Henri Laborit  Selbstporträt

 

Dies ist das erste Buch, das ich nach Vorgaben eines Verlegers schreibe, und die Reihe, in der es erscheint, sieht vor, daß die Autoren mit einem Selbstporträt beginnen. Wenn man jedoch dreißig Jahre seines Lebens mit dem Studium der Biologie verbracht hat, wenn man von der Allgemeinen Biologie zur Biologie des zentralen Nervensystems und schließlich zur Verhaltensbiologie gelangt ist, dann wird man wohl jedem Versuch einer Selbstdarstellung in der Sprache des Bewußtseins einigermaßen skeptisch gegenüberstehen. Alle Autobiographien und Lebenserinnerungen sind bewußte Hochstapeleien oder – was trauriger ist – unbewußte.

 

Der Versuch einer solchen Selbstdarstellung würde nur einmal mehr die Tatsache bestätigen, daß jede Überlegung, jedes Urteil, jede vorgeblich logische Analyse lediglich unser unbewußtes Verlangen zum Ausdruck bringt, uns vor uns und unseren Mitmenschen aufzuwerten. Aus den Beziehungen, die zwischen unserem Nervensystem und der uns umgebenden Welt zu jedem Zeitpunkt bestehen (der Welt der anderen Menschen vor allem), wählen wir nur einige wenige aus, auf die unsere Aufmerksamkeit fixiert ist. Und sie ist auf sie fixiert, weil sie unsere in soziokulturelle Bahnen gelenkten triebhaften Regungen entweder befördern oder sich ihnen in den Weg stellen. Es gibt keine Objektivität, nur das wissenschaftliche Experiment mit seinen Daten, die jeder andere ebenfalls ermitteln kann, wenn er unserer Versuchsanordnung folgt. Es gibt keine Objektivität außerhalb der allgemeinen Gesetze, nach denen sich Strukturen organisieren. Es gibt keine objektive Beurteilungsmöglichkeit dessen, was uns ins Innere des Nervensystem eingeschrieben ist. Objektiv ließen sich einzig und allein die unveränderlichen Prozesse beschreiben, die in allen menschlichen Nervensystemen wirken. Alles andere ist nichts als die Vorstellung, die wir von uns selbst haben, das Bild, das wir unserer Umgebung, in der wir uns bewegen, präsentieren möchten und die nicht zuletzt erst das Produkt dieser Umgebung ist.

 

Wir leben zu dem alleinigen Zweck, unsere biologische Struktur zu erhalten. Seit der befruchteten Eizelle sind wir darauf programmiert. Und keine lebende Struktur hat einen anderen Daseinsgrund als zu sein. Doch um zu sein, steht ihr kein anderes Mittel zur Verfügung als das genetische Programm ihrer Spezies. Beim Menschen hat dieses genetische Programm das Nervensystem herausgebildet als Instrument, mit dem er in Beziehung tritt zur belebten und unbelebten Umwelt, mit dem er soziale Beziehungen eingeht, Beziehungen zu anderen Individuen seiner Spezies, die dieselbe Nische bevölkern, in die er hineingeboren wird und in der er sich entwickelt. Infolgedessen unterliegt das Individuum vollständig der Organisation dieser sozialen Nische. Bis in das Nervensystem vordringen und dieses modifizieren wird die soziale Nische aber nicht, es sei denn im Rahmen der Struktureigenschaften des Nervensystems. Das Nervensystem reagiert vor allem auf die Grundbedürfnisse, die es ihm ermöglichen, das Organismusganze zu erhalten. Es reagiert auf das, was wir Triebe nennen, folgt dem Lustprinzip, dem Bedürfnis nach Erhalt des biologischen Gleichgewichts (wobei der Begriff des Gleichgewichts noch zu klären sein wird). Infolge seiner Fähigkeit sich zu erinnern, sich Wissen anzueignen, ist es ihm möglich, zu ermitteln, welche Ausdrucksform seiner Triebe vorteilhaft ist im Rahmen des Verhaltenskodex der sozialen Organisation, die ihn für seine Handlungen belohnt mittels Beförderung in der hierarchischen Ordnung. Die triebhaften Motivationen – modifiziert durch die soziale Kontrolle, die aus der Aneignung soziokultureller Automatismen resultiert und die vor allem der Lust und der Befriedigung neue Ausdrucksformen verschafft –, dürfen schließlich auch als Ursprung der Vorstellungskraft angesehen werden. Die Imagination, diese spezifische menschliche Befähigung, die es dem Menschen im Gegensatz zu anderen Tiergattungen gestattet, der Welt Informationen hinzuzufügen und diese Welt zu verändern. Die Imagination: die einzige Möglichkeit der Flucht, die einzige Möglichkeit aus einer unwirtlichen Welt (und das bedeutet vor allem aus einer unwirtlichen Gesellschaft) herauszutreten – ein Weg, den Drogenkonsumenten, Psychotiker ebenso wie künstlerische und wissenschaftlich schöpferische Menschen gehen. Die Imagination, die einen funktionellen Antagonismus bildet zu den Automatismen und den Trieben, den Erscheinungsformen des Unbewußten also, und deren Ursprung ohne Zweifel mit der Entstehung des Bewußtseins zusammenfällt.

 

Es tut mir leid, wenn ich hier in derart groben Zügen die Funktionsweise des zentralen Nervensystems skizziere. Entscheidend ist, daß wir uns immer vor Augen halten, daß unser Nervensystem für alle unsere Urteile und Handlungen verantwortlich ist. Und solange die zunehmenden Erkenntnisse auf neurologischem Gebiet nicht Teil des Allgemeinwissens aller Menschen sind – und das betrifft auch den Aspekt der Sprache (die vor allem unser Unbewußtes unter dem Deckmantel der logischen Rede zum Ausdruck bringt) – solange ist all unser Tun zum Scheitern verurteilt. Unsere Rede wird immer affektgesteuertes Geplapper bleiben.

 

Wie sollen wir unter diesen Voraussetzungen also allen Ernstes ein Selbstporträt von uns abliefern? Es zu versuchen, hieße zu akzeptieren, lediglich seinen Trieben Ausdruck zu verleihen – in logischer Rede und geschönt nach Maßgabe gesellschaftlicher Konventionen. Und unsere ganze Klarsicht bestünde darin zu durchschauen, wie wir zwangsläufig sämtliche Gegebenheiten so modifizieren, daß sie dem Bild entsprechen, das wir anderen vermitteln möchten, von jemandem, der wir gