Robert Minder Dichter in der Gesellschaft

 

Ohne den Humus an kleineren Dichtern keine große Literatur. ¶

 

Die Namen vieler Regionalschriftsteller sind längst vergessen. Und doch muß eine literarische Bewegung durch solch feinste Äderchen zirkulieren, ehe sie im Genie aufblüht, das zusammenrafft, was die anderen verzettelten. ¶

 

Hätte Hauptmann nach 1933 – oder schon nach 1914 – mit der explosiven Kraft seiner ‹Weber› den Schrei der Opfer durch Deutschland und die Welt dringen lassen; wäre Stefan George vor der Flucht und Ausflucht in die Schweiz wie ein Sturmwind mit seiner ganzen Sippe gegen die Verbrecher oben aufgestanden, unter Einsatz seines Lebens wie Victor Hugo oder wie Dante, auf den er sich so gern berief – so hätte das zunächst an der faktischen Entwicklung wenig geändert, und doch wäre ein moralisches Gewicht in die Schale geworfen gewesen, das mit der Kraft des Magneten ungeahnte Energien mobilisiert hätte – wie in Frankreich Zolas ‹J’accuse› 1898, Romain Rollands ‹Aus dessus de la mêlée›, Camus’ Aufruf zum Widerstand 1941, Sartres Manifest gegen die französischen Verbrechen in Algerien 1959. ¶

 

Gewiß haben auch 1914 alle deutschen, ja alle europäischen Schriftsteller, mit Ausnahme von einem halben Dutzend unbeirrbar klarer Männer in den jeweiligen Lagern mitdeliriert … selbst Rilke, Musil, Döblin, Stefan Zweig, von R. A. Schröder und Thomas Mann ganz zu schweigen.

«Der Mensch spricht erst, insofern er jeweils der Sprache ent-spricht», hat Heidegger geschrieben. In der damaligen Phase entsprach seine Sprache ganz einfach dem Gauleiterjargon. Weder von Mallarmé noch von Spinoza, Kant, Schopenhauer ist ein solches Auslöschen ihrer selbst denkbar. Und wo Leibniz oder Hegel Zugeständnisse an die Machtpolitik machten, taten sie es wenigstens auf ihre Weise, in ihrem Stil und mit Verklausulierungen, die von vornherein zurückzunehmen imstande waren, wofür sie sich eben zu engagieren schienen.¶

 

Wiederum zeigt sich, daß wer diese Sprache mitsprechen konnte, ohne den Unrat zu wittern, von vornherein den politischen Vorgängen und ihrer Tragweite gegenüber blind sein mußte. ¶

 

Auch die Literaturgeschichte ist auf weite Strecken hin eine Geschichte der verfehlten Möglichkeiten. ¶

 

<R. M., Dichter in der Gesellschaft. Erfahrungen mit deutscher und französischer Literatur, Frankfurt a. M.: Insel 1966>

 

 

Robert Minder Wozu Literatur? 

 

In einer Katastrophenzone geboren und von der Wurzel her verflochten mit zwei Sprachen, zwei Gefühls- und Denkweisen – der französischen wie der deutschen – hat der Verfasser schon früh Literatur als Komplizin seiner innersten Träume empfunden und sie zugleich als Trägerin kollektiver Leitbilder sehen gelernt, als ein Ganzes, das seinen besonderen Sinn hat und ihn ausstrahlt und das doch von einem größeren Ganzen unablösbar ist, seinem Fluten und Strömen ausgesetzt bleibt, ihm durch Gestaltung gesteigertes Leben verleiht. ¶

 

Literaturgeschichte ist an ihren leuchtenden Punkten Geschichte von genialen Schöpfern, und ein Grundtrieb L.s war, unmittelbaren Einblick zu haben in ihr Leben und in die Art, wie sie das Gelebte gestalteten; Buch und Mensch zu vergleichen, Literatur an der Wirklichkeit zu messen, aber auch Wirklichkeit an der Literatur. Eine Naturgeschichte des menschlichen Geistes hat der größte französische Literaturkritiker des 19. Jahrhunderts, Sainte-Beuve, postuliert. L. stimmte zu. ¶

 

Und wiederum geht die Kenntnis des Werkes Hand in Hand mit der Kenntnis seiner Entstehung und der Lebensstationen des Dichters. Für eine rein funktionell gewordene Literaturwissenschaft verdecken diese abgewerteten Ornamente die Leistung: das Wort. Aber wie autonom auch das Wort durchs große literarische Werk werden kann, es bleibt doch unabtrennbar vom Menschen und den menschlichen Verhältnissen. ¶

 

