Theodor Lessing Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen 

 

Der Naturmythos stirbt, der Menschheitsmythos beginnt. Geschichte aber, das ist der Mythos der wachgewordenen Menschheit: der Aufstand des Geistes wider die Natur. Eines notgeweckten, schmerzgetriebenen, erlösungsbedürftigen, zukunftswilligen, aus der Natur gefallenen, aus sich selbst herausgefallenen Erdentieres Gelalle von Geschichte und Gott, von Geist und Wert, von Sinn und Ziel lauscht der große Pan ein paar Welt-Sekunden, von Eiszeit zu Eiszeit geduldig.

Ihm klingt dieser Menschheitsgesang nur als ein unaufhörliches: Ich. Ich. Ich. Es ist nichts anderes, als was Frösche quaken im Sumpf. ¶

 

Geschichte wird aufgefaßt als ein Strom oder Flußbett. Dieser Fluß ist linear-zielstrebig und «gerichtet». Worauf gerichtet? Auf den betreffenden Professor und seine Haupttriebfedern. ¶

 

Es gibt überhaupt keine geschichtliche Wirklichkeit außerhalb ihres Erlebens. ¶

 

Der gestaltende Vorgang, dank dessen eine mechanische Abfolge von Geschehnissen in der Zeit umgewandelt wird in eine sinn- und bedeutungsvolle Geschichte, verläuft nun keineswegs auf der Ebene des Wissens und der Wissenschaft. Das Bilden von Geschichten aus Geschehnissen ist ein dichterischer Vorgang. Phantasie, Wunsch, Sehnsucht, Leidenschaft, Hoffnung, alles das ist mehr daran beteiligt als irgendein Sinn für Wissenschaft und Wissen. Geschichte war noch niemals ein Feststellen «sine ira et studio».¶

 

Bei Licht besehen erweist sich jede historische «Tatsache» als das Kind des Zufalls und verlogensten Übereinkunft. ¶

 

Wer jemals mitten in Volksbewegungen stand, der muß Zweifler werden an Zeit und Geschichte. Wie alles hergegangen ist, das erfährt er nachträglich. Er wundert sich dann, daß er nichts davon gemerkt hat und daß für den Miterlebenden alles «immer ganz anders» war. Und am meisten wundert er sich über das Bild seiner eigenen Taten. Denn es kommt ihm gar nicht so vor, als ob ihn die Geschichte seiner Tat etwas anginge. Es ist ihm zu Sinne, als ob da ein historisches Bild seiner selbst und seines Lebens gebaut würde, daran er wohl wirkend beteiligt war, aber welches dennoch schließlich eine Legende sein dürfte. Er denkt: «Der Teufel soll mich holen, wenn ich der bin, wofür ihr mich haltet. Das was ihr so vereinfacht, das ist alles verwickelter gewesen. Und was ihr verfilzt, das ging alles ganz einfach zu.» – Aber wer kann an gegen die Macht der Geschichte? Gegen ihr Zusammen-Biegen, Zusammen-Verfügen, Zusammen-Erlügen? ¶

 

Pierre Simon Laplace hat 1812 in seiner «Theorie analytique des probabilités» reizvolle Betrachtungen angestellt über Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit der geschichtlichen Berichte. Laplace glaubte sicherstellen zu können, daß eine Tatsache, die durch zehn Zeugen übermittelt wird, so, daß der erste dem zweiten, der zweite dem dritten den Tatbestand wiedergibt, wofern man die Wahrscheinlichkeit jeder Zeugenaussage gleich 9/10 ansetzt, nur noch die Wahrscheinlichkeit von 1/8 besitzt. Je länger die Reihe der Zeugen wird, welche die Tatsachen weitergeben, um so geringer wird die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses, bis es schließlich vollständig zum Mythos wird. ¶

 

... daß jeder Erfolg ganz sinnlos, daß jeder Ruhm ganz ungerecht ist. ¶

 

Ein Konzil der größten Denker würde die Welt in unlösliches Wirrwarr stürzen. ¶

 

Alle Staatsorganisationen (in deren Geschichte Hegel die Verleiblichung und Weltwerdung Gottes sieht) sind aus Raub, Diebstahl, Betrug und Mord hervorgegangen.

