Helmuth Plessner  Grenzen der Gemeinschaft

 

Für den Radikalen gibt es nur ein Gesetz: Gründlichkeit. Wo es sich um Dinge des Lebens, des Zusammenlebens handelt, wird er durchaus nicht die Hände in den Schoß legen, alles laufen lassen, wie es will, sondern er wird von Grund aus beginnen und Prinzipien zu den allein gestaltenden Kräften zu erheben suchen: seine Gründlichkeit ist ein Ausdruck seiner Vorurteile gegen das Leben. Doch spottet die ewige Undurchsichtigkeit der konkreten Situationen, in die wir mit dem Augenblick unserer Geburt hineingesetzt sind, die uns nicht loslassen bis in den Tod, extremistischer Haltung; in flüssigem Element faßt die Hand nichts, wenn sie sich zur Faust ballt. Aber sie faßt auch nichts, wenn sie ganz offen bleibt. Ein auf Kosten des Geistes und Verstandes das Leben bejahender, die irrational-dynamischen Elemente zum Sturm entfachender Radikalismus ist deshalb nicht weniger lebensfeindlich und zur schließlichen Wirkungslosigkeit verurteilt als ein rationalistischer. Auch er hört nicht auf die Stimme des Ausgleichs und will die Wurzel der Existenz zum Ansatzpunkt unseres Handelns machen, auch er lebt Theorie, freilich atheoretische Theorie, wo nur Fingerspitzen, Biegsamkeit, Mäßigung entscheiden dürfen.

 

Als Deutscher brachte Luther der Welt den Ernst, der keine Kompromisse kennt, den Fanatismus des Gewissens, das alle Wahrheiten vor die Seele halten will und sich nicht beugt, es sei denn, daß es dazu selbst Ja sagt. Der Deutsche ist schwer und über ihm wird alles schwer, heißt es bei Goethe; er hat ein Wort für das zentrale Wesen der menschlichen Natur, das Wort Gemüt, das mit dieser Tönung in andere Sprachen unübersetzbar ist, und diese Gemüthaftigkeit verbietet ihm, was andere Völker haben, eine Unbekümmertheit, die das Leben spielend lebt, spielend in doppelter Bedeutung: heiter in dem Bewußtsein, daß nichts unbedingt verpflichtet, sondern auch noch im Letzten ein Gran Beliebigkeit steckt, und mit Verstand, der die Dinge nimmt, wie und weil sie so sind. Der Deutsche ist stolz darauf, in seinen besten Männern das Gewissen der Welt zu sein, aber heißt das nicht auch für die anderen den Spielverderber zu spielen? Heißt es nicht auch unglücklich sein? ¶

 

Das Idol dieses Zeitalters ist die Gemeinschaft. Wie zum Ausgleich für die Härte und Schalheit unseres Lebens hat die Idee alle Süße bis zur Süßlichkeit, alle Zartheit bis zur Kraftlosigkeit, alle Nachgiebigkeit bis zur Würdelosigkeit in sich verdichtet. In ihren Prägungen, den Phantomen allzu gequälter Herzen, drängt unter schauriger Roheit Verschüttetes wieder hervor. Maßlose Erkaltung der menschlichen Beziehungen durch maschinelle, geschäftliche, politische Abstraktionen bedingt maßlosen Gegenentwurf im Ideal einer glühenden, in allen ihren Trägern überquellenden Gemeinschaft. Der Rechenhaftigkeit, der brutalen Geschäftemacherei entspricht im Gegenbild die Seligkeit besinnungslosen Sichverschenkens, der mißtrauischen Zerklüftung in gepanzerte Staaten der Weltbund der Völker zur Wahrung ewigen Friedens. Das Gesetz des Abstands gilt darum nichts mehr, die Vereinsamung hat ihren Zauber eingebüßt. Die Tendenz nach Zerstörung der Formen und Grenzen fördert aber das Streben nach Angleichung aller Unterschiede. Mit der gesinnungsmäßigen Preisgabe eines Rechtes auf Distanz zwischen Menschen im Ideal gemeinschaftlichen Aufgehens in übergreifender organischer Bindung ist der Mensch selbst bedroht. ¶

 

Die Jugendbewegung wuchs aus dem Protest gegen die Großstadt und Degenerationsideale, gegen Vesnobtheit und Müdigkeitspathos. Und der Wald allein tut es nicht. Wenn sie eine Bewegung der Erneuerung und nicht bloß der Asphaltfeindschaft sein wollte, mußte sie Ideen haben.

