrang ist also nicht Ausdruck der Sexualität, wie Freud annahm, sondern geradezu eine antisexuelle Tendenz im Menschen, die wir als willensmäßige Beherrschung des Trieblebens charakterisieren können. Präziser formuliert verstehe ich unter dem Schöpferdrang das in den Dienst des individuellen Willens gestellte Triebleben, das natürlich den Sexualtrieb mit einschließt. Wenn die Psychoanalyse von einer Sublimierung des Sexualtriebs im Kunstschaffen spricht, womit seine Ablenkung von der rein biologischen Funktion und seine Hinlenkung auf höhere Ziele gemeint ist, so war dabei die Frage, was ablenkt und was hinlenkt, mit dem Hinweis auf die Verdrängung erledigt worden. Die Verdrängung ist aber ein negativer Faktor, der vielleicht ablenken, niemals aber hinlenken kann, wobei auch noch die weitere Frage offen bleibt, was ursprünglich zur Verdrängung selbst führt. Diese Frage wurde bekanntlich mit dem Hinweis auf die äußere Versagung beantwortet, die aber auch nur eine negative Hemmung bedeutet, während ich die Auffassung vertrete, daß wenigstens von einem bestimmten Punkt der individuellen Entwicklung angefangen, die willensmäßige Kontrolle an Stelle der negativen Verdrängung tritt und die eigenmächtige Verwendung des Sexualtriebs im Dienste dieses individuellen Willens die Sublimierung bewirkt.

 

So unbefriedigend es sein mag, diese dynamischen Vorgänge in typologische Formeln zu fassen, so bleibt es doch der einzige Weg einer verständlichen Darstellung, wenn man die dabei notwendige Simplifizierung nicht vergißt. Vergleichen wir den neurotischen Typus mit dem produktiven, so ist klar, daß beim ersten das Triebleben in zu weitgehendem Maße gehemmt ist; je nach dem ob diese neurotische Triebhemmung durch die Angst oder durch den Willen erfolgt, ergibt sich das Bild der Angstneurose oder der Zwangsneurose. Beim Produktiven erscheint dagegen der Wille vorherrschend, mit einer weitgehenden Kontrolle (aber nicht Hemmung) des Trieblebens, das schöpferisch in den Dienst einer sozialen Angstminderung gestellt wird. Das Triebleben endlich erscheint relativ ungehemmt beim sogenannten Psychopathen, bei dem der Wille den Trieb bejaht anstatt ihn zu kontrollieren; bei diesem Typus, dem auch der Kriminelle angehört, handelt es sich trotz des gegenteiligen Anscheins um willensschwache Menschen, die ihren Triebimpulsen unterworfen sind, während umgekehrt der Neurotiker entgegen der landläufigen Auffassung den willensstarken Typus repräsentiert, der allerdings seinen Willen nur am eigenen Ich, und zwar hauptsächlich hemmend, betätigt.

 

Hier sehen wir den essentiellen Punkt des Unterschieds zwischen dem produktiv Schaffenden und dem neurotisch Gehemmten, aber zugleich auch den Anschluß an unsere Auffassung des individuellen Künstlertypus erreicht. Beiden liegt, zum Unterschied vom Durchschnittstyp, der sich selbst akzeptiert, die Tendenz zur willensmäßigen Umschaffung des gegebenen Selbst zugrunde; nur mit dem Unterschied, daß der Neurotiker bei dieser willensmäßigen Umschaffung des eigenen Ich über die destruktive Vorarbeit nicht hinauskommt und infolgedessen auch den ganzen Schaffensprozeß schließlich nicht von der eigenen Person lösen und auf ein ideologisches Abstraktum übertragen kann. Auch der produktive Künstler beginnt, wir wir aus dem psychologischen «Stilisierungs»-Willen schließen mußten, mit der Schaffung am eigenen Selbst, die in einem ideologisch fundierten Ich resultiert; dieses ist dann imstande, die schöpferische Willenskraft von der eigenen Person auf ideologische Vertreter derselben zu verschieben und so zu objektivieren. Gewiß bleibt dieser Prozeß bis zu einem gewissen Grad immer am Individuum selbst haften, und zwar nicht nur in seinen konstruktiven, sondern auch in seinen destruktiven Aspekten. Dies erklärt, warum fast kein produktiv Schaffender von krankhaften Krisen «neurotischer» Naturverschont bleibt.

 

Der Trieb drängt zum Erleben, das letzten Endes zum Ausleben, d. h. aber zum Tode führt, während der Wille zum Schaffen drängt, das auf Verewigung hinzielt.

 

Allen schöpferischen Typen scheint gemeinsam der Drang, die kollektive Unsterblichkeit, wie sie biologisch in der sexuellen Fortpflanzung gegeben ist, durch die individuelle Unsterblichkeit der willensmäßigen Selbstverewigung zu ersetzen. Dies ist aber ein relativ spätes Entwicklungsstadium der bereits individualisierten Unsterblichkeitsideologie, der Versuche zur Schaffung kollektiver Unsterblichkeitsideologien vorausgehen, unter denen die Religion die wichtigste ist. Wie sich innerhalb der religiösen Entwicklung selbst der kollektive Seelenbegriff allmählich in den individuellen Gottesbegriff verwandelte, dessen Erbe später der Künstler wurde, habe ich einem anderen Zusammenhang darzustellen versucht («Seelenglaube und Psychologie», 1930). Ebenso habe ich im Vorstehenden bereits angedeutet, wie die Schöpfung des individuellen Gottesbegriffes, der dann im Genie vermenschlicht wurde, bereits von der Kunst gefördert, ja vielleicht erst ermöglicht wurde. In einem Frühstadium der Kunstentwicklung, das zugleich den Höhepunkt der religiösen Entwicklung bedeutete, spielte aber der individuelle Künstler noch keine Rolle, da die Schöpferkraft noch dem Gotte zugeschrieben wurde. ¶

 

Ist der produktive Schöpferdrang nur aus der Unsterblichkeitsideologie zu verstehen, so basiert die Erlebnisproblematik des Neurotikers auf einem Mißlingen des Verewigungsdrangs, der in Angst resultiert, aber wahrscheinlich auch von ihr bedingt ist. Denn es handelt sich dabei um eine doppelte Form der Angst, die einerseits Angst vor dem Leben mit dem Zweck der Vermeidung oder Hinausschiebung des Todes ist, anderseit sich als Todesangst manifestieren kann, die den Wunsch nach Verewigung bedingt. ¶