Sobald freilich diese Raubimperien zu Macht kommen, so werden sie auch sittlich, ähnlich wie noch jede Kolonie von Sträflingen, Verbrechern und Hochstaplern eines Tages entdeckte, daß Moral das bessere Geschäft ist; worauf man eben anfängt fromm, ja asketisch zu leben. ¶

 

Eine Phantasie, welche die vergangenen Leben erneuern könnte, ein Scharfsinn und Tiefsinn, der in Herz und Nieren eindringen und alles Gewesene durchschauen könnte, ein Forscherauge, welches hinter die trostreiche Dichtung «Geschichte» blickte, könnte nie wieder froh werden. Sie würden sehen, daß zu viel Blut und Tränen, zu viel Schweiß und Galle an allem Menschenwerk haftet und daß nur immer und immer neu: geplagte, leidende, der Natur enthobene Tiere unter dem Joche stöhnten, belogen wurden und sich selber belogen ...

Kein Denker, der bewußt sie sah und miterlebte, möchte die «großen Tage Europas», die Augusttage 1914, die in der Geschichte eine ewige Gloriole tragen, noch einmal je wieder miterleben. Eine aus Machtwille und Abwehrinstinkt, aus Raubtrieben und Herdenangst gemischte Raserei hatte die Menschen Europas ergriffen. In den Straßen der Städte herrschte Säbelgewalt. Von den Kanzeln, Tribünen, Kathedern gab sich entfesselte Tierheit kund. Die Sprache der Fürsten, der Könige und Kaiser wurde der des Metzgers gemein. «Wir wollen die Engländer dreschen», sagten in Deutschland die kleinen Knaben. «Wir hacken die Franzosen in Stücke», jubelten zarte Frauen. «Jauchzen wollen wir, wenn deutsche Bomben auf Westminster und Louvre prasseln», tobte in Berlin ein Professor des Völkerrechts (Kohler) unter dem Beifall von Tausenden. – Nicht anders war es in Paris, in London, in Moskau. In Frankreich, in England schwelgte man in der ruchlosen Vorstellung, Berlin zu verbrennen oder München dem Erdboden gleichzumachen. Am ruchlosesten zeigten sich in allen Ländern die Frauen und die Sozialisten. Von heute auf morgen widerriefen sie alles, was sie je geglaubt und gelehrt hatten. Von gestern auf heute wandelten sich alle in Helden, und wenn Opfertode allgemeine Mode wurden, dann starben sie auch gerne Opfertode. Wem konnte man glauben? Woran sollte man sich halten? Hinter alle dem Geschrei schien nichts zu brennen als wütender Wille, Sich Selbst zu erhalten. In jedem Ortsfremden witterte man den Verräter. Unter blonder Bevölkerung war der schwarzhaarige, unter dunkeler der blonde seines Lebens nicht sicher. Jede Roheit, jede heimtückische Niedertracht Mensch gegen Mensch, jeder böse Trieb galt auf einmal hoch und heilig, wofern er nur im Namen des Vaterlandes und im Dienst der Vaterlandes geübt wurde. Beutegier, Habgier, Machtgier, Gewalt, alles, alles war gut, wenn es nur sich kehrte gegen den «andern». – Ich sah einige Wochen vor Kriegsausbruch eine große Parade in Paris, bei welcher der französische Präsident und der englische König sich verbrüderten. Ich sah einige Wochen später den Aufmarsch der deutschen Truppen. Es war hüben wie drüben dasselbe Bild ahnungslos gläubiger Menschen, die überhaupt nicht wußten, was sie taten, und nicht einmal wußten, was sie wollten. Ich sah in den Lazaretten in allen Sprachen und in allen Farben immer dasselbe Elend: Irrendes Heldentum! ¶

 

Die Masse der Menschen leidet unter dem Bewußtsein, daß vereinzelte Geschöpfe stärker, edler, schöner, klüger, in irgendeiner Hinsicht wertvoller sind als sie selbst. Sie besitzt daher eine große Rüstkammer von Ausgleichsmitteln (Kompensationen), um jedes Bewußtsein der eigenen Minderwertigkeit hintanzuhalten, und selbst die Demut und Einfalt der Unterwürfigkeit vor dem All verbirgt im Kern noch vielerelei Dünkelhaft-Eitles.