Ihre Idee war: Los von der Zivilisation, empor zur Gemeinschaft. ¶

 

Darum bleibt eine vorherrschend gemeinschaftlich sich empfindende Sozialordnung beispielsweise auf der Stufe der Werkzeugtechnik, da das Handwerk die größtmögliche Persönlichkeitsnähe und Beseelungsfähigkeit besitzt. Was hier der Tendenz nach zur Aufhebung der Künstlichkeit und Lebensfremdheit, des Unpersönlichen im ausgesprochenen Sinn, führt, macht den Reiz und das wahre innere Wesen, das Ethos der Gemeinschaft aus. Die gesellschaftliche Lebensordnung sucht dagegen ihre Beziehung unpersönlich zu gestalten. Sie pflegt alles, was aus der Intimität zur Distanz, aus der Rückhaltlosigkeit zur Verhaltenheit, aus der individuellen Konkretheit zur allgemeinen Abstraktheit führt. Die Gemeinschaft duldet diese Lebensform nur als Handgriffe, als Hilfsmittel, als Wege zu lebensnotwendigen Zielen und vermag sonst in ihnen nichts Positives zu sehen. Ja, ihre Feindschaft gegen das Unlebendige, Trennende, Künstliche wird immer den Wunsch wachhalten, es zu vernichten und zur Natur zurückzukehren. Zum Grundcharakter des Gesellschaftsethos gehört hingegen die Sehnsucht nach den Masken, hinter denen die Unmittelbarkeit verschwindet. Die Gesellschaft gibt den bloßen Handgriffen und Hilfsmitteln notdürftigen Lebens über ihre Zweckmäßigkeiten hinaus einen neuen Sinn und Antrieb, aus diesem Sinn heraus zu gestalten, die Stärke, das Widernatürliche zu ertragen. ¶

 

Immer ist Gemeinschaft kreishaft gegen ein unbestimmtes Milieu abgeschlossene Sphäre der Vertrautheit. Ihr wesensnotwendiger Gegenspieler, Hintergrund, vor dem sie sich abhebt, ist die Öffentlichkeit, der Inbegriff von Leuten und Dingen, die nicht mehr «dazugehören», mit denen aber gerechnet werden muß. ¶

 

Wir sind sehr freigebig mit den Worten: Bruder, Schwester, Volksgenossen, Volksgemeinschaft, Menschengemeinschaft immer gewesen, denn es schmeichelt der Liebesfähigkeit des einzelnen, es täuscht Genialität des Herzens vor. Auch hier wird das Große, die Ausnahme auf Alltagsniveau gedrückt. Aber es ist einfach Verlogenheit, auch wenn sie aus gutem Willen kommen mag, über das wesensmäßige Unvermögen des Menschen hinwegzusehen und etwas zum Dauerzustand zu machen oder wenigstens zur Dauerbereitschaft, was nur der Ausnahme und dem begnadeten Augenblick vorbehalten ist. Vielleicht kommt die Liebe zu den überpersönlichen Realitäten Volk, Land, Menschheit im Laufe des Lebens einmal über jeden, aber legitimiert ihn diese Möglichkeit schon, die ganz wesentliche Mithilfe einer niemals herbeizwingbaren Begnadung beiseite zu setzen und von Liebe zu sprechen, wo bestenfalls Liebesgesinnung dem normalen Seelenzustand entspricht? ¶

 

Es geht nicht gegen das Recht der Lebensgemeinschaft, ihren Adel und ihre Schönheit. Aber es geht gegen ihre Proklamation als ausschließlich menschenwürdige Form des Zusammenlebens; nichts gegen die communio, wohl aber gegen die communio als Prinzip, gegen den Kommunismus als Lebensgesinnung, gegen den Radikalismus der Gemeinschaft. ¶

 

Was den Kampf für die Idee einer gesellschaftlichen Lebensordnung, und das heißt für das Verständnis der Notwendigkeit von Technik, Politik, Diplomatie, der Heilsamkeit des Unpersönlichen um des Persönlichen willen, schwer macht, ist nicht so sehr die fast vollkommene Isoliertheit für den, der den Kampf aufnimmt, als diese Unklarheit im gegnerischen Lager. Der Individualist verneint den Kommunisten, der Marxist den heroischen Ekstatiker, die Jugend das Alter. Seine Gesellschaftsfeindschaft spricht jeder von ihnen anders aus und orientiert sie nach anderen Zielen.

