Humberto R. Maturana Biologie der Realität

 

Ich sage, daß wir als Wissenschaftler Erfahrung mit Erfahrung erklären. ¶

 

Ich sage, daß Wissenschaft konstitutiv ein Erklärungsbereich ist, der keine Annahme einer äußeren Realität erfordert, denn sie befaßt sich nur mit Kohärenzen von Erfahrung. ¶

 

... daß wissenschaftliche Erfahrungen generative Vorschläge sind und nicht reduktionistische Operationen. ¶

 

In meiner Forschung über das Nervensystem, über Wahrnehmung und Erkenntnis, habe ich nicht nur herausgefunden, daß wir keine äußere oder von der Realität der Erfahrung unabhängige Realität brauchen, um alle Erfahrungen erklären zu können, und damit Erkenntnis, den Beobachter und das Beobachten, sondern daß die Annahme einer äußeren, von der Erfahrung unabhängigen Realität entweder als überflüssig behandelt wird oder das Verstehen der genannten Phänomene als biologische Phänomene stört. ¶

 

Außerdem leben wir eine Kultur, die die Aufgabe des täglichen Lebens abwertet, nicht nur weil sie als Aktivitäten von Menschen der niedrigen Gesellschaftsklasse betrachtet werden, sondern weil sie als Aktivitäten aufgefaßt werden, für die weniger Intelligenz und Scharfsinn benötigt wird als für technische Aufgaben. Ich widerspreche diesen Ansichten. Ich bin der Meinung, daß die Aufgaben des täglichen Lebens die grundlegenden Aktivitäten unserer menschlichen Existenz sind, weil alle technischen Aktivitäten, wie verfeinert sie auch immer erscheinen mögen, nur Ausdehnungen der Aufgaben des täglichen Lebens sind und faktisch als alltägliche Aufgaben gelebt werden. So ist z. B. die Biologie eine Ausdehnung des sich um die Tiere und Pflanzen des Haushalts Kümmerns, Chemie ist eine Ausdehnung des Kochens, Physik eine Ausdehnung des Hausbaus, und Philosophie ist eine Ausdehnung der Aufgabe, die Fragen von Kindern zu beantworten, und ob es uns gefällt, es so zu sehen oder nicht, wir leben diese technischen Tätigkeiten im täglichen Leben als tägliches Leben. ¶

 

In dem Maß, in dem der generative Mechanismus, der eine Erklärung ausmacht, und die Erfahrung, die zu erklären ist, sich nicht in demselben phänomenalen Bereich ereignen, ersetzt die Erklärung nicht die Erfahrung, die sie erklärt. ¶

 

Wenn eine Erklärung einmal akzeptiert ist, wird das, was sie geltend macht, zu einer Quelle neuer Erfahrungen, indem es der Beobachter in seinen Schlußfolgerungen anwendet. ¶

 

Die Schwierigkeit, das voll zu erfassen, was ich über Erkenntnis sage, liegt hier: In der Schwierigkeit, die wir haben, akzeptieren zu können, daß wir uns mit menschlichen Beziehungen befassen und damit, wie wir in ihnen operieren, wenn wir uns mit Gegenständen der Erkenntnis befassen, und nicht mit einer Realität, die unabhängig von unserer Erfahrung existiert. ¶

 

Objektives Wissen scheint möglich, und die Welt erscheint dadurch planvoll und vorhersagbar. Und doch ist Wissen als Erfahrung etwas Persönliches und Privates, das nicht übertragen werden kann. Das, was man für übertragbar hält, nämlich objektives Wissen, muß immer durch den Hörer geschaffen werden: Der Hörer versteht nur dann, und objektives Wissen erscheint nur dann übertragbar, wenn der Hörer zu verstehen (vor)bereit(et) ist. ¶

 

Alles was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt. Der Beobachter spricht durch seine Äußerungen zu einem anderen Beobachter, der er selbst sein könnte. ¶

 

Der Beobachter kann einen Gegenstand nur beschreiben, wenn es zumindest einen anderen Gegenstand gibt, von dem er ihn unterscheiden kann, und wenn er Interaktionen oder Relationen zwischen beiden beobachten kann. Dieser zweite Gegenstand, der als Bezugsgröße für die Beschreibung dient, kann jeder beliebige Gegenstand sein. Die letztmögliche Bezugsgröße ist jedoch der Beobachter selber. ¶

