Karl Fallend  Otto Rank über Otto Rank

 

Interessant ist, wie Otto Rank selbst, wenige Jahre nach seiner Trennung von Freud und der Psychoanalyse, die wesentlichen Differenzen zu Freud, Jung und Adler zusammenfaßte. Im Jahre 1929 hatte er bereits kontinuierlich an seiner eigenen Psychologie gearbeitet und sich fundamental von seiner psychoanalytischen Herkunft distanziert. In einem kurzen Vortrag an der Yale University am 28. Februar 1929 brachte er diese Differenzen auf den Punkt. Ein unveröffentlichtes Vortragsmanuskript erlaubt es, posthum quasi im O-Ton, seinen inhaltlichen Abgrenzungen und Schwerpunktsetzungen, wie sie sich Ende der 1920er Jahre darstellten, zu folgen:

 

Psychologische Annäherungen an Persönlichkeitsprobleme

 

Der Titel selbst zeigt den Fortschritt der Psychologie, denn nur vom Standpunkt einer dynamischen Individualpsychologie kann man von Persönlichkeitsproblemen sprechen. Freud hat diese Entwicklung der Psychologie, die jetzt erst im Beginnen ist, nur angebahnt. Seine Psychologie ist nur dynamisch verglichen mit der alten deskriptiven Schulpsychologie, aber sie ist nicht dynamisch im Sinne der konstruktiven Persönlichkeits-Gestaltung. Denn der Trieb ist bei Freud biologisch und sozial (Hemmung) und für die individuelle Persönlichkeit bleibt nichts übrig. Jung ist gar noch weiter in einer Richtung gegangen, indem er sogar das von Freud vernachlässigte Rassenmäßige heranzog, andererseits aber doch zu einer Typologie kam, die zwar das Individuelle zum Recht kommen läßt, aber wieder einem starren Typus unterordnet. Adler endlich nennt zwar seine Theorie Individualpsychologie, sie ist aber in Wirklichkeit Sozial-Therapie, indem sie auf Anpassung, Einordnung, Sozialisierung hinzielt, nicht auf Persönlichkeitsentwicklung. In der Theorie reduziert sie den Trieb auf noch mehr primitive und noch mehr statische Faktoren als Freud und Jung, indem sie die Leistung als kompensatorisches Plus einer Minderwertigkeit erklärt, die organisch konstitutionell begründet ist. Bei keinem bleibt Platz für die schöpferische Persönlichkeit oder für den kreativen Part der Persönlichkeit. Bei Freud ist er rein biologisch (sexuell), bei Adler ist er rein intellektuell (fiktiv) und bei Jung ist er rassenmäßig-unbewußt, d. h. instinktiv. Ich selbst habe seit meiner Beschäftigung mit der Psychoanalyse die positiv-kreative Seite der Persönlichkeit betont und von meiner ersten Arbeit [«Der Künstler», 1907] (die jetzt in Learys Seminar in Buffalo übersetzt wird) an bis zum heutigen Tage dieses Thema ausgestaltet.

Ich repräsentiere also eine Generation psychologischer Entwicklung. Ich habe an der Universität Wien Psychologie und Philosophie studiert und dann Psychoanalyse begonnen. Habe die ganze psychoanalytische Bewegung aus der Nähe mitgemacht, für eine Reihe von Jahren als Sekretär und zeitweiliger Präsident der Wiener Vereinigung sogar geleitet (10 Jahre lang die psychoanalytischen Journale herausgegeben etc.), kenne alle Persönlichkeiten und Abfallbewegungen aus intimster Nähe und werde vielleicht einmal eine innere Geschichte der Psychoanalyse und ihrer Persönlichkeiten schreiben.

Schon im «Künstler» habe ich gegenüber dem Freudschen biologischen Prinzip, das geistige Prinzip betont, lange bevor Jung (1912) und Adler (1911) ihre Theorien bildeten. Das geistige Prinzip als das innere, eigentliche menschliche, autonome. Es ist das ethische Prinzip, wie es später Jung betonte, das Individualprinzip, wie es Adler betonte plus einem schöpferischen Prinzip, das unabhängig von beiden ist und das ich nach dem Umweg der Psychoanalyse wieder in die Psychologie einführte, nämlich das Willensprinzip. Im Gegensatz zu allen psychoanalytischen Schulen habe ich das bewußte Wollen des Individuums wieder in den Mittelpunkt der Psychologie gestellt und darauf nicht nur eine Philosophie der Ethik und Erkenntnis, sondern auch eine konstruktive Willens-Erziehung ausgebildet. Ich glaube, das ist die erste wirkliche Persönlichkeitspsychologie, weil sie nicht ein Verständnis der Persönlichkeit (Erklärung ihrer Mechanismen) anstrebt, sondern die Entwicklung der Persönlichkeit. Das heißt mit anderen Worten das Leben anstatt der Erkenntnis betont.