Demgegenüber ist festzuhalten: Gemeinschaft bedeutet ihren Verfechtern den Inbegriff lebendiger, unmittelbarer, vom Sein und Wollen der Personen her gerechtfertigter Beziehungen zwischen Menschen. Echtheit und Rückhaltlosigkeit sind ihre wesentlichen Merkmale, Gebundenheit aus gemeinsamer Quelle des Blutes zunächst ihre einheitsstiftende Idee. ¶

 

Darum schließen sich echte Gemeinschaften stets um eine verehrte Person, in der alle Liebesstrahlen am leichtesten vereint und abstoßende Kräfte zwischen den Gliedern ausgeglichen werden. ¶

 

Neben oder über die (biotische oder psychische, auf jeden Fall außerrationale) Blutsgemeinschaft tritt die Sachgemeinschaft. Alle Beziehungen, die in jener primär unergründbar, affektiv, individuell ganz und gar auf Leben basieren und in persönlicher Mitte verschmolzen sind, zeigen hier einen ausgesprochen entgegengesetzten Charakter. Die Personmitte ist durch unpersönliche Sachmitte ersetzt. Zu ihr gehen vielleicht noch die Strahlen geistiger Liebe, doch nicht mehr aus dem individuellen Wesenskern jeder Person, sondern aus jenem Teil ihres Wesens, den sie gerade mit allen Personen gemein hat, aus der Vernunft. Nicht warme, dichte Atmosphäre, sondern kalte, dünne Luft weht hier, der Hauch des Geistes. ¶

 

Selbst einmal abgesehen von diesem rationalistischen Vorurteil einer unweigerlichen Fraglosigkeit der Prinzipien –, gibt es nicht eine Unmenge von Dingen, Situationen, Lappalien, denen eine Anrufung geistiger Gesetze, wenn es sie überhaupt dafür gäbe, ganz inkongruent sein müßte? Zu welcher Deformation der Lebenslinie, zu welchen Aufblähungen des Unwesentlichen führte derartige Beschwerung mit Überlegung, Begründung und Gewißheit? Ob ich den Schirm mitnehmen oder zu Hause lassen soll, ist niemals eine Angelegenheit, die gleichen Aufwand an Ernst lohnt wie er etwa der Frage zukommt, was ein Mensch für einen Beruf wählen soll. Die perspektivische Verkürzung, in der uns die Dinge dieser Welt nicht nur erscheinen, sondern in der wir mit ihnen fertig zu werden haben, duldet einfach nicht ein Verhalten, das einem Gott erlaubt ist, der aus der Vogelperspektive der Deduktion auf alles gleichmäßig herabsieht. ¶

 

Wäre also der Geist, das Instrument und der Ort echter Überzeugung, die Macht, welche unwiderrufliches Ende einer Diskussion setzen könnte – er kann es nicht, denn er ist selbst eine Unendlichkeit und ein Grenzenloses, begrenzt sich selbst in einem vorgeistigen Akt, der ewig erneuerungsbedürftig zu ewig neuer Gestaltung führt –, er hätte nicht einmal das Recht, das tatsächliche Leben sich restlos zu unterwerfen. Ein Wesenszug aller Utopie, die möglichst weitgespannte Reglementierung des einzelnen durch den Gemeinschaftsgedanken, verrät das im Grunde intellektualistische Vorurteil, die Überschätzung des Geistes, einen an der echten mesotes [Mitte] vorbeirasenden Rigorismus. Der Mensch steht nicht umsonst zwischen Himmel und Hölle, so hat er zu leben, dem Geist und dem Fleisch sein Recht werden zu lassen, die Labilität zu ehren, wo sie sich ihm bietet, als praktischer Okkasionalist aus Ehrfurcht vor der tiefen Zweideutigkeit in aller Existenz, nicht als kleiner Gelegenheitsmacher; die eine der beiden Welthälften hat ihn immer noch früh genug. ¶