 

Im allgemeinen wird ein starkes Überwiegen der Lebensangst eher zur neurotischen Hemmung, ein Überwiegen der Todesangst eher zur Produktion, d. h. zur Verewigung im Werk führen. Aber die Lebensangst, unter der wir alle leiden, bedingt auch beim Produktiven die Erlebnisproblematik, wie die Todesangst des Neurotikers seine konstruktiven Kräfte aufpeitscht. Die Lebenshemmung führt zu einer Flucht vor dem Erlebnis, weil das Individuum fürchtet, sich darin gänzlich auszugeben, was den Tod bedeuten würde und darum mit Angst verknüpft ist. Der Neurotiker sucht nicht Unsterblichkeit in irgendeinem ideologischen Sinne (wie sie der Produktive anstrebt), sondern primitiver Weise eine naive Verlängerung oder ewige Fortdauer des wirklichen Lebens. Aber auch der individualistische Künstlertpyus muß noch Leben und Erleben opfern, um Kunst daraus zu machen. Was der Künstler also außer seiner Technik und einer bestimmten Ideologie noch zum wirklichen Kunstschaffen braucht, ist das Leben in der einen oder anderen Form; und die zwei Künstlertypen unterscheiden sich wesentlich in der Quelle, aus der sie dieses Leben, das so essentiell für die Produktion ist, nehmen. Der klassische Typus, der vielleicht innerlich ärmer, aber lebensnäher und lebensstärker ist, nimmt es von außen; d. h. er schafft unvergängliches Werk aus vergänglichem Leben, ohne daß sich dieses auch in eigenes Erleben umzusetzen hat, wie beim romantischen Typus. Denn für diesen scheint das eigene Erleben die notwendige Voraussetzung zum Schaffen zu bilden, aber er gebraucht dieses Erleben nicht zur Bereicherung seiner Persönlichkeit, sondern zur Ersparnis von eigenem Erleben, dessen Zwang er doch zu entrinnen sucht. Der eine Künstlertypus benützt also ständig fremdes Leben, die Natur zum eigenen Schaffen, während der andere nur in ständiger Selbstaufopferung des eigenen Lebens schaffen kann.

 

Der Fehler in allen modernen psychologischen Biographien liegt darin, daß sie das Kunstwerk aus dem Leben «erklären» wollen, während das Schaffen nur aus der innerlichen Dynamik mit ihrer Todesproblematik verständlich werden kann. Überdies ist für den richtigen Künstler selbst das Werk wichtiger als das Leben und Erleben, das ihm nur ein Mittel zum Schaffen ist, fast nur ein Nebenprodukt desselben. Allerdings gilt dies vornehmlich wieder nur vom klassischen Typus, während dem romantischen Typus das persönlich Ich mit seinem Erleben wichtiger ist oder ebenso wichtig wie das Werk; ja mitunter dient ihm das Schaffen nur als Mittel zum Leben, wie dem andern Typus das Erleben nur Mittel zum Schaffen ist. Daher ist auch die romantische Kunst viel subjektiver, viel enger mit dem Erleben verknüpft als die klassische, die objektiver ist und mit dem Leben zusammenhängt. In keinem Fall wird aber das Individuum durch irgend ein Erlebnis, am wenigsten durch die ziemlich allgemeinen Kindheitserlebnisse der Menschen, zum Künstler, sondern das Künstlerwerden hat eine besondere Genese, als deren Manifestation auch ein besonderes Erleben resultieren kann. Der künstlerische Schaffensdrang ist eben ein vom Inhalt des Erlebens verschiedener dynamischer Faktor, ein Willensproblem, das vom Künstler in einer besonderen Weise gelöst wird. Diese besteht darin, daß er die jeweils gegebene Kunstideologie, sei sie kollektiver Art (Stil) oder persönlicher Art (Geniebegriff) zum Inhalt seines schöpferischen Willens machen kann.

 

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Der Künstler ist ein Individuum, das sich der jeweils herrschenden Unsterblichkeits-Ideologie, sei sie nun eine religiöse oder soziale oder andersartige, nicht bedienen kann oder will; nicht weil sie von der seinigen abweicht, sondern weil sie überhaupt kollektiv ist, während er nach einer individuellen Unsterblichkeit strebt.

 

Der individuelle Dichter der modernen Zeit unterscheidet sich von den Kollektivschöpfern der Volksepik nicht nur durch sein persönliches Schaffensmotiv, sondern auch dadurch, daß er selbst, sein individuelles Ich, der eigentliche Held seiner Erzählung ist, was im lyrischen Gedicht mit seinem flüchtigen Stimmungsausdruck unzweitdeutig zugegeben wird, aber auch noch für den Roman und selbst für das Drama weitgehende Geltung hat.

 

So werden wir von der Erkenntnis des im modernen Künstler zum Bewußtsein seiner selbst gekommenen individuellen Schöpferwillens, der früher auf den Gott projiziert worden war, zur Annahme einer ähnlichen, wenn auch dem Individuum nicht immer bewußt gewesenen Willenstendenz im Künstler früherer Epochen genötigt. Es mag nun scheinen, als stünde dieser willensmäßige Schöpferdrang dem Sexualtrieb desto näher, je unbewußter er ist, je mehr wir uns also der primitiven Kunst nähern. Aber der voreilige Schluß von einem überwiegend sexuellen Charakter der primitiven Kunst ist durch objektive Beobachtungen widerlegt worden, kann also ebensowenig zur Stützung der These vom sexuellen Charakter des Kunstschaffens verwendet werden wie man sich andererseits hüten muß, die Selbstgewußtheit des modernen Künstlertypus in die Genese der Kunstentwicklung zurückzuprojizieren. Denn trotz dieser näheren Beziehung des unbewußten Wollens zum Instinktiv-Triebhaften fallen die beiden doch niemals, selbst nicht auf der niedrigsten Stufe irgend einer Art Schaffens zusammen; immer wird der Wille, ob bewußt oder unbewußt, Ausdruck des Individuellen, des unteilbaren Einzelwesens sein, während die Sexualität das Gemeinsame, Gattungsmäßige repräsentiert, das nur im menschlichen Liebeserlebnis mit dem Individuell-Gewollten in Harmonie gebracht wird, sonst aber in ständigem Konflikt damit liegt. In der Kunst wird nun dieser Konflikt auf eine andere Weise überwunden, die zwar der individuellen Überwindung in der Liebe ebenso nahe steht wie der kollektiven Überwindung in der Religion, sich aber von beiden durch ein spezifisches Element unterscheidet, das wir allgemein als das ästhetische bezeichnen können.