Eines der wichtigsten Ausgleichmittel besteht nun darin, daß man die Leistungen und Werke aufsucht auf Kosten des dahinterstehenden Seelentums. Es liegt zumal in der Gegenwart in den Völkern der Trieb, hohe und immer höher hinaufgetriebene Leistungen zu suchen, nicht als Lebensspur und als Ausdruck vollendeten Menschentums, sondern als einer Art «monstrum per excessum», das zu Nachfolge nicht anspornt, zu Liebe und Ehrfurcht nicht verlockt. Es besteht das Bestreben, Tat und Werk unabhängig zu machen vom Naturgrund, indem man sie abschiebt auf «besondere Begabung», auf Begnadung mit Talent oder gar auf göttliche Inspiration. ¶

 

Kein Einzelner schreibt Geschichte. ¶

 

Es gibt einen Appell an das Schicksal, der recht eigentlich den Zusammenbruch alles kausalen wie alles geschichtlichen Denkens uns gewiß macht. Es ist nämlich die sicherste aller Tatsachen: Die Vernunft kann nur vernehmen, aber sie kann nichts machen. Immer dann also, wenn die Vernunft der Menschen die unlösliche Verwirrung ohnmächtig bestätigen muß, dann greift man, um überhaupt ein Geschehen herbeizuführen, zu durchaus außervernünftigen, um nicht zu sagen stupiden Machtausträgen: zu Kriegen, Mehrheitsbeschlüssen, Volksabstimmungen, Orakeln, Horoskopen, Ordalen. Das will sagen: Im gegebenen Notfall können nur Triebe entscheiden, nie Einsichten und Ansichten. ¶

 

«Was ist ein Philister? Ein hohler Darm / Mit Furcht und Hoffnung angefüllt, daß Gott erbarm.» (Johann Wolfgang Goethe) Die Furcht blickt immer rückwärts, aber ihr Rückwärts ist ja nur Lüge. Die Hoffnung blickt immer nach vorwärts, aber ihr Vorwärts ist ja nur Imagination. Das Leben ist ewig und vollständig nur im Augenblick; indem wir fürchtend ihn in ein Vergangenes, hoffend ihn in ein Künftiges auseinanderziehen, leben wir – Narren des Geschlechtshungers und des Machthungers – immer am Leben vorbei. ¶

 

Aber nehmen wir selbst dieses Äußerste an, daß die Lebensmöglichkeit der heute lebendigen Erdenmenschheit erblühe auf dem Boden des Selbstbetruges. Was könnte die Erkenntnis, was könnte echte Wissenschaft hindern, sich klarzumachen, daß Wahn eben – Wahn ist? Mag sich dann die Lebenskraft des Menschengeschlechts daran erproben, daß sie der Erkenntnis zum Trotze ihre Träume träumt. Und kann sie das nicht, was kümmert es das unvernichtbare Sein, wenn eine bestimmte Art von Lebewesen, nämlich die erkennenden Raubaffen, an ihrer eigenen Erkenntnis schließlich zugrunde gehen? Seit wann ist das Am-Leben-Bleiben Norm für Wahrheit? ¶

 

<Th. L., Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen oder Die Geburt der Geschichte aus dem Mythos, Hamburg: Rütten & Loening Verlag, 1962; zuerst: 1919, überarbeitete 4. Auflage: Leipzig 1927>

 

 

Theodor Lessing Die verfluchte Kultur 

 

Die Sprachen starker Gemeinschaftsvölker, z. B. das Chinesische, kennen nicht einmal das Fürwort der ersten Person. Wir aber schwätzen unaufhörlich von ‹Persönlichkeit›. Und wie überall die mechanische Vergesellschaftung zugleich Vereinzelung ist, so löst das Abendland die Lebensgemeinschaft auf in eine Unzahl proletarischer ‹Existenzen›. Keine Liebe bindet uns. Nur Belange und Zwecke. Nur der Wettbewerb unsrer sogenannt freien Persönlichkeiten. ¶

 

Man nimmt offenbar das Leben für eine selbstzweckhafte Gelegenheit, um ‹Kultur› daraus zu machen. Und doch kommt so wenig darauf an, daß es ‹Kultur› gibt. Dieses Verwerten, Erlernbarmachen, Vonsichabstellen! Dieses Verbequemern, Vermenschlichen, Sichdrumherumdrücken!

