Ludwig Marcuse Aus den Papieren eines bejahrten Philosophiestudenten

 

In Theodor Lessing kam Schopenhauers leidenschaftlicher Anti-Historismus zu einem höchst präzisen Ausdruck in dem Titel eines Buches, das 1929 erschien: «Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen». Diese Anti-Geschichtsmetaphysik blieb folgenlos, weil der hegelsche Marxismus und der marxistische Hegelianismus einen Sinn der Geschichte brauchte – zur Unterstützung der Kriegführung. ¶

 

Auf der Suche nach einem Ausspruch, der mir am eindeutigsten und kürzesten nahegekommen ist, fand ich Aldous Huxleys Glaubensbekenntnis eines Lebensanbeters: «Als ein vielfältiges und unstetes Wesen ist er in der Lage, alle die teilweisen und offenbar widersprechenden Synthesen hinzunehmen, welche von andern Philosophen konstruiert wurden. Er ist einen Augenblick Positivist und im nächsten Mystiker; bald vom Gedanken an den Tod verfolgt (denn die Offenbarung des Todes ist eine Begleiterscheinung des Lebens), bald ein dionysisches Naturkind; ein Pessimist und, bei einer Veränderung in der Liebe oder in der Leber oder auch nur des Wetters, ein überschwänglicher Anhänger des Glaubens, daß Gott in seinem Himmel und auf Erden alles wohlbestellt hat.» Er ist so mannigfach, weil er viele Personen in einer ist; jeder Glaube ist die Rationalisierung einer vorherrschenden Stimmung. Die Frage, ob eine dieser Philosophien wahr oder falsch sei, ist keine. «Ich lasse Carlyles Verzweiflung und Pascals Todesahnung genau so gelten», schrieb Huxley, «wie die Form ihrer Nasen und ihren Kunstgeschmack.» Intolerant ist er nur gegen den Ausspruch des Denkers, welcher der Welt seine Nase oktroyiert. Diese Gewalttätigkeit maskiert sich heute als Strenge des Begriffs. ¶

 

Denken ist Ordnung machen; eine Aktivität, die heute mehr als je angezweifelt wird, weil man sie zu lange für eine Passivität hielt: Ordnung abbilden. ¶

 

<L. M., Meine Geschichte der Philosophie. Aus den Papieren eines bejahrten Philosophiestudenten, Zürich: Diogenes 1981; zuerst: München 1964>

 

 

Ludwig Marcuse Philosophie des Un-Glücks

 

Die Wissenschaft will (nach Einstein) nur aufzeigen, wie Fakten aufeinander bezogen, durcheinander bedingt sind; sie ist nachträgliche Rekonstruktion dessen, was ist, durch Verbegrifflichung.

Auch Planck sagt, daß eine unüberbrückbare Kluft besteht zwischen dieser Rekonstruktion (selbst in ihrer Vollendung) und der «Realität», die unerkennbar, von der Wissenschaft nur repräsentiert wird. Das heißt: die Wissenschaft kann in alle Ewigkeit nicht den Himmel erobern, kann prinzipiell nicht mehr, als sie schon im Beginn ihrer Laufbahn konnte: Ordnung finden im Unbegreiflichen.

Das wird ganz anders, wenn philosophische Gesellschaften ihn einladen; oder wenn neugierige Reporter ihn besuchen oder wenn die pathetische Situation des Selbstporträtierens ihn verlockt. Dann vergißt Planck, daß er die Unüberbrückbarkeit der Kluft zwischen dem Wissen der Wissenschaft und der absoluten Wahrheit verkündet hat.

In seiner Arbeit «Der Kausalbegriff in der Physik» verteidigt er nicht nur das Gesetz, auch noch den «ausgesprochen teleologischen Charakter» der Kausalität.

Für die Vernunftherrschaft gibt es, so meint er, eine schöne Illustration: den vernünftigen Lichtstrahl. Dieser helle Schnell-Läufer, von einem fernen Stern herkommend und das Auge des Betrachters treffend, hat einen recht komplizierten Weg zurückgelegt – wegen der Brechungen, die er erlitt, wandernd durch die verschiedenen Luftschichten. Aber eins ist gewiß: er wandert immer auf dem kürzesten Weg. Und es folgt Plancks Apotheose der kosmischen Vernunft: es benähmen sich die Photonen, die Elemente des Lichtstrahls, wie vernünftige Wesen; unter allen möglichen Bahnen wählten sie die eine, die sie am schnellsten zum Ziel bringt.

Ist das ihr Ziel, auf meiner Netzhaut zu landen? Und selbst wenn dem so wäre, weshalb haben sie es so eilig? Der Weg ist ohnehin so lang, daß es auf ein paar Jahre nicht mehr ankommt? Weshalb ist es vernünftig, den direktesten Weg zu nehmen, anstatt sich im Weltall zu tummeln? Ist das nicht nur die Vernunft gehetzter Großstadtmenschen, die nie Zeit haben, weil Zeit Geld und Geld Leben ist? Aber was fangen die Photonen mit Geld an? Sie wohnen weder am Time Square noch am Alexanderplatz. ¶

 

Deshalb verrät es Ahnungslosigkeit, das Theoretische zu isolieren. Ahnungslos ist Robert Graves’ Sentenz: «Der Begriff des Supra-Naturalen ist eine Krankheit der Religion» – wo er doch gerade ihre Gesundheit war. Ahnungslos ist die Sowjet-Enzyklopädie, die unter dem Stichwort «Gott» dekretiert: «Völlig frei erfundene, fiktive Persönlichkeit». Sie ist ebenso «frei erfunden» wie die «Klassenlose Gesellschaft» – und leistete mehr. Die Kern-Worte der großen Deutungen sprechen nicht eine Wahrheit aus, sondern ein Heilsames. Deshalb sind theoretische Möglichkeiten, die das nicht leisten konnten, unentwickelt geblieben; zum Beispiel der böse Gott, der Monotheismus Satans. Es ist eine Denkbarkeit, Beispiele bieten sich an, ein Aristoteles oder Hegel hätten ihn plausibel machen können; nur fehlte es an Bedarf. ¶

 

Rätselhaftsein ist schon auf niederer Ebene eine beunruhigende Provokation, wie alle Leser von Kriminalromanen wissen. Es gibt Menschen, die nicht sterben wollen – aus Neugierde, wie der Erd-Roman weitergeht. ¶

 

Pessimismus ist nichts als eine Katastrophe, wenn er nur verstärkt, was das Leben ohnehin vielen antut. ¶

 

Es ist schlimm, wenn die wesentlichsten Worte den Menschen hindern, seine Situation zu verstehen. Gott ist heute so ein Wort. Man konnte einmal in ihm sich klarer sehen; heute versteckt man sich in ihm vor sich. ¶

 

Es gibt nur einen einzigen Tod im All: den Menschen-Tod. Er ist nicht ein makrokosmisches Schicksal, nicht einmal ein biologisches – nur die Erfahrung von Menschen. 

 

Es ist ein Zeichen von Reife, sich nicht mit ärmlichen Metaphern zu betrügen. ¶

 

<L. M., Philosophie des Un-Glücks. Pessimismus ein Stadium der Reife, Zürich: Diogenes 1981; zuerst: Hamburg 1953>