 

In der Kunst, die sich aus der kollektiven Tröstungsideologie der Religion entwickelt hat und an deren Endpunkt wir den nach dem vollen Liebeserlebnis dürstenden romantischen Künstler finden, wird der Individualitätskonflikt derart gelöst, daß das nach Isoliertheit und Vereinigung gleichzeitig strebende Ich sich sozusagen eine eigene Privatreligion schafft, die nicht nur den Kollektivgeist der jeweiligen Epoche ausdrückt, sondern zugleich eine neue, eben die künstlerische Ideologie hervorbringt, die der Masse die Religion ersetzt. Dies ist allerdings nur auf dem Höhepunkt der individuellen Künstlerkunst der Fall, mit ihrer Vergöttlichung des Geniebegriffs und der Verehrung der Kunstwerke, die man nur mit der Anbetung von Götteridolen vergleichen kann, auch wenn sie bereits Menschen darstellen.

 

Alle drei Ideologien, die kollektiv-religiöse, die sozial-künstlerische und die individuell-erotische heben das Individuum aus der biologischen Lebensebene der Realität, an der nur die sexuelle Unsterblichkeit der Fortpflanzung der individuellen Isoliertheit entgegenwirkt, in eine höhere, überirdische, überreale oder überindividuelle Sphäre hinaus, in der eine ideelle Kollektivität geschaffen wird, wie sie vom Individuum willensmäßig hervorgebracht und, nach Bedarf, jeweils geändert werden kann.

 

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Die Kernfrage aller Ästhetik, wieso der Künstler diese Wirkung erreicht, die den anderen eine weitgehende Identifizierung mit seinem Werk ermöglicht, wurden von der alten Ästhetik mit dem Hinweis auf die Naturnachahmung beantwortet: der schaffende Künstler identifiziere sich so weitgehend mit der Natur, daß er sie nachzuahmen vermöge und diese menschliche Nachahmung der Natur ermögliche wieder dem Unproduktiven, sich wenigstens mit dieser nachgeahmten Natur zu identifizieren.

Diese Erklärung ist aber so unbefriedigend und setzt so viele psychologische Unwahrscheinlichkeiten voraus, daß sie der kritischen Analyse der modernen Ästhetik nicht standhalten konnte und heute bereits als endgültig überwunden gilt. Die Erkenntnis, daß die Kunst nichts mit Naturnachahmung zu tun habe, hat auch eine neue Zwecktheorie nötig gemacht. Denn der Naturnachahmungslehre mußte die Kunst als ein zweckloses Spiel erscheinen, als das jenseits aller Nützlichkeitswerte schwebende ideale Gebilde, als welche es die klassizistische Ästhetik zu definieren suchte. Nun wissen wir aber heute, daß z. B. die primitive Kunst sicherlich bestimmten Zwecken dient, nur sind diese keine unmittelbaren praktischen, sondern zunächst ideelle, die aber auf dem Wege des religiösen Rituals und der magischen Zauberhandlung den Menschen und sein Schicksal entscheidend beeinflussen. Die erste Formel, die wir für die primitive Kunst fanden, war in der Auffassung, daß sie das der magischen Weltanschauung zugrundeliegende Abstraktum, im wesentlichen den Seelenbegriff also, konkretisierte; die Kunst fällt hier noch fast gänzlich mit der Religion zusammen, ist aber durch Objektivierung des Übersinnlichen schon hier und auch späterhin von der Religion unterschieden. Darf man den Seelenglauben als Religion oder zumindest als Vorstufe derselben auffassen, so muß man sagen, daß die Kunst anfangs und noch durch lange Zeiträume im Dienste der Religion stand. Ihr «Zweck» war, die Existenz des Seelischen durch Konkretisierung zu beweisen, was sie in Form der abstrakten Darstellung des Abstrakten, also in möglichst getreuer Nachahmung, aber nicht der Wirklichkeit, sondern gerade der Unwirklichkeit erreichte. Wir können also sowohl den Nachahmungstrieb beim Kunstschaffen als auch die praktische Zwecklosigkeit der Kunst bereits in ihren primitiven Stadien konstatieren; nur betrifft die Nachahmung gerade das Unreale, das später immer mehr naturalisiert und vermenschlicht wird, und die Zwecklosigkeit bezieht sich auf die Realität, ein Tatbestand, den die Ästhetik merkwürdigerweise umgekehrt hat, indem sie die Nachahmung in der Wirklichkeit suchte, was ja tatsächlich keinen Zweck hatte, und so der Kunst jeden Zweck – außer der ästhetischen Lust – abgesprochen hat.

 

Dieser Irrtum muß etwas bedeuten, so wie jeder Irrtum, ja selbst unsere Auffassung, wenn sie sich als solcher erweisen sollte. Denn auch ein Irrtum schließt eine Denkmöglichkeit ein und jede Denkmöglichkeit enthält potentiell auch die Seinsmöglichkeit in sich.