Der Mensch soll nicht alles begreifen, alles befingern! Er entgleitet dem Leben, indem er, allzu billig, allzu schnell weiß, kann, verarbeitet. Auch ist Kultur nicht Gestalt; sonder nur Gefüge oder Form! Das heißt eine vom Geist und Wille gelenkte nicht Leben offenbarende, sondern Leben verwertende Menschenkunst, daran das Kindertum der Ursprünglichkeit erstirbt. ¶

 

... daß der sicherste Totschläger des Lebens – der Begriff: Leben ist, daß ein Wissen vom Leben nicht möglich ist; ... maßen alles Wissen immer nur sein kann: das nachträgliche Sinngeben. ¶

 

Leben ist coincidentia oppositorum (Kuës). Dagegen ist alles Wissen ein Ur-teilen (Apperzipieren = Heraus-holen). ¶

 

Denn man ‹weiß› nur, was man machen kann. ¶

 

Alle unsere Fragen und Zwiste unsres Denkens sind Scheinfragen und Scheinzwiste. Sie werden eines Tages dadurch gelöst werden, daß man nicht mehr so fragen wird und die heute so Fragenden nicht mehr versteht. ¶

 

Wir müssen uns als Menschen bejahen, wie wir sind. Müssen dem Menschen Ehrfurcht geben vor sich selbst. Müssen ihn lieben wie er ist. Nur Freude erlöst. Wir geben nichts auf von unserer verfluchten Kultur ... ¶

 

<Th. L., Die verfluchte Kultur. Gedanken über den Gegensatz von Leben und Geist; zuerst 1921; Neuausgabe: München: Matthes & Seitz 1981>

 

 

Theodor Lessing Über einen Ausspruch von Doktor Goebbels

 

Ein Naturforscher aus der Goethezeit, Carl Gustav Carus, gibt in seinen «Denkwürdigkeiten» das folgende Beispiel für die Unentwirrbarkeit der menschlichen Erinnerung. Der Bildhauer Friedrich Tieck sollte in Dresden eine Auszeichnung empfangen und wurde zur königlichen Hoftafel eingeladen. Bei der Tafel wurde er dem Hofmarschall gegenübergesetzt, dem der König den Auftrag erteilt hatte, etwas den Künstler Ehrendes bei Tische vorzubringen. Dessen eingedenk, erhebt sich die alte Exzellenz während des Tafelns und trinkt seinem Gegenüber zu, mit den Worten «Prost Oranien!» Dieser versteht nicht den Sinn des Trinkspruchs, sondern merkt nur, daß es eine Ehrung sein sollte. Er beschließt, den Zusammenhang herauszubringen. Und es stellt sich folgendes heraus:

 

Der Hofmarschall hatte den Bildhauer Friedrich Tieck verwechselt mit seinem Vater, dem Bildhauer Friedrich Christian Tieck, weil dieser ebenfalls in Dresden wohnte. Diesen aber hatte er verwechselt mit dem seinem berühmteren Bruder, dem Dichter Ludwig Tieck, weil auch dieser einst seinen Wohnsitz in Dresden hatte. Diesen Ludwig Tieck aber verwechselte er mit einem noch älteren Dichter, welcher ebenfalls in Dresden gewohnt hatte, dem Dichter Ludwig Tiedge. Dieser Ludwig Tiedge aber hatte seinerzeit ein berühmtes Epos geschrieben, das in den Literaturgeschichten erwähnt wird. Dieses Epos hatte den Titel «Urania». Diesen Titel hatte die alte Exzellenz nicht genau behalten, sondern verwechselte ihn mit dem Haus Oranien, welches Goethe im Egmont besungen hat. Aus dem Wunsch, etwas Bedeutungsreiches und zur Sache Gehöriges als Kunstmäzen von sich zu geben, formte sich ihm dann der Trinkspruch: «Prost Oranien!» ...