 

In der Konfrontation der beiden Ideale des Gemeinschaftsethos zeigen sich die Wesensgrenzen, die jeder Panarchie der Gemeinschaft hindernd im Wege sind: die Unaufhebbarkeit der Öffentlichkeit und die Unvergleichlichkeit von Leben und Geist. ¶

 

Wie das Lebendige in unvertretbaren Beziehungen sich zur Liebes- und Treuegemeinschaft organisiert, so kann der Geist die Gemeinschaft idealer Vertretbarkeit aller Glieder durch restlose Funktionalisierung ihrer Beziehungen bilden. Der substantiellen tritt damit die funktionalistisch-abstrakte, der persönlichen die unpersönlich-sachliche gegenüber. Aber auch auf seiner Basis läßt sich zu keiner Panarchie  der Gemeinschaft kommen. Dort scheiterte sie an der Irrationalität der Liebe, dem Gnadencharakter ungewollter Harmonie zwischen Menschen, hier an der Unvergleichlichkeit zwischen Geist und Leben. Am Fragmentcharakter des Daseins, an der undurchdringlichen Zweideutigkeit der Situationen scheitert der Geist, der immer organisch, systematisch und eindeutig ist. ¶

 

Jedes Zusammenleben trägt den Keim des Aneinandervorbeilebens in sich, weil die Seelen mehr sind als was sie wirklich sind. Auf die Gnade völligen Einklangs der Wesen läßt sich Gemeinschaft nicht bauen. ¶

 

Mag hundertmal nach der Idee das Ineffabile individueller Eigenart vom Seinsgrund der Gemeinschaft und damit von allen ihr Angehörenden mit erfaßt sein, tatsächlich durchdringen die Menschen sich doch nie bis auf den Grund, der gar nicht festliegt, weil er ewige Potentialität ist. Als geistig-seelische Wesen haben sie das ungeheure Bewußtsein, selbst von den Bahnen ihres individuellen Gesetzes abweichen zu können oder wenigstens des Rechtes, sich gegen seine Definition aufzulehnen. Soweit die Seele geformt ist, mag sie sich eine Beurteilung gefallen lassen; überzeugen kann sie davon doch erst die in der Rückschau erfaßbare Melodie durchlebten Schicksals. Denn sie ist mehr als diese geformte Wesenheit, sie ist der Urquell dazu, der Urgrund von Fähigkeiten, die Gestalt werden könnten, ohne Gestalt zu werden. ¶

 

Aus dem Urgrundcharakter, noch besser sagte man Ungrundcharakter der Psyche, aus ihrer Quellnatur folgt also, daß sie mehr ist als bloßer Strom oder Gerinnen der Strömung zu fester Gestaltung. Sie ist Werden und Sein in einem, weil sie zugleich die Genesis von beiden ist.

Darum erträgt die Seele, die seelenhafte Individualität, keine endgültige Beurteilung, sondern wehrt sich gegen jede Festlegung und Formulierung ihres individuellen Wesens. ¶

 

Ein treffendes Urteil trifft uns, verletzt uns ebensosehr als ein falsches. Getroffen, sehen wir uns, im eigenen oder im fremden Blick, vereinseitigt und festgelegt. Es kommt hier gar nicht darauf an, was man von uns sagt, als daß man von uns sagt. Ob Lob oder Tadel – im tiefsten muß sich die unendliche Seele aufbäumen gegen das verendlichende Bild im Bewußtsein eines Urteils. In der Gegenrichtung dazu liegt aber ebensowenig ihr Heil. Denn unter nichts leidet die Seele so wie unter dem Nichtbeachtetsein, dem ebenso von ihrer Natur herausgeforderten Schicksal. Seele ist in ihrer Innerlichkeit unergründlich, unabsehbar, ein geheimnisvoller Quellgrund an Möglichkeiten, undurchsichtig, schillernd, zweideutig. Seele zieht sich zurück, um nicht gesehen und getroffen zu sein, und sehnt sich doch danach, gesehen und gewürdigt, d. h. aus eigener Zweideutigkeit zur bestimmten Form, zum festumrissenen Charakterbild gebracht zu werden. ¶

 

Nur der schönen Seele, die ein Werk anstrengungstranszendenter Begnadung ist, gelingt es, vor der Welt ohne Haß sich zu verschließen, ohne Leiden ihr geöffnet zu sein. ¶