 

Die ganze Religion mag heute von manchen sich wissenschaftlich aufgeklärt Fühlenden als ein ungeheurer «Irrtum» der Menschheit, als eine ihrer gefährlichsten Illusionen angesehen werden; und doch hat dieser Irrtum eine größere Bedeutung (auch noch heute) als die «Wahrheit», wenn sie überhaupt eine ist. ¶

 

Es gibt nun eine ästhetische Theorie, die von einem der größten klassischen Künstler aller Zeiten, Schiller, herrührt und die mit einem kühnen Griff das Problem des künstlichen Schaffens zugleich mit der ästhetischen Lust zu lösen versucht. Diese Erklärung des Kunstschaffens aus dem Spieltrieb scheint mir auch heute noch ein fester Ausgangspunkt für eine psychologische Entdeckungsfahrt in das dunkle Reich der Ästhetik. Schiller stellt – in seinen berühmten Briefen «Über die ästhetische Erziehung des Menschen» – das Individuum zwischen die beiden Welten der Sinne (Realität) und des Willens (Moral), denen er den Stofftrieb einerseits, den Formtrieb andererseits zuschreibt ... Der Spieltrieb, den Schiller so unübertrefflich als ein die beiden menschlichen Welten verbindendes harmonisches Element geschildert hatte, wurde bald Gegenstand anthropologischer, soziologischer, biologischer und psychologischer Untersuchungen, ohne dabei viel an ästhetischem Verständnis zu gewinnen. Spencer selbst betrachtete das Spiel als Abfuhr überflüssiger Energie; Lazarus als Erholung nach den Anstrengungen des realen Lebens, Gros umgekehrt als Vorübung für dasselbe und Wundt endlich betont neben der «erfreuenden Wirkung» des Spiels «die unbewußte oder bewußte Nachbildung zwecktätiger Handlungen» und «die Rückbildung der ursprünglichen Zwecke in Scheinzwecke». Auf die Kunst angewendet würde dies also wieder zur Nachahmungs-Zwecklosigkeits-Theorie zurückführen, von deren Irrtümlichkeit wir eben ausgegangen waren, wenngleich wir ihre Existenzberechtigung nicht bestreiten konnten. Es zeigt sich eben wieder nur, daß alle Anthropologie, Soziologie, Biologie, aber auch die Psychologie im Grunde über die Realität als letztes Erklärungsprinzip nicht hinauskommen und sogar noch eine «Scheinhandlung» (Spencer), wie sie das Spiel darstellt, nur als Rückbildung einer wirklichen Handlung und nicht als Ausdruck eines schöpferischen Wollens verstehen können. ¶

 

Ich glaube, daß alles Tröstliche im Leben, also alles Therapeutische im weitesten Sinne, immer nur illusionistisch sein kann.

 

Die Angst des Primitiven bezieht sich auf das Irrationale und nicht auf das Reale.

 

Die Kunst konserviert in dem ständigen Konkretisierungsprozeß der überrealen Ideologien, die immer irdischer werden und schließlich sogar den schöpferischen Gott im Künstler vermenschlichen, das irrationale Prinzip, das im individuellen Schöpferwillen einerseits, in der ästhetischen Unsterblichkeits-Ideologie andererseits Ausdruck findet. Sie will also nicht durch Nachahmung der Natur, des Menschen, diesen konservieren, auch nicht durch Ersatzbefriedigungen des in der Wirklichkeit Unerreichbaren oder Aufgegebenen trösten, sondern durch Objektivierung des niemals real gewesenen und niemals Realisierbaren dessen psychische Realität beweisen. Diese psychische Realität ist aber nicht, wie die Analyse will, ein Niederschlag der wirklichen, sondern ein von Anfang an jenseits aller Wirklichkeit verankerter Idealismus.  

 

Trotz der Differenz der Kunst vom Spiel ist das beiden Sphären gemeinsame Element, daß sie sich auf einer Illusionsebene abspielen, die in unserem eigenen Seelenleben ihre Bedingung und Vorbild hat. Als diese innere Illusionsebene, auf der sich alles Erleben gewissermaßen potentiell abspielt, ohne sich wirklich zu ereignen, haben wir aus der Analyse des modernen Menschentypus das Gefühlsleben verstehen gelernt. Diese gewährleistet prinzipiell ein inneres Scheinleben, ohne ein wirkliches Erleben, aber auch ohne daß das Individuum sich dieser Illusion als einer solchen bewußt werden muß. Einer solchen Betrachtungsweise wird auch das Traumleben als ein künstliches Scheinleben auf der illusionistischen Gefühlsebene verständlich («Das Leben ein Traum»). Im Spiel und in der Kunst wird dem Individuum eine solche künstliche Illusionsebene, auf der es potentiell oder symbolisch leben kann, ohne wirklich leben zu müssen, mit Hilfe einer kollektiven oder sozialen Ideologie dargeboten. Die Lust, die ein solches Scheinleben auf einer Illusionsebene gewahrt, stammt aus der Ersparnis an wirklichem Lebensaufwand, im Grunde an Leben selbst, also letzten Endes aus der Vermeidung von Angst, die an das wirkliche Leben gebunden ist.

 

Die ästhetische Lust ist aber deswegen die höchste und reinste Form der Lust, weil dabei nur Empfang und Gewinn und kein Geben die Voraussetzung ist; allerdings gilt dies nur vom Genießer des Kunstwerkes und nicht vom schaffenden Künstler, dem wir daher auch eine andere als die ästhetische Psychologie substituieren müssen. Denn auch der Künstler erspart zwar Leben, indem er es durch Schaffen ersetzt, aber er verschwendet auch im Schaffen, was ihn in neue Konflikte bringt, denen er wieder durch Leben zu entgehen sucht. In diesem Sinne wäre alles in das Gebiet der Sublimierung fallende Tun und Fühlen, vom rein Ästhetischen bis zum einfach Emotionalen, nicht von Außen aufgezwungener Ersatz des wirklichen Lebens und Erlebens, also nicht Folge von Versagung, sondern selbstgewollte Schöpfung einer Illusionsebene, auf der ein Scheinleben mit weniger Aufwand und daher auch mit weniger Angst, d. h. aber mit einem lustvollen Überschuß möglich ist.