 

Ich entstehe als eine Erfahrung, in meiner Operation meine Erfahrung mit meinen Erfahrungen zu erklären. ¶

 

Die anatomische und funktionale Organisation des Nervensystems sichert die Synthese von Verhalten, nicht eine Repräsentation der Welt. ¶

 

Sprachliches Verhalten ist Orientierungsverhalten; es orientiert den zu Orientierenden innerhalb seines kognitiven Bereiches auf Interaktionen hin, die unabhängig sind von der Art der orientierenden Interaktionen selbst. ¶

 

Solange Sprache als denotativ aufgefaßt wird, muß sie als Mittel der Übertragung von Informationen gesehen werden, so als ob etwas von Organismus zu Organismus übertragen würde und als ob dadurch der Bereich der Ungewißheit des «Empfängers» entsprechend den Spezifikationen des «Senders» reduziert werden sollte. Erkennt man jedoch, daß die Sprache konnotativ ist, nicht denotativ, und daß ihre Funktion darin besteht, den zu Orientierenden innerhalb seines kognitiven Bereichs zu orientieren, und zwar ohne Rücksicht auf den kognitiven Bereich des Orientierenden, so wird klar, daß es keine Informationsübertragung durch Sprache gibt. Es ist dem Orientierten überlassen, wohin er durch selbständige interne Einwirkung auf seinen eigenen Zustand seinen kognitiven Bereich orientiert. Seine Wahl wird zwar durch die «Botschaft» verursacht, die so erzeugte Orientierung ist jedoch unabhängig von dem, was diese «Botschaft» für den Orientierenden repräsentiert. Im strengen Sinne gibt es daher keine Übertragung von Gedanken vom Sprecher zum Gesprächspartner. Der Hörer erzeugt Information dadurch, daß er seine Ungewißheit durch seine Interaktion in seinem kognitiven Bereich reduziert. Konsens ergibt sich nur durch kooperative Interaktionen, wenn das sich dabei ergebende Verhalten jedes Organismus der Erhaltung beider Organismen dienstbar gemacht wird.

Ein Beobachter, der eine kommunikative Interaktion zwischen zwei Organismen betrachtet, die beide bereits einen konsensuellen sprachlichen Bereich entwickelt haben, kann die Interaktion als denotativ beschreiben. ¶

 

Jede sprachliche Interaktion ist somit notwendigerweise kontextabhängig. ¶

 

Der Bereich sprachlicher Äußerung ist ein geschlossener Bereich, und es ist unmöglich, aus ihm durch sprachliche Äußerung herauszutreten. ¶

 

Zeit und Sinn sind wirksame Ursachen im sprachlichen Bereich, besitzen jedoch keine neurophysiologischen Korrelate in der Organisation des Nervensystems. ¶

 

Der Beobachter ist ein lebendes System, und jedes Verständnis der Kognition als eines biologischen Phänomens muß den Beobachter und die von ihm dabei gespielte Rolle erklären. ¶

 

Ein lebendes System ist kein zielgerichtetes System. Es ist wie das Nervensystem ein stabiles, zustandsdeterminiertes und streng deterministisches System, das in sich geschlossen ist und durch Interaktionen moduliert wird, die nicht durch sein Verhalten spezifiziert werden. ¶

 

Was in einem lebenden System vor sich geht, entspricht dem Geschehen bei einem Instrumentenflug, bei dem der Pilot keinen Zugang zur Außenwelt hat und lediglich als Regulator der durch seine Fluginstrumente angezeigten Werte fungieren darf. Seine Aufgabe ist es, eine bestimmte Abfolge der von seinen Instrumenten angezeigten Meßwerte einzuhalten, entweder gemäß einem vorgeschriebenen Plan oder gemäß einem Plan, der sich durch die Meßwerte selbst ergibt. Der Pilot, der sein Flugzeug verläßt, ist erstaunt darüber, daß ihm seine Freunde zu perfektem Flug und perfekter Landung gratulieren, die er in absoluter Dunkelheit ausgeführt hat. Er fühlt sich verwirrt, da er seinem Wissen nach in jedem einzelnen Zeitpunkt nichts anderes getan hat, als die von seinen Instrumenten angezeigten Werte innerhalb bestimmter Grenzen zu halten. Diese Aufgabe wird in keiner Weise durch die Beschreibungen repräsentiert, die seine Freunde (Beobachter) von seinem Verhalten geben. ¶