 

Aus den radikalen Nöten, denen er durch seine Innerlichkeit verfallen ist, sucht der sich selbst behauptende Mensch einen Ausweg. Den Antagonismus von Scham und Eitelkeit, Naivität und Reflexion, Realität und Illusion, die ihm keine Ruhe des Lebens, eine eindeutige Richtung lassen, weil sie nicht in seine Gewalt gegeben sind, muß er entfliehen, um eine Position vor anderen wie vor sich zu gewinnen. ¶

 

Die Sphäre des Zusammenlebens der Menschen ist an Möglichkeiten unendlich vielfältiger als die von ihr eingeschlossenen Sphären bluthafter oder geisthafter Bindung. Gerade auf dieses unendlich differenzierbare Zwischenreich zwischen Familiarität und Objektivität, ein Reich zwar nicht wertloser, wohl aber moralisch wertäquivalenter, nicht nach einer Alternative so oder so entscheidbarer Situationen, in denen Seele mit Seele in unvermittelten, d. h. liebefreien und sachfreien, weder durch Sympathie noch durch Überzeugung regulierbaren Kontakt gerät, hat sich die Aufmerksamkeit zu konzentrieren. ¶

 

Dieses Reich der Alltäglichkeit, der wertäquivalenten Situationen kennen wir alle: es ist die Gesellschaft im Sinne der Einheit des Verkehrs unbestimmt vieler einander unbekannter und durch Mangel an Gelegenheit, Zeit und gegenseitigem Interessen höchstens zur Bekanntschaft gelangender Menschen. Und wir kennen auch diesen tänzerischen Geist, dieses Ethos der Grazie: das gesellschaftliche Benehmen, die Beherrschung nicht nur der geschriebenen und gesatzten Konvention, die virtuose Handhabung der Spielformen, mit denen sich die Menschen nahe kommen, ohne sich zu treffen, mit denen sie sich voneinander entfernen, ohne sich durch Gleichgültigkeit zu verletzen. Die Liebenswürdigkeit ist ihre Atmosphäre, nicht die Eindringlichkeit; das Spiel und die Beobachtung seiner Regeln, nicht der Ernst ist ihr Sittengesetz. Die erzwungene Ferne von Mensch zu Mensch wird zur Distanz geadelt, die beleidigende Indifferenz, Kälte und Roheit des Aneinandervorbeilebens durch die Formen der Höflichkeit, Ehrerbietung und Aufmerksamkeit unwirksam gemacht und einer zu großen Nähe durch Reserviertheit entgegengewirkt. ¶

 

Man könnte denken, der Forderung nach gegenseitiger Achtung individueller Würde wäre durch eine einfache Geste, die jedem seinen Glauben und seine Neigung läßt, Genüge geschehen. Aber damit ist doch nur ein Schema des Verhaltens vorgezeichnet. Solche Abbreviatur, für die es manche Belege gibt wie: es muß auch solche Käuze geben, jeder soll auf seine Fasson selig werden, hat im Gegenteil etwas Verletzendes, wenn sie mit dem einzelnen Menschen zusammengebracht wird, denn eine individuelle Form ist erstrebt. Hier sitzt die Schwierigkeit. ¶

 

Das Individuum muß zuerst sich eine Form geben, in der es unangreifbar wird, eine Rüstung gleichsam, mit der es den Kampfplatz der Öffentlichkeit betritt. Auf solche Art sichtbar geworden, verlangt es entsprechende Beziehung zu anderen, Antwort von anderen. Der Mensch in der Rüstung will fechten. Eine Form, die unangreifbar macht, hat stets zwei Seiten, sie schützt nach innen, und sie wirkt nach außen. Das kann sie aber nur, wenn sie definitiv verhüllt. Ohne irreale Kompensation einer Form in die Öffentlichkeit zu gehen, ist ein zu großes Wagnis. Mit dieser irrealen Kompensation maskiert sich jedoch der Mensch, er verzichtet auf sein Beachtet- und Geachtetwerden als Individualität, um wenigstens in einem stellvertretenden Sinne, in einer besonderen Funktion, rerpräsentativ zu wirken und geachtet zu werden.