 

Ich habe (das) Problem des partialen und totalen Erlebens in einem anderen Zusammenhang (»Technik III«) mit bezug auf die Leben und Schaffen in gleicher Weise hemmenden Angst des Neurotikers diskutiert, wobei ich die produktiven Aspekte dieses Konflikts nur streifen konnte. Jedenfalls erschien mit der Neurotiker als ein zum Totalerleben prädisponierter Typus, den nur die Angst, die eben auch bei ihm total ist, an der produktiven und konstruktiven Auswertung dieser Tendenz hindert. Er hemmt daher alle Lebensäußerungen, weil ihre Totalität angstauslösend wäre, d. h. Todesangst mit sich brächte, schafft aber durch die zu weit gehende (weil auch totale) Hemmung wieder nur Angst, die sich als Lebensangst manifestiert. Er ist sozusagen auf nichts anderes als auf Ersparung von Leben und Lebensenergie bedacht, aber diese Ersparung bereitet ihm keine ästhetische Lust, sondern neurotische Unlust, weil sie sich eben vor jeder Ausgabe, selbst der auf einer spielerischen Illusionsebene scheut. Aus der Therapie solcher Fälle hat sich die Einsicht ergeben, daß sie erst lernen müssen, auf irgend einer Illusionsebene – zunächst der inneren Gefühlsebene – spielerisch, illusorisch, unwirklich zu leben, eine Gabe, die der als Typus verwandte Künstler von Anfang an in höherem Grade als selbst der Durchschnitt zu haben scheint. Denn auch der Künstler ist ein solcher Totaltypus, der nicht wie der Durchschnitt in ständiger Partialisierung leben kann, sondern der jeden Lebensakt totalisieren muß. Er findet nun auf der künstlerischen Illusionsebene die Möglichkeit, im Schaffen, das zugleich Schein und Wirklichkeit, das aber zugleich Teil und Ganzes ist, diesen fundamentalen Dualismus schöpferisch zu überwinden und daraus Lust zu gewinnen.

 

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Legt man als allgemeinstes Einteilungsprinzip, wie es sich aus dem totemistischen Weltbild der Primitiven ergibt, das in ichfeindliche und ichfreundliche Objekte, zugrunde und berücksichtigt man dabei nicht nur die praktische Erfahrung des Primitiven, sondern auch seine seelische Grundeinstellung, so gelangt man zu einem fundamentalen Unterschied seines Denkens von dem unsrigen. Es ist dies die aus dem naiven Unsterblichkeitsglauben folgende Idee, daß der Tod vermieden werden könne, wenn man die das Ich bedrohenden Mächte kenne und vermeide, gleichzeitig aber auch die das Ich fördernden und stärkenden Kräfte zu seinen Gunsten auszunutzen verstehe. Das wesentliche Mittel dazu ist der individuelle Wille, der entweder stark genug sein muß, um das drohende Übel in der Welt zu bekämpfen und zu beherrschen, oder gut genug, um den bösen Einflüssen auszuweichen und von sich fernzuhalten. Diese Weltanschauung, die vielleicht ihren schönsten, aber auch deutlichsten Audruck im germanischen Baldurmythus hat, kann man wohl am besten als eine «magische» bezeichnen, weil sie die Beeinflussung des Naturgeschehens durch menschliche Willenskräfte voraussetzt, nicht nur anstrebt, wie unsere praktisch-technische Welteinstellung. Die magische Welteinteilung würde dann im letzten Grunde auf eine zwar nicht erfahrungsmäßige, aber willensmäßige Unterscheidung in todbringende und lebensfördernde Objekte zurückgehen, mit der Tendenz, die ersten zu vermeiden und die zweiten günstig zu stimmen. Wir werden später noch zu zeigen haben, wie diese antikausalistische Voraussetzung des primitiven Weltbildes gewisse Tatsachen wie z. B. die Sexualität als ichfremd und daher lebensfeindlich verstehen mußte, andererseits dem Menschen in Situationen, die uns höchst gefährlich erscheinen würden, eine blinde Zuversicht in seine Kräfte verliehen werden, wenn er sich nur mit den ichfördernden Mächten eins fühlte. ¶

 

Es wird immer deutlicher, daß die praktisch-technischen Zwecke, die von Astronomie, Physik und Chemie im Herauswachsen aus Astrologie, Metaphysik (Kosmogonien) und Alchemie erreicht wurden, nicht in der ursprünglichen Absicht des Menschen lagen, sondern sich als allmähliche Resultate der zunehmenden Erkenntnis und Anerkenntnis seines Abhängigkeitsverhältnisses zur Natur ergaben. So ist der Mensch ursprünglich bei der Gestirnbeobachtung auch nicht auf eine objektive Zeitmessung ausgegangen, sondern hatte größere Probleme und höhere Ziele im Sinn: ihn interessierte Leben und Tod, die Lebensdauer und die Todesgefahren, die Entstehung des Lebens wegen dessen Vergänglichkeit und die deswegen erhoffte Wiedergeburtmöglichkeit. Was er aber schließlich fand, war eine mögliche exakte Messung der im Gestirnumlauf gegebenen Ur-Uhr, nicht aber eine Beeinflussungsmöglichkeit der Zeitdauer im Sinne des Unsterblichkeitswunsches, wie er sie gesucht hatte. ¶

 

Die Entwicklung des Seelenbegriffes ist deswegen für das Verständnis des Kunstproblems so wichtig, weil er nicht nur Voraussetzung und Antrieb allen Schaffens bildet, sondern weil seine Entwicklung selbst paradigmatisch für Entstehung und Ausdruck des Schöpferdranges ist. Handelt es sich ursprünglich nur um die Erhaltung des Gegebenen – um die Konservierung des Lebens im Seelenbegriff – so besteht das Wesen des Schöpferischen zunächst in der Fähigkeit der Wiedererzeugung des einmal Verlorenen, um schließlich in der Neuschöpfung das niemals Dagewesene zu triumphieren.

 

Ja, der Schöpfer-Begriff selbst, wie er sich in der Gottesvorstellung manifestiert, entspricht nur einer Objektivierung des Schaffensdranges, der sich nicht mehr damit begnügt, sich selbst zu erzeugen, sondern auch die Voraussetzung seiner selbst, nämlich das ganze Weltall, geschaffen haben will.

