Cornelius Castoriadis ‹11. 3. 1922 Konstantinopel (Instanbul) – 26. 12. 1997 Paris›

 

Cornelius Castoriadis wuchs in Athen auf, wo er Jura und Wirtschaftswissenschaft studierte. Nebenher intensive Philosophiestudien. (Und Sprachstudien: Der achtzehn Jahre junge Castoriadis übersetzt den ersten Teil von Webers ‹Wirtschaft und Gesellschaft› ins Griechische und bringt den Text in einer mit Freunden betriebenen kleinen Soziologie-Zeitschrift heraus). Zu Beginn der deutschen Besatzung war er zunächst Mitglied der Kommunistischen Partei, schloß sich dann einer Gruppe von Trotzkisten an, die (nach Abzug der Nazis) von einheimischen faschistischen Milizen ebenso verfolgt wurden wie von der stalinistischen Nationalen Befreiungsfront EAM. 1945 nutzte Castoriadis ein Stipendium, um dem eskalierenden Bürgerkrieg zu entfliehen und nach Paris zu emigrieren (zusammen mit 180 weiteren jungen Stipendiaten –  eine gezielte Aktion des Institut français, das sich hier heldenhaft als Fluchthelfer betätigte). In Paris gründete er die Gruppe «Socialisme ou Barbarie», die von 1949 bis 1965 die Zeitschrift gleichen Namens herausgab. Mit ihrem anti-stalinistischen, anti-totalitären Kurs stand sie in Opposition zur allgemeinen UdSSR-Verherrlichung der französischen Linken und gewann größeren Einfluß erst später während der 68er-Revolte. Hier erschien 1964/65 in Fortsetzungen Castoriadis’ große Studie ‹Marxisme et théorie révolutionnaire›, die 1975 zusammen mit einer ebenso umfangreichen «Fortsetzung», ‹L’imaginaire social et l’institution›, Castoriadis’ Hauptwerk bilden sollte: ‹L’institution imaginaire de la sociéte› (auf deutsch 1984 unter dem Titel ‹Gesellschaft als imaginäre Institution – Entwurf einer politischen Philosophie›, übersetzt von Horst Brühmann).

 

In seinem Vorwort weist der Autor auf den womöglich heterogenen Charakter des Werks hin: «Bei der Niederschrift stand ich unter dem Druck des Publikationstermins der Zeitschrift, so daß schon der erste Teil weniger eine abgeschlossene Arbeit darstellt denn ein work in progress. Allen Regeln einer ordentlichen Gliederung zuwider werden darin die Mauern eine nach der anderen hochgezogen, umgeben von übrig gebliebenen Baugerüsten, Sand- und Steinhaufen, Balken und schmutzigen Maurerkellen ...»

 

Das ist höfliches Understatement (denn von der «ungünstigen» Entstehungsgeschichte bemerkt die Leserschaft durchaus nichts), zugleich aber Hinweis auf das notwendig Unabgeschlossene jedes philosophischen Entwurfs, der nicht zum Dogma erstarren will. Denn: «Eigentlich sollte das eine Selbstverständlichkeit sein: Bei einer Arbeit der Reflexion ist es für den Leser keineswegs von Vorteil, das Baugerüst abzubrechen und Zugangswege blankzufegen; man betrügt ihn damit sogar um etwas Wesentliches. Anders als bei einem Kunstwerk ist der Bau hier niemals fertig und kann es auch gar nicht sein; genauso wichtig und noch wichtiger als das Ergebnis ist die Arbeit der Reflexion, und vielleicht ist es gerade das, was ein Autor vorweisen kann, wenn er denn etwas vorzuweisen hat. Gibt man dem Resultat den Anschein einer systematischen und abgerundeten Totalität (die es in Wirklichkeit niemals gibt), oder stellt man, wie es in pädagogischer Absicht, aber darum nicht weniger irreführend in vielen philosophischen Werken geschieht, den Gang der Konstruktion als geordneten und kontrollierten logischen Prozeß dar, so wird man beim Leser unweigerlich jene verderbliche Täuschung bestärken, der er ohnehin schon (wie wir alle) zuneigt: daß nämlich der Bau für ihn errichtet worden sei und er ihn künftig, wenn es beliebt, nur zu bewohnen brauche. Denken ist nicht dem Bau von Kathedralen oder dem Komponieren von Symphonien vergleichbar. Wenn im Denken von Symphonie die Rede sein kann, so hat sie der Leser in seinen eigenen Ohren zu erschaffen.»

 

Doch von mangelnder Systematik kann ebenfalls nicht die Rede sein. Ein etwaiger Eindruck des Disparaten mag sich allenfalls ergeben durch den gleichsam interdisziplinären Ansatz, mit dem Castoriadis seinen zentralen Gedanken beleuchtet – den Gedanken «des Gesellschaftlich-Geschichtlichen als Welt des Imaginären: als imaginäre Institution, als Schöpfung gesellschaftlicher Formen» (Max Zulauf, ‹Direkte Aktion›, Nr. 149, Jan./Feb. 2002) –: Castoriadis’ «Gang der Konstruktion» führt ihn von Marx’ Geschichtsdeterminismus zur Theorie der Psychoanalyse, von der Sprachkritik zur Erkenntniskritik und schließlich von der überkommenen Logik/Ontologie zu dem, was Castoriadis «Bedeutungs-Magma» und «Magma-Logik» nennt. Es geht um das Imaginäre, das, was bei Kant Einbildungskraft heißt, und das nach Castoriadis besser Bildungskraft heißen sollte:

 

«Wer vom ‹Imaginären› spricht und darunter das ‹Spiegelhafte›, die Widerspiegelung oder gar das ‹Fiktive› versteht, wiederholt nur – meist unwissentlich – die Behauptung, die ihn auf ewig an irgendeinen Winkel der berühmten Höhle festkettet: die Behauptung nämlich, daß (diese Welt) notwendig Bild von etwas sei. Das Imaginäre, von dem ich spreche, ist kein Bild von. Es ist unaufhörliche und (gesellschaftlich-geschichtlich und psychisch) wesentlich indeterminierte Schöpfung von Gestalten/Formen/Bildern, die jeder Rede von ‹etwas› zugrunde liegen. Was wir ‹Realität› und ‹Rationalität› nennen, verdankt sich überhaupt erst ihnen ...»

 

Neben seinem Hauptwerk erschienen in Frankreich zahlreiche Bände mit gesammelten Aufsätzen, darunter (bei Seuil; Taschenbuchausgabe bei Points) die sechsbändige Reihe ‹Les carrefours du labyrinthe›, dessen erster bereits 1981 bei Suhrkamp unter dem Titel ‹Durchs Labyrinth – Seele, Vernunft, Gesellschaft› erschien.

 

Inzwischen liegen sämtliche Aufsätze der ‹Carrefours›-Reihe (in veränderter Anordnung) in der Edition AV auf deutsch vor in einer Castoriadis-Ausgabe mit ‹Ausgewählten Schriften›, herausgegeben von Michael Halfbrodt und Harald Wolf. – Außerdem der erste Band einer Castoriadis gewidmeten Zeitschrift: ‹Im Labyrinth – Hefte für Autonomie›, Edition AV, 2018.

 

Überaus lesenswert ist auch die Biographie von François Dosse: ‹Castoriadis – Une Vie› (Paris: La Découverte 2014). – Ein denkbar schlichter Titel – aber « quelle histoire » !

Foto: Website der Association Cornelius Castoriadis (castoriadis.org)