 

An die Stelle des ursprünglichen, aber verwundbaren, zerstörbaren Nimbus, der in dem «Noli me tangere»-Charakter alles Psychischen gegeben ist, tritt durch die Irrealisierung der Person ein unzerstörbarer Nimbus, der das Rätsel löst: einen Menschen gleichzeitig maximal sichtbar zu machen und zu verhüllen. ¶

 

Das Werk allein kann das wahre Gesicht eines Menschen werden, denn es spiegelt nicht sein bloßes Sein, das Residuum gleichsam seiner Existenz, sondern verklärt es im Lichte seiner Möglichkeiten, seiner verborgenen Wünsche und nie offenbarten Natur. ¶

 

Die Gesellschaft lebt allein vom Geist des Spieles. Sie spielt die Spiele der Unerbittlichkeit und die der Freude, denn in Nichts kann der Mensch seine Freiheit reiner beweisen als in der Distanz zu sich selbst. ¶

 

Takt ist das Vermögen der Wahrnehmung unwägbarer Verschiedenheiten, die Fähigkeit, jene unübersetzbare Sprache der Erscheinungen zu begreifen, welche die Situationen, die Personen ohne Worte in ihrer Konstellation, in ihrem Benehmen, ihrer Physiognomie nach unergründlichen Symbolen des Lebens reden. Takt ist die Bereitschaft, auf diese feinsten Vibrationen der Umwelt anzusprechen, die willige Geöffnetheit, andere zu sehen und sich selber dabei aus dem Blickfeld auszuschalten, andere nach ihrem Maßstab und nicht dem eigenen zu messen. Takt ist der ewig wache Respekt vor der anderen Seele und damit die erste und letzte Tugend des menschlichen Herzens. ¶

 

Versuchen wir uns bloß einen Augenblick den Verkehr einander kaum bekannter Personen vorzustellen, die sagen wollen, was sie denken oder gar voneinander vermuten. Nach kurzem Zusammenprall müßte sich Weltraumkälte zwischen sie legen. ¶

 

Wer aus Verzweiflung an seiner Umwelt immer mehr sich in sich selbst zurückzieht, verstärkt die Hemmungen, mit denen er sich nach außen verbarrikadiert. Aber das Psychische kennt nicht Außen und Innen, und so errichtet der Einsame Barrikaden gegen sich selbst. ¶

 

Die Weisheit des Taktes: Schonung des anderen um meiner selbst willen, Schonung meiner selbst um des anderen willen. ¶

 

Die Grundlosigkeit ist ein Wesensmoment des Taktes. ¶

 

Alle sozialen Beziehungen entfalten sich so vom Menschen aus, um im Menschen zu münden. Um seiner lebendigen Persönlichkeit, um seiner unvertretbaren Wirklichkeit willen zahlt er den Preis der Irrealisierung, Maskierung, Funktionalisierung, nimmt die ganze Sphäre der Künstlichkeit, der Mechanisierung und der Umständlichkeiten auf sich und erkauft selbst ein Raffinement komplizierter Befriedigung mit der Übernahme zweckloser Bedürfnisse. Für ihren Glauben, ihre Einrichtungen und Sitten unterziehen sich Genossen einer primären Vertrautheitssphäre der Last staatlicher Organisation, entsagen einem unbestimmt großen Teil ihrer Freiheit und natürlichen Würde und beugen sich als Mittel unter einen höheren Zweck. Und doch endet schließlich alles im Menschen, an den die höchste Gewalt übergeht, endet in seiner irrationalen Individualität, in seinem Charakter, Temperament, Schätzungsvermögen, in seinem Willen. ¶

 

Der große Irrtum des Radikalismus liegt hiernach klar zutage, der Angriff und Verteidigung bloß durch die physische und intellektuelle Natur des Menschen begründet sein läßt, die Seele, das Gemüt aber als Hort und Stätte der Friedensprinzipien, schrankenloser Hingabe und Widerstandslosigkeit, emphatischer Brüderlichkeit ansieht. Auch das Herz, die Innerlichkeit verlangt Distanz, Klugheit, Kampf. Jede Schicht unseres Wesens ruft nach Spiel und Gefahr. ¶

 

‹H. P., Grenzen der Gemeinschaft – Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001; zuerst: Verlag Friedrich Cohen, Bonn 1924›