 

Die Beziehung zur Baukunst, d. h. zur Architektur im Unterschied zum einfachen Hausbau, auf die wir hier stoßen, erweist sich von fundamentaler Bedeutung für das ganze Problem der Kunstentwicklung. Denn während der Hausbau ursprünglich nach allgemeiner Übereinstimmung eine schützende Höhle war, die wir leicht als chtonisches Mutterleibssymbol erkennen, beginnt die Architektur, wie alle «höhere» Entwicklung, mit dem Erheben über die Erde einerseits, aber auch mit der Umschaffung des Hauses aus einer bloßen Hülle (Mutterleib) zum Symbol des ganzen Menschen selbst, und zwar des schöpferischen Ich, nicht mehr der schützenden Mutter. Hier sehen wir also an der Entwicklung einer einzelnen Kunstgattung, die sicher zu den frühesten Schöpfungen des Menschen gehört, dasselbe Prinzip wirksam, das wir psychologisch jedem Kunstschaffen zugrunde legen mußten: nämlich die schöpferische Selbstdarstellung, mittels deren sich das Individuum aus seiner Abhängigkeit von der biologischen Vergänglichkeit befreit, um sich in dauerhafterem Material zu verewigen.

 

In Ägypten finden wir neben einem ganz materiell gedachten Fortleben des Toten (in seinem Doppelgänger, dem Ka), dessen Körper durch die Mumifizierung vor der Verwesung geschützt wurde, die Idee der tierischen Wiedergeburt in dem strengen «über-totemistischen» Tierkult, und schließlich auch das erste Heraufdämmern einer seelischen Wiedergeburt des Menschen selbst in den Osirismythen mit ihrer inzestuösen Untersterblichkeitssymbolik. Ägypten ist daher auch in seiner Kunst das klassische Land der menschlich-tierischen Mischfiguren geworden, wie wir sie in den tierköpfigen Gottheiten und noch in der Sphinxpyramide vor uns haben, die einer Mischung von Tierbauch und Erdbauch entspricht. Erst den Griechen ist es dann gelungen, wie ich bereits im «Trauma der Geburt» dargestellt habe, den Menschen vom Tier loszulösen, indem die tierischen Ungeheuer entweder durch göttliche Helden erschlagen (Ödipus tötet die Sphinx) oder – was gleichbedeutend war – in die Unterwelt verbannt wurden, die dann der christlichen Hölle mit all ihren Monstren und dem tierhaften Teufelsherrscher an der Spitze zum Vorbild gedient hat. Nur ging die christliche Höllenvorstellung noch einen Schritt weiter über die griechische Unterwelt hinaus, genau so wie der christliche Seelenbegriff die rein menschliche Seele der Griechen spiritualisierte und so in gewissem Sinne wieder makrokosmierte.

Denn während ursprünglich das Erdinnere dem Menscheninneren (Unterleib) gleichgestellt wurde, aus dem alles Leben stammt und wohin es wieder zurückzukehren scheint, wurde im Christentum die Erde selbst zur Unterwelt, wobei der Himmel zur Oberwelt aufrückte, die noch für den Griechen ein diesseitiges irdisches Leben gewesen war. In dieser Beziehung wie auch in der Neuschätzung der großen Göttermutter steht das Christentum dem alten Orient, namentlich Ägypten, näher als dem Griechentum. Denn Ägypten war nicht nur ideologisch (in seiner Religion) ein Totenland, sondern auch in seinem irdischen Leben, das schon als Vorbereitung für das jenseitige Leben in der Unterwelt galt. Die Griechen waren das erste und vielleicht einzige Volke, das wirklich auf Erden und im Licht der Sonne gelebt hatte, daher auch den scharfen Trennungsstrich zwischen Oberwelt und Unterwelt zog, in der die Toten ein blut- und seelenlosen Schattendasein führten. Die Unsterblichkeit aber, die das irdische Leben mit all seinen Reizen dem Griechen auch versagte, fand er nicht in einem vagen Jenseits, sondern in einer geistigen, aber doch doch noch menschlichen Oberwelt, die in der klassischen Kunst und Philosophie ihren unvergänglichen Ausdruck gefunden hat. Während der Ägypter unter der Erde und der Christ über der Erde lebte, stand der Grieche mit all seinen seelischen Bedürfnissen fest auf der Erde, ohne daß die kulturbildenden Verbindungen mit der Unter- und Oberwelt schon zum bloßen Formalismus erstarrt worden wären, wie es im ausschließlich diesseitig orientierten Rom der Fall war. Denn die ganz aufs Irdische eingestellte römische Kultur suchte die Unsterblichkeit weder in jenseitigen noch in geistigen Ideologien, sondern ähnlich dem Judentum in einer rein nationalen Ideologie, die sie allerdings in einer bis dahin nicht dagewesenen Weltherrschaft konkretisierte, die schließlich von der Kirche wieder zu einer religiösen Gottesherrschaft umgestaltet wurde.

 

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Wie die Griechen den rein menschlichen Seelenbegriff entwickelten, indem sie die Toten unter die Erde und die Götter über die Erde verbannten, so schufen sie auch das erste geozentrische Weltbild, das wohl physikalisch unrichtig, aber kulturell ein ungeheurer Fortschritt war. Was man sprichwörtlich von Sokrates gesagt hat, daß er nämlich die Philosophie vom Himmel heruntergeholt habe, um nunmehr vom Menschen aus zu philosophieren, das gilt für die gesamte griechische Kultur, die nach einem anderen bekannten Ausspruch den Menschen zum Maß aller Dinge machte.

 

Das Wesentliche an diesem Prozeß ist der Umweg, den der sterbliche Mensch über den unvergänglichen Kosmos (die Gestirne) machen muß, um auch aus sich selbst heraus auf der vermenschlichten Erde unvergängliche Kulturwerte zu schaffen, die ihn überleben. Dazu muß er aber einen Teil seines wirklichen Lebens, seiner irdischen Glücksmöglichkeiten opfern, indem er einen geistigen Kosmos in Analogie zum himmlischen schafft und so selbst zum Weltenschöpfer, aber auch zum Weltenstoff wird, aus dem und mit dem er schafft. Dies ist ... der Sinn aller Mythologie, die menschliche (irdische) und himmlische (kosmische) Motive zu einer unauflöslichen Einheit verschmilzt. Dies bedeutet aber nicht mehr und nicht weniger als eine Eroberung der Erde durch den Menschen vom Himmel aus, wie sie am vollkommensten in der griechischen Kulturideologie mit ihren vermenschlichten Mythen zum Ausdruck kommt. Also erst über die mythische Schaffung des Makrokosmos wird der Mensch auch zum Schöpfer alles Irdischen, d. h. aber der menschlichen Kultur, die in der Kunst ihren objektiven Ausdruck findet. ¶