 

Lebende Systeme haben in bezug auf ihre funktionale Organisation weder Input noch Output, obwohl sie bei Störungen ihre eingestellten Zustände konstant halten. Nur in unseren Beschreibungen, dann nämlich, wenn wir solche Systeme als Teile von uns definierter größerer System auffassen, können wir behaupten, daß dies der Fall ist. Wenn wir für unsere Analyse der Organisation des Lebendigen einen solchen deskriptiven Standpunkt einnehmen, passen wir unser Verständnis dieser Organisation unwillkürlich Vorstellungen an, die nur für vom Menschen erzeugte (fremdreferentielle) Systeme Gültigkeit haben.¶

 

Der kognitive Bereich des Beobachters ist begrenzt, aber unbeschränkt. Der Beobachter kann in endlos rekursiver Weise mit Repräsentationen seiner Interaktionen interagieren und durch sich selbst Relationen zwischen im übrigen unabhängigen Bereichen herstellen. Diese Relationen sind neue Sachverhalte, die durch den Beobachter entstehen und die nicht mehr (und nicht weniger) an Wirkung zeigen, als er ihnen durch sein Verhalten verleiht. Er schafft (erfindet) daher sowohl Relationen und erzeugt (spezifiziert) die Welt (den Interaktionsbereich), in der er lebt, indem er seinen kognitiven Bereich durch rekursive Beschreibungen und Repräsentationen seiner Interaktionen fortlaufend erweitert. Neues ist somit ein notwendiges Ereignis der historischen Organisation des Beobachters, die jeden erreichten Zustand zum Ausgangspunkt für die Herstellung des nächsten Zustandes macht; dieser kann daher keine genaue Wiederholung irgendeines vorausgegangenen Zustandes sein. Diese unvermeidbare Eigenschaft wird gewöhnlich mit Kreativität bezeichnet. ¶

 

Aufgrund der Art des kognitiven Prozesses und der Funktion der sprachlichen Interaktionen können wir nichts über das aussagen, was unabhängig von uns ist und womit wir nicht interagieren können. Dies würde eine Beschreibung implizieren, und eine Beschreibung als Verhaltensweise repräsentiert lediglich in Interaktionen gegebene Relationen. ¶

 

Daraus folgt, daß eine Realität als eine Welt unabhängiger Gegenstände, über die wir reden können, notwendigerweise eine Fiktion des rein deskriptiven Bereiches ist. ¶

 

Die Frage Was ist der Gegenstand der Erkenntnis? wird damit sinnlos. Es gibt keine Gegenstände der Erkenntnis. Wissen heißt fähig sein, in einer individuellen oder sozialen Situation adäquat zu operieren. Wir können über das Substrat, in dem unser kognitives Verhalten gegeben ist, nicht reden, und worüber wir nicht reden können, darüber müssen wir schweigen, wie Wittgenstein betont hat. Dieses Schweigen bedeutet jedoch nicht, in Solipsismus oder irgendeine Art metaphysischen Idealismus zu verfallen. Es bedeutet, daß wir anerkennen, daß wir als lebende Systeme in einem Bereich von Beschreibungen leben, wie bereits Berkeley betont hat, und daß wir durch Beschreibungen die Komplexität unseres kognitiven Bereiches unbeschränkt vergrößern können. Unser Weltbild und die von uns gestellten Fragen müssen sich daher entsprechend verändern. Diese Neufassung der Realität als eines Bereiches von Beschreibungen widerspricht außerdem weder dem Determinismus noch der Voraussagbarkeit in den verschiedenen Interaktionsbereichen, im Gegenteil, sie liefert das Fundament dafür, indem sie zeigt, daß sie eine notwendige Folge des Isomorphismus der Logik der Beschreibung und der Logik des beschreibenden Systems sind. Dies macht außerdem deutlich, daß Determinismus und Voraussagbarkeit nur im Bereich dieses Isomorphismus Geltung haben, d. h. daß sie nur für die Interaktionen, die einen Bereich definieren, gültig sind. ¶

 

In der Tat ist jedes Wissen einer transzendenten, absoluten Realität grundsätzlich unmöglich; würde eine angenommene transzendente Realität unserer Beschreibung zugänglich werden, dann wäre sie nicht transzendent, da eine Beschreibung stets Interaktionen voraussetzt und folglich nur subjektabhängige Realitäten enthüllen kann.