«Donne-lui quand-même à boire»: der berühmte Vers Victor Hugos drängte sich einem Bekannten auf, als er auf dem Schlachtfeld dem stöhnenden Feind nebenan zu trinken gab. Der Dichter hat die Handlung gewiß nicht veranlaßt, aber sie doch im Kollektivbewußtsein vor- und mitgeformt durch die Prägnanz des Ausdrucks. Kurze Zeit vor seinem Tod schickte mir Albert Schweitzer in einem Brief ohne weiteren Hinweis als Zeitungsausschnitt ein Gedicht F. Hebbels, das er bestimmt seit langem kannte: «Dies ist ein Herbsttag wie ich keinen sah» – in milder Sonne löst Frucht sich selbst vom Baum. Im Oktober 1958 hatte er mich beim Hinaustreten aus seinem Haus im Elsaß, auf abgefallene Blätter am Boden deutend, gefragt: «Was ist das?» und selbst die unerwartete Antwort gegeben: «Cyrano, cinquième acte» – die Schlußszene des berühmten Versdramas von Edmond Rostand, das er um die Jahrhundertwende in Paris gesehen hatte und wo Cyrano still im Park unter Herbstbäumen sitzend das Ende erwartet. Beidemal sah Schweitzer ohne jede literarische Pose in literarischen Gebilden Zukunft vorausgebildet und wünschte sie ebenso milde. Partikel des Dichterischen durchdringen so mehr oder weniger intensiv Lebensvorgänge an Knotenpunkten des Daseins, betten das Unerhörte in vertraute Sprache ein, stellen die Erfahrung des einzelnen ins Beziehungsnetz der Menschheit. ¶

 

Damit ist keineswegs an eine idealistische Überhöhung gedacht. Literatur sekretiert der Mensch seit es ihn gibt und er spricht. Sie steht dabei niemals ganz auf der gleichen Stufe wie das übliche Reden. Sie bindet Wörter auf besondere Weise zusammen und entbindet so – sei es auch durch noch so minimale Wortverschiebungen – was in der Masse zum Ausdruck drängte. Sie schaffte ein irreales und zugleich realitätsgeladenes Kräftefeld, eine Mediosphäre, wie Adolf Portmann es einmal genannt hat, wo auch scheinbar längst Verschollenes in neuem Licht plötzlich wieder voll erblühen kann.

Der Unterschied zwischen hoher und niederer Literatur fällt dabei nicht ins Gewicht. «Volksgut» als Edelbegriff verfälscht die Karten. Alfred Döblin hatte die Gabe, die Welt in großen Bildern zu schauen, die meist dem Alten Testament und der antiken Mythologie entstammten: jenes war ihm durch die jüdische Herkunft vertraut, dieses durchs preußische Gymnasium. Visionen haben ihn auch bedrängt und gestützt, als wir im Juni 1940 bei der Flucht aus Paris im Viehwagen Frankreich bis tief in den Süden hinunter durchfuhren, mit endlosen Wartezeiten dazwischen. Wie von selbst stand eines Tages der Berliner Schlager vor uns da: «Und dann schleich ich still und leise / immer an der Wand lang, / heimwärts von der Bummelreise / immer an der Wand lang.» Stundenlang dalberten wir über diese Verse mit ihrer auftrumpfenden, binnenreinschmetternden Schlußzeile: «Schimpft zu Haus auch meine Olle / ja ich bin ’ne dolle Bolle», die gleich wieder absackt in den rastlos tastenden Refrain: «Immer an der Wand lang.»

Erlebte Literatur – wie war sie ihrerseits zustande gekommen? Wir wissen es zufällig: aus dem Mund eines angetrunkenen Kabarettisten, dem der anwesende Texter Hermann Frey in plötzlicher Erleuchtung drei Mark für die Rechte auf den einen ständig hingelallten Satz zahlte: «Immer an der Wand lang» –, der Kern, um den sich später das geahnte Ganze kristallisiert hat. Intuition und Kunstverstand waren am Werk gewesen wie bei den «Großen». Der von Walter Kollo komponiert Schlager reißt noch heute hin im geteilten Berlin: er ist Berlin, wo Wildenbruchs Dramen längst Phantome sind, außer für Literarhistoriker, die sich auf dem Weg über sie in ihre Stellungen hinaufschreiben – Geisterwirkung der Literatur.

Mit ebensoviel Gewinn läßt sich wohl jetzt über die Schlager arbeiten, die jede Schülergeneration charakterisieren. 1910 «Fritzchen, freu dich», «Heinerle», «Puppchen, du bist mein Augenstern» und ein paar andere; zehn Jahre später, schon von der Mode her datierbar: «Schneid dir doch ’nen Bubikopf, / wer trägt heut noch Hängezopf» und «Ich küsse Ihre Hand, Madam.» Zur selben Zeit im Frankreich der tollen Nachkriegsjahre «Monte là-dessus, et tu verras Montmartre», und 1936, ebenso aufschlußreich: «Tout va très bien, Madame la Marquise» – Alles geht gut, wo alles schon schiefging und das Hause lichterloh abgerannt ist.