 

Der Sexualtrieb als solcher könnte, auch in seiner «sublimierten» Form, nichts anderes hervorbringen als eben Natur, während der Schaffensdrang, wie wir uns zu zeigen bemühten, von Anfang an gerade nach Unabhängigkeit von der Natur, nach den Hinauswachsen über das natürlich Gegebene strebt. ¶

 

Die Idee des Nachahmung, wie sie die klassizistische Ästhetik vertritt, erscheint mir als Verleugnung der eigenen Schöpferkraft durch das schöpferische Schuldgefühl, das den Menschen wieder zur Anerkennung einer höheren Schöpferkraft zwingt und ihn selbst bloß zum Geschöpf derselben, aber auch zu einem bloßen Werkzeug der Reproduktion degradiert. Diesen Dualismus von Geschöpf und Schöpfer hat dann das Christentum durch Extremisierung seiner beiden Aspekte ausgetragen, in der vollkommensten Menschwerdung Gottes einerseits, in dessen sublimster spirituellen Konzeption andererseits.

 

Gewiß kommt der Mensch niemals von seiner animalischen Natur los, ja, will und soll es auch gar nicht; aber alle Problematik, sei sie nun religiöser, künstlerischer oder wissenschaftlicher Natur, beginnt erst jenseits dieser selbstverständlichen Voraussetzung mit der Frage, welche Einstellung die jeweilige Kultur oder der einzelne individuelle Träger derselben zu diesen menschlichen Urphänomenen gefunden hat.

 

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Ich glaube, daß zur Bildung des abstrakten Seelenbegriffs nicht die Sprache ausgestaltet und bereichert worden ist, sondern daß die der Sprache innewohnende selbstschöpferische Tendenz des Menschen zum Seelenbegriff geführt hat.

 

Der Sitz der Seele wurde wohl ursprünglich in das Innere des Unterleibs verlegt, woher das Leben des Menschen kam; dann sahen wir den Seelensitz allmählich in höhere Körperregionen hinaufrücken, was makrokosmisch in der Einbeziehung des Himmels und der Gestirne in den Bereich der menschlichen Körpersymbolik zum Ausdruck kam. Diese Kopfkultur hat zuerst in der Sprache ihren seelischen Ausdruck gefunden und erst später wurden Vernunft und Intellekt zum Sitz der er Seele, die schließlich von der materialistischen Wissenschaft im Gehirn zu lokalisieren versucht wurde. Aber noch auf der Stufe der Kopfkultur selbst machte die Seele einen ähnlichen Entmaterialisierungsprozeß durch, indem zuerst der Laut (oder ein bestimmter Hauchlaut) immer noch materiell als Seele aufgefaßt wurde, bis schließlich das vom Menschen geprägte Wort nicht nur den abstrakten Seelenbegriff ausdrückte, sondern auch Seelisches sprachlich erschuf.

 

So hat die Sprachbildung und Sprachschöpfung auch die eigentliche Religionen der Kulturvölker geschaffen, da es sich ja hier noch mehr als beim Mythos um rein ideelle Motive handelt, die gleichsam erst durch den verbalen Ausdruck überhaupt objektiviert werden können. In diesem Sinne konnte man mit Recht sagen, daß Worte Götter sind, denn Götter sind nur Wort. Diese schöpferische Kraft des Wortes hat nirgends großartigeren Ausdruck gefunden als im Alten Testament, das wir früher nicht bloß als eine Schilderung der Schöpfungsgeschichte, sondern als eine Schöpfung durch das Wort selbst auffaßten. ¶

 

In diesem sprachschöpferischen Gottesbegriff des Alten Testaments, der dann mittels der griechischen Pneuma-Logoslehre im Christentum spiritualisiert wurde, ist aber zugleich die individuelle Schöpferkraft der Sprache aufs höchste gesteigert, die eigentlich jedem Einzelnen eine solche sprachlich Neuschöpfung der Welt zumutet, die nur späterhin der Dichter für die Andern leistet. Und zwar tut er dies auch wieder in harmonischer Vereinigung der individuellen und kollektiven Momente, indem er sich zwar eine eigene Sprache und aus dieser wieder eine eigene Welt aufbaut, aber doch auch eine solche, die auch anderen etwas sagt und ihnen hilft, sich ihre Welt aufzubauen.

 

So zerlegt sich der dichterische Prozeß, mehr oder weniger deutlich, eigentlich in zwei getrennte Phasen, die man als die unbewußte und die bewußte beschrieben hat, die aber eigentlich den beiden Prozessen der Sprachbildung, dem individuell schöpferischen Erlebnisausdruck und der kollektiv zweckmäßigen Verständigung entsprechen. In der ersten Phase, die man im Großen und Ganzen als die der Konzeption bezeichnen könnte, reagiert der Dichter auf ein Erlebnis, das äußerlich auch sehr geringfügig sein kann, in einer im weitesten Sinne des Wortes sprachlichen Art und Weise, d. h. aber zunächst musikalisch-rhythmisch artikuliert. So formt sich ihm – und dies scheint das Wesen der dichterischen Begabung auszumachen – jedes Gefühlserlebnis sprachlich. Damit ist es aber noch lange nicht bewältigt, geschweige denn erledigt; im Gegenteil, es bedrängt ihn jetzt vielleicht noch mehr, nur in einem spezifischen, nämlich dem sprachlichen Ausdruck, den er nunmehr bewußt gestalten, d. h. in eine kollektiv verständliche Form bringen muß. Dies ist aber die zweite, bewußte Phase der dichterischen Produktion, der eigentliche Schaffensprozeß, der dann auch zur Beherrschung und Erledigung des Erlebnisses führt.

 

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Die allgemeine Anerkennung des Künstlers und seines Werkes (ist) das seelische Gegenstück zu seiner «Selbsternennung», die einer Unabhängigkeitsgeste entspricht, während der Ruhm verliehen wird, also auf Abhängigkeit beruht und zur Abhängigkeit führt.

