Wilhelm von Humboldt ‹22. 6. 1767 Potsdam – 8. 4. 1835 Tegel›

 

Jurist, Politiker, Diplomat, Bildungsreformer und Ahnherr der modernen Sprachwissenschaft. Von sich selbst sagte er (1805): «Im Grunde ist alles, was ich treibe, Sprachstudium. Ich glaube die Kunst entdeckt zu haben, die Sprache als ein Vehikel zu gebrauchen, um das Höchste und Tiefste und die Mannigfaltigkeit der ganzen Welt zu durchfahren.»

 

Ein zusammenhängendes sprachwissenschaftliches Werk hat Wilhelm von Humboldt gleichwohl nicht hinterlassen. Zu Lebzeiten erschienen viele Aufsätze, vieles blieb Fragment. Sein wichtiges Werk zur Sprachtheorie ist ein «Vorwort». Es findet sich in dem postum, 1836, erschienenen Werk ‹Über die Kawi-Sprache auf Java – nebst einer Einleitung über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts›. Es ist diese (in der Originalausgabe bei Dümmler CCCCXXX Seiten umfassende) «Einleitung», mit der Wilhelm von Humboldt eine «kopernikanische Wende in der Sprachbetrachtung» (Günther Patzig et al.) vollzog.

 

Das unerhört Neue: Für Humboldt ist Sprache kein «bloßes Verständigungsmittel», kein Zeichensystem zur Übertragung von «Information» oder zur Beschreibung einer vom Sprechenden unabhängigen Welt. «Durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens, und des Wortes voneinander leuchtet es klar ein, daß die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken.« (‹Über das vergleichende Sprachstudium›, 1820)

 

Der Mensch, so Humboldt, ist nur durch und in Sprache Mensch. Damit ist in der Frage nach dem rätselhaften Ursprung der Sprache das Rätsel von der Menschwerdung selbst aufgehoben: «Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache; um aber die Sprache zu erfinden, müßte er schon Mensch sein.» (Ebd.)

 

Michael Böhler, Herausgeber des bei Reclam erschienenen Sammelbands ‹Wilhelm von Humboldt: Schriften zur Sprache›  (der vor allem Auszüge aus dem ‹Menschlichen Sprachbau› bringt neben kleineren Aufsätzen wie ‹Über Denken und Sprechen‹, ‹Über den Dualis› u. a.) schreibt in seinem Nachwort: «All diese Formulierungen, in denen Humboldt das Wesen der Sprache zu umkreisen versucht, klingen außerordentlich dialektisch. Aber der Begriff der Dialektik ist irreführend, Liebrucks [Bruno Liebrucks, in: ‹Sprache und Bewußtsein›, Bd. 2] meint gar: ‹Humboldt kennt keine Dialektik›. Tatsächlich werden Subjekt und Objekt nicht in der Sprache als einem übergreifenden Dritten aufgehoben, sie ist selbst von der Subjektivität und Objektivität durchwirkt. Ihr Werk besteht in der reinen Vermittlung, nicht in der prozeßhaft fortschreitenden Aufhebung der Gegensätze, und somit geschieht in ihr nicht ein dialektischer Vollzug im Sinne Hegels, sondern ein dialogischer.»

 

Böhler weist in diesem Zusammenhang auf einen wichtigen Charakterzug Wilhelm von Humboldts hin, den er, Böhler, unter anderem dafür verantwortlich sieht, daß die sprachwissenschaftlichen Arbeiten des Autors nicht in einem abgeschlossenen Werk, einem System gar, ihren Ausdruck fanden, sondern in Fragmenten und verstreuten Aufsätzen. So berichteten mehrere Zeitgenossen von Humboldts außerordentlicher Gabe als Gesprächspartner. Der befreundete Friedrich von Gentz schrieb: «Wenn man mit ihm redet, so ist es immer, als wenn man mit sich selbst redete, nur unendlich leichter. Man kennt sich selbst besser, wenn man ihn verläßt.» Und Friedrich Schiller: «Er hat ein seltenes, reines Interesse an der Sache, weckt jede schlummernde Idee, nötigt einen zur schärfsten Bestimmtheit, verwahrt dabei vor der Einseitigkeit und vergilt jede Mühe, die man anwendet, um sich deutlich zu machen, durch die seltene Geschicklichkeit, die Gedanken des anderen aufzufassen und zu prüfen.»

 

«Im Sprechen – vor allem im dialogischen Gespräch», so Böhler, «scheinen die Gaben Humboldts am reinsten hervorgetreten zu sein ... Im freien Hin und Her der Worte, der je aktuellen Wechselrede, aus der sich in stetigem Prozeß die Wahrheit herausschält, kommt Humboldts Denken zu seiner fruchtbarsten Verwirklichung, aber es teilt auch die Schwäche dieser Form: Der Denkprozeß, der sich in der Wechselrede abspielt, ist gleichsam infinitesimal, er kommt aus sich selbst heraus zu keinem Ende, ist daher immer unfertig und vorläufig; außerdem werden dabei selten Erkenntnisse in bestimmten Aussagen fixiert, vielmehr steht das Erkannte immer über, hinter oder vor der Wechselrede, nicht jedoch in festgestellten Sätzen und definierter Begrifflichkeit; der Denk- und Erkenntnisprozeß ist in eigentümlicher Weise präsent, ohne doch be-griffen und festgenagelt werden zu können.»

 

Die so beschriebene «Schwäche» ist natürlich keine, sondern vielmehr die angemessene Annäherungsweise an ein Phänomen, das sich jeder Fixierung entzieht – nicht zuletzt, weil Phänomen und Fixierungsmittel aus demselben Stoff sind, aus Sprache.

 

Um noch einmal Humboldt zu zitieren: «Die Sprache beginnt unmittelbar und sogleich mit dem ersten Akt der Reflexion, und so wie der Mensch aus der Dumpfheit der Begierde, in welcher das Subjekt das Objekt verschlingt, zum Selbstbewußtsein erwacht, so ist auch das Wort da – gleichsam der erste Anstoß, den sich der Mensch selbst gibt, plötzlich stillzustehen, sich umzusehen und zu orientieren.» (‹Über Denken und Sprechen›, 1795/96)