Schlager als Spiegel der Gegenwart und Spiegelung des Kommenden? Sie gehören jedenfalls ebenso unmittelbar zur literarischen Textur eines Volkes wie jene drastischen Moritaten, die Verhaltensweisen rhythmisch einüben – sei es im «Struwwelpeter», der so gut wie alle Organe kastriert und für die Gesellschaft zurechtstutzt, sei es im schadenfroh grinsenden «Max und Moritz». Lesebuchverfasser haben wie Erzengel mit Flammenschwert solchen Produkten den Weg versperrt, aber die Produkte leben munter weiter, wo Generationen von Schulräten längst vermodert sind. Der nicht minder verpönte «Winnetou» des sehr dubiosen Karl May zählte 1968 laut einer Unesco-Statistik immer noch zu den meistübersetzten Autoren der Weltliteratur nach der Bibel, Marx, Mao in Gesellschaft von Simenon, Agatha Christie und Jules Verne, den kein französischer Schulmann in sein Buch aufzunehmen gewillt gewesen wäre, obwohl er als Stilist an Voltaire geschult ist und als Visionär akademische Romanciers dutzendweise an die Wand drückt.

Welches Grab ist das meistgeschmückte auf dem Friedhof Montmartre in Paris? Das von Heine kommt erst an zweiter Stelle, das von Alexandre Dumas an dritter oder vierter. An der Spitze rangiert das Grab der Kameliendame, jener unbedeutenden kleinen Schauspielerin, die Dumas in seinem Drama auf die Bühne gebracht und Verdi in seiner Oper auf Arienhöhen erhoben hat – eine Philine mit Schwindsucht. Unbekannte bringen ihr täglich Blumen, Frauen aus dem Volk lassen Kerzen brennen am Allerseelentag. Was suchen sie hier, was haben sie gefunden? Sich selbst mit ihren Träumen und ihrem Elend; sie danken dafür und weinen darüber.

Stendhal – sagt der Friedhofswärter – ja, Stendhal, der hat auch Besucher, aber viel weniger, und Blumen bringt keiner, es sind Intellektuelle. Die Selbstprojektion vollzieht sich aber auch für sie nicht anders. ¶

 

Früh übt sich im Nichtlesen und doch Darüberredenkönnen, was ein Literarhistoriker werden will. ¶

 

Ernst sehen die Literarhistoriker drein, launisch sind sie wie Modistinnen, putzen je nach der Saison ihr Modelle neu heraus, lassen Goethes Frauengestalten und Goethes Freundinnen – von Friederike bis Ulrike – bald als betont deutsche Mädchen mit Zöpfen auftreten, bald kleiden sie sie nach Freud, ziehen sie existentialistisch an oder aus, bis dann wieder Marx die Stunde regiert und alles aufs Gesellschaftliche bezogen wird, während ebenso beflissen auf der Gegenseite alleinseligmachend der Text an sich erscheint, die sakrosankte Struktur.

Der Spott gilt nur den Wichtigtuern, den Mitläufern, Mitmachern der Mode. Im Grunde ist es viel mehr als Mode: ein Akt der Bewußtseinswerdung, liebende Anverwandlung in veränderter Zeit. Wozu Geschichte der Literatur? Um ihre Landschaften stets neu zu durchstreifen, in ihre abgelegensten Winkel zu dringen, Schluchten auszuloten, Korn für den Speicher zu holen. ¶

 

Literatur besitzt in ihren gültigen Werken eine alle Wandlungen überstehende Zeugungspotenz. Aus dem komplexen und sehr variablen Wechselspiel zwischen schöpferischer Individualität und sozialer Umwelt erwachsen – die man anklagen oder anerkennen kann –, sind die Werke, durch Tradition geprüft und angereichert, selber eine soziale Gegebenheit geworden, mit der Politik rechnen muß, um die sie nicht herumkann. ¶

 

Ins Exil nahm Lenin das Werk Puschkins und den «Faust» mit. Was konnte er davon erwarten? Vermutlich: einen Kräftezuwachs.

In der Rocktasche seines älteren Bruders, der früh unter dem zaristischen Regime erschossen wurde, fand sich ein Band Heine. Nicht Bakunin, nicht Marx oder Engels: Gedichte Heines.

Vom Stählernen ist ähnliches nicht denkbar.

Literatur wählt sich auch ihre Leute aus. 

 

<R. M., Wozu Literatur? Reden und Essays, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971>

 

 

Robert Minder Kultur und Literatur in Deutschland und Frankreich

 

Literaturgeschichte – ein Riesenmärchenteppich, bunt, verworren, Oberon ruft und reitet hindurch. Ein jeder glaubt, den roten Faden erwischt, den weißen Hirsch erlegt zu haben. So weiß ist er freilich doch nicht, sagen die einen; von weiß keine Spur, die andern. Reputationen bauen sich auf, werden abgebaut. Das Grundgefühl bleibt: irgendein Sinn steckt hinter dem Ganzen. Man müßte ihn besser heraushören können.

 

<R. M., Kultur und Literatur in Deutschland und Frankreich. Fünf Essays, Frankfurt a. M.: Insel 1962>