 

Ein Gegenstück, wenn auch weniger freundlich, bildet der folgende Passus aus einer Rede, die der Führer der Nationalsozialisten, Herr Dr. Goebbels, in Leipzig hielt, als er sich wegen Beleidigung des Reichspräsidenten zu verteidigen hatte: «Der jüdische Geschichtsprofessor Lessing hat den Herrn Reichspräsidenten in ausländischen Blättern mit dem Massenmörder Haarmann verglichen, wofür ihn die nationale Studentenschaft züchtigte, aber das marxistische Ministerium mit einem Forschungsauftrag belohnte.» Gesetzt, ich wollte diesen Rattenkönig entwirren, wie könnte ich das? Erstens, ich bin nicht Geschichtsprofessor (er verwechselt mich entweder mit dem Kunsthistoriker Julius Lessing oder denkt wie der Bauer, bei dem ich im Sommer wohnte: als er hörte, ich sei «Schriftsteller», sagte er mir, er habe mich schon in der Schule gehabt). Zweitens habe ich nie in ausländischen Blättern etwas geschrieben, sondern bin seit langen Jahren Mitarbeiter des «Prager Tagblatt», einer deutschen Zeitung. Drittens habe ich nie den Herrn Reichspräsidenten beleidigt, sondern habe zur Zeit vor der Wahl des Reichspräsidenten vor der Kandidatur Hindenburgs gewarnt. Viertens habe ich niemals Hindenburg mit dem Massenmörder Haarmann verglichen, sondern erregte Ärgernis erstens durch jenen Warnaufsatz und zweitens durch Aufsätze gelegentlich des Haarmannprozesses, der mehr als ein Jahr zuvor stattfand. Fünftens bin ich nicht von der nationalen Studentenschaft gezüchtigt, sondern ein Häuflein grüner Jungen an einer technischen Hochschule entfesselte einen großen politischen Lärm gelegentlich jenes Aufsatzes, woraufhin das Kultusministerium ein Verfahren gegen mich einleitete, welches sechstens damit endete, daß ein mir zustehender Lehrauftrag umgewandelt wurde in einen Forschungsauftrag, und siebentens war das Ministerium nicht «marxistisch», sondern lau demokratisch und schuf mir viel Bitteres ...

 

Nun denke man folgendes: In der Kulturgeschichte, Religionsgeschichte, Doxographie beruhen zahlreiche Geschichtsbilder, etwa z. B. das Bild des Sokrates, einzig auf ein paar Sätzen, die von Zeitgenossen überliefert sind. Wer gibt Gewähr dafür, daß da nicht «Asssoziationsknäuel» überliefert werden, gleich den obigen? Wenn nun alles, was von mir übrigbleibt, der Satz aus der Rede des Doktor Goebbels wäre, so wie vom Catilina nicht übrigblieb als die Rede des Cicero? Schrecklich! Und da bekämpft man noch die Skepsis meiner «Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen»? ¶

 

<Zuerst in: «Das Tagebuch», 11. Jg., 1930; zitiert nach: Th. L., Ich warf eine Flaschenpost ins Eismeer der Geschichte. Essays und Feuilletons, hg. von Rainer Marwedel, Frankfurt a. M.: Sammlung Luchterhand 1986>

 

 

Theodor Lessing Einmal und nie wieder 

 

Ich bat meinen Stolz, der mich bewahren möge vor dem Klageliede des guten Kämpfers über sich selbst. Denn kein Zustand schien und scheint mir eines Menschen so unwürdig, als des Denkens Weheschrei über das Denken. Wir können ja doch unmöglich dazu Geisteswesen sein, daß wir die Episode Menschheit ausfüllen mit der Trauer über den Verlust des vom Geist noch freien Naturlebens. Stein und Pflanze, Nacht und Erde zu sein, dazu hatten und haben wir alle Ewigkeit. Das Nichtmenschliche bleibt uns ewig unbenommen. Jetzt aber bin ich nun mal ein Mensch. Und so laßt mich versuchen, ein rechter Mensch zu sein. ¶

 

<Th. L., Einmal und nie wieder. Lebenserinnerungen, Prag 1935>