Wir können daher höchstens sagen, daß der Beobachter durch seine Interaktionen (auch mit Hilfe von Instrumenten) eine Beschreibung des Realitätsbereichs erzeugt und daß der Beobachter ein System von Systemen (ein System des Konsensus) beschreiben kann, das zur Entstehung von Systemen führt, die beschreiben können: also zu Beobachtern. Daraus folgt, daß aufgrund der Geschlossenheit des Bereichs der Beschreibung der Beobachter die folgende ontologische Aussage machen kann: Die Logik jeder Beschreibung ist isomorph der Logik des Operierens des beschreibenden Systems.

Offensichtlich bleibt somit als einziges der Beobachter. Und doch existiert auch der Beobachter nicht allein, da seine Existenz notwendig mindestens ein weiteres Wesen voraussetzt, das eine notwendige Bedingung zu Herstellung des konsensuellen Bereichs ist, in dem er als Beobachter existiert. Was jedoch die Einzigartigkeit jedes Beobachters ausmacht und jeden Beobachter einsam macht, sind einmal seine Erfahrungen, die notwendigerweise innerhalb seiner operationalen Geschlossenheit verbleiben müssen, und zum anderen seine Fähigkeit, durch Konsensualität zweiter Ordnung so zu operieren, als ob er sich außerhalb der Situation befände, in der er sich befindet, und als ob er somit seine eigene Lage als Beobachter beobachten könnte. ¶

 

Der Organismus ist frei, obwohl sein Operieren deterministisch ist, wenn er konsensuelle Bereiche zweiter Ordnung generieren kann. ¶

 

Wenn ein Mensch ein soziales System beobachten kann, das er durch sein Verhalten erzeugt, kann er es ablehnen und so zu einem Auslöser des Wandels werden; kann er jedoch nur Interaktionen durchlaufen, die durch das von ihm mitintegrierte soziale System bestimmt sind, dann kann er kein Beobachter des Systems werden, und sein Verhalten kann dieses System nur bestätigen. ¶

 

Naturwissenschaftliche Erklärungen erklären keine von uns unabhängige Welt und kein eigenständiges Universum. Sie erklären die Lebenspraxis (den Erfahrungsbereich) des Beobachters und benutzen hierfür die operationalen Kohärenzen, die die Lebenspraxis des Beobachters in Sprache konstituieren. Hier zeigt sich also, daß Naturwissenschaft Poesie ist. ¶

 

Ist ein Realitätsbereich geschaffen, kann der Beobachter die Objekte oder Entitäten, die ihn konstituieren, so behandeln, als ob sie alles umfaßten, was es gibt, und als ob sie unabhängig von den Unterscheidungsoperationen existieren, durch die sie entstanden sind. ¶

 

Primär gegeben ist der Beobachter, nicht das Objekt. Besser, Beobachtung ist bereits integraler Teil der Lebenspraxis in Sprache, wenn wir anfangen, darüber nachzudenken. ¶

 

Alle Dinge sind kognitive Entitäten, Erklärungen der Praxis oder Geschehens des Lebens des Beobachters, und sie sind so wie auch diese meine Erklärungen nichts als eine Seifen-Blase menschlichen Handelns, die über dem Nichts schwebt. Jedes Ding ist kognitiv, und die (Seifen-)Blase der menschlichen Kognition ändert sich mit dem ständigen Geschehen der menschlichen rekursiven Eingebundenheit in das ko-ontogenetische und ko-phylogenetische Driften in den Existenzbereichen, die der Beobachter in seiner Lebenspraxis hervorbringt. Alles unterliegt daher menschlicher Verantwortung. ¶

 

Die menschliche Verantwortung in den Multiversen der Menschen ist total. ¶

 

<H. R. M., Biologie der Realität. Aus dem Spanischen von Wolfram Karl Köck und Gerda Verden-Zöller, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1998>