Freuds Psychologie ist therapeutisch orientiert, d. h. aber sie ist moralistisch, sie will das Individuum nicht nur verstehen, sondern entsprechend einem Normalitätsideal verbessern, ähnlich wie Adlers Psychologie das Individuum nur verstehen will, um es seiner individuellen Qualitäten zu berauben. Beider Psychologie ist erzieherisch, sie wollen das Individuum ändern, das ohnehin daran leidet, daß es sich nicht ändern kann (wie ihn die andern wollen) und daher an Schuld- oder Minderwertigkeitsgefühl leidet.

Meine Psychologie will das Individuum, die Persönlichkeit nicht verstehen, sondern bilden, sich entfalten lassen, sie ist konstruktiv und kreativ. Sie will auch nicht das Individuum sich an die gegebene Realität anpassen lassen, sondern ihm ermöglichen, die Realität im Sinne der Persönlichkeits-Expression neu- und umzuschaffen. Sie strebt also das Gegenteil von der Freudschen Anpassung des Ich an die Realität und das Gegenteil von Adlers Anpassung der Realität an das Kind (durch Milieuveränderung). Ich strebe beides an: eine schöpferische Gestaltung des Selbst und der Realität zu gleicher Zeit, das heißt aber einen wirklichen Lebensprozeß. Sie ist auch nicht Erziehung, sondern Selbsterziehung (self-creation). Die anderen Methoden fehlen, weil sie Zwang (coercion) beinhalten, gegen das sich das Individuum wehrt. Meine Persönlichkeitsentwicklung strebt innere Freiheit an, das Individuum muß es wollen und wollen können.

Die Frage, warum dies so schwer ist, führt in die tiefsten Probleme der Psychologie, die bisher von der Psychoanalyse gar nicht berührt wurden und der Religion und Philosophie überlassen wurden; nämlich das Problem von Wille und Schuld (Sünde), das ich in meinem letzten Buch [«Wahrheit und Wirklichkeit», 1929] behandelte. Ich kann hier nur ein Resultat in einem einzigen Satz formulieren. Nämlich, daß der Mensch nicht mehr rein biologisch lebt, wie die Freudsche Psychologie voraussetzt, auch nicht rein sozial, wie Adler annimmt, sondern er lebt auf Grund des ethischen Prinzips der autonomen Selbstbestimmung im Sinne Kants (Determine Thyself from Thyself [«Bestimme dich aus dir selbst»]).

Wie Annäherung. Nur eine Einstellung, d. h. aber eine Weltanschauung und keine Technik. Die Technik muß sich jeder selbst auf Grund seiner Persönlichkeit, aber auch aus der Natur seiner Aufgabe heraus selbst schaffen, ad hoc Bleulers Wort zu gebrauchen, as a chance apparatus [«Gelegenheitsapparat»]. Denn nur dann wird er wirklich etwas Kreatives in seinem eigenen Feld leisten können.

 

Im Anschluß an diesen Vortrag antwortete Rank auf vorbereitete Fragen, wobei ihm die Frage nach seinen verkürzten Therapiezeiten Anlaß für eine humorvolle Antwort bot: «I analyzed first according to Freud’s technique and then gradually developed a shorter one, a technique that is getting shorter and shorter, so that I am almost afraid that soon I won’t have to see the patient at all.»

 

‹Karl Fallend: Caroline Newton – Jessie  Taft – Virginia Robinson. Spurensuche in der Geschichte der Psychoanalyse und Sozialarbeit, Wien: Löcker 2012. – Jessie Taft war O. Ranks Vertraute und Assistentin in den USA und die erste Übersetzerin seiner Werke. In seinem Porträt dreier Pionierinnen des Feminismus und der psychoanalytisch geprägten Sozialarbeit vermittelt Fallend einen lebendigen Eindruck von Otto Ranks Wirken in Amerika. Sein Buch empfiehlt sich daher dringend als ergänzende Lektüre zur unverzichtbaren Otto-Rank-Biographie von E. J. Lieberman. – Auszug aus dem Buch von K. Fallend mit freundlicher Genehmigung des Autors.›