Der Erfolg steht gewissemaßen zwischen beiden, indem er noch selbstverdient und selbsterworben ist ... Denn mit dem Erfolg genießt er beides: die individuelle Rechtfertigung seines Werkes zugleich mit dessen kollektiver Anerkennung, während der Ruhm ihn selbst mitsamt dem Werk zu einer Schöpfung der Gemeinschaft stempelt.

 

Aber der Ruhm bedroht nicht nur die persönliche Unsterblichkeit des Künstlers, indem er sie wieder kollektiviert, sondern er ist auch unmittelbar lebensfeindlich, indem er den Künstler nunmehr offiziell in das selbstgewählte Schaffensjoch zwingt. Dies zeigt sich schon beim Erfolg, von dem wir früher sagten, er sei eine Art Rückkehr des Künstlers zum Leben. Aber es ist eine Rückkehr, die den Künstler enttäuscht, weil sie ihm anstatt der Freiheit des Erlebens den Zwang eines weiteren künstlerischen Erlebens vorschreibt ... Denn der Künstler schafft zunächst nicht des Ruhmes wegen und um Unsterblichkeit zu gewinnen; er will durch das Schaffen ebenso sehr zum wirklichen Leben selbst kommen, indem es ihm hilft, die Angst zu überwinden.

 

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Das Kunstschaffen (ist) im Laufe seiner Entwicklung aus einem Mittel zur Förderung der Gemeinschaftskultur zu einem Mittel der Persönlichkeitsgestaltung geworden. Aber je mehr dies gelungen ist, desto mehr drängt diese Persönlichkeit von der Kunst weg zum Leben, ohne es jedoch voll ergreifen zu können ...

Nun aber, da auch diese letzte Funktion der Kunst sich soweit als dies überhaupt psychologisch möglich ist, ausgewirkt hat, wird es zur Aufgabe des Individuums, seine schöpferischen Kräfte direkt in den Dienst der Persönlichkeit zu stellen, ohne erst des Kunstschaffens dazu zu bedürfen. Denn je stärker das Individuum zum realen Leben drängt, desto weniger werden die überkommenen Kunstformen ihm dazu verhelfen, die denn auch tatsächlich zum großen Teil schon individualistisch gesprengt sind. Besonders in der Dichtkunst, die ja überhaupt die bewußte Oberschicht des Kunstschaffens repräsentiert, ist diese Durchdringung mit der persönlichen Psychologie des Dichters und der psychologischen Ideologie unseres Zeitalters beinahe vollendet. Und auch das letzte Kunstelement, das der Dichtung noch verblieben ist, die Sprache, wird immer mehr zu einem Abklatsch der realistischen Redeweise oder zum psychologischen Ausdruck der Gedanken, anstatt zu einem schöpferischen Ausdruck des Seelischen. Aber die Wirklichkeit, welche die moderne Kunst wiedergeben will, kann sprachlich nicht dargestellt werden und auch die anderen überkommenen Kunstformen eignen sich nur zur schöpferischern Gestaltung von Seelischem, nicht aber zum realistischen Ausdruck von Wirklichem.

 

Wie die Anzahl der Religionslosen heute ständig im Anwachsen begriffen ist, aber auch das Bedürfnis nach Ersatz für den alten Gottesglauben, so deutet die Kunstbesessenheit der heutigen Gesellschaft mit ihrer Überschätzung des Künstlers auf einen Verfall der wirklichen Kunstwirkung hin ... Jede stärkere Individualität fühlt heute, daß ein potentieller Künstler in ihm steckt, der nur durch die äußere Versagung des materialistischen und mechanistischen Milieus an der Entwicklung und am künstlerischen Ausdruck behindert ist. Und wenngleich zum schaffenden Künstler eine starke Persönlichkeit gehört, so ist es doch eine unheilvolle Verwechslung, zu glauben, daß auch jede Persönlichkeit sich künstlerisch ausdrücken müsse, um ihre Individualität zu entwickeln. Dazu kommt noch, wie wir gezeigt haben, die Erfahrung, daß das künstlerische Schaffen von einem gewissen Punkte aus die Persönlichkeitsentwicklung gar nicht weiter fördert, sondern im Gegenteil heißt, daß es dem Künstler eine Berufsideologie aufzwingt, die das menschliche Selbst mehr und mehr durchsetzt und schließlich ganz absorbiert.

 

Heute ist die alte Kunstideologie nicht mehr stark genug, die neue Persönlichkeits-Ideologie noch nicht stark genug, um den individuellen Schaffensdrang die eine oder andere Lösung zu erlauben ... Alles scheint zu dem Schluß zu drängen, daß wir in einer jener Krisen der Menschheitsgeschichte stehen, wo es sich wieder einmal darum handelt, auf etwas zu verzichten, um den vollen Genuß von etwas anderem dafür einzutauschen. Wenn wir auf den modernen Künstlertypus, wie wir ihn seit der Renaissance auch biographisch näher kennen, zurückblicken, so kann kein Zweifel herrschen, daß die großen Werke der Kunst mit dem Verzicht auf Leben erkauft wurden. Wie immer wir uns zu dieser Tatsache und ihrer Auffassung einstellen mögen, so viel geht jedenfalls daraus hervor, daß der moderne individualistische Menschentypus auf diese Art Kunstschaffen wird verzichten müssen, wenn er das Leben wirklich so stark will, wie es den Anschein hat. Denn nicht nur scheinen die beiden Dinge seelisch und energetisch unvereinbar, sondern auch ein geistiges Gesetz im Individuum scheint es nicht zu erlauben, daß etwas voll erreicht oder genossen wird, ohne daß etwas anderes dafür aufgegeben oder geopfert wird. Vom abergläubischen Ring des Polykrates, der sein Glück von den Göttern erkaufen will, bis zum neurotischen Schuldbewußtsein mit seiner scheinbaren Selbstbestrafung sehen wir dieses ausgleichende Prinzip im Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft wirksam. Es scheint als könnte das Individuum eine Art von Zustand – und sei es auch das Glück – nicht dauernd ertragen, weil es damit eines anderen Teiles der vollen Menschlichkeit verlustig geht, die es erst zur vollen Persönlichkeit macht. ¶

 

‹O. R.,  Kunst und Künstler. Studien zur Genese und Entwicklung des Schaffensdranges, New York 1932 (Art and Artist); erste deutsche Ausgabe: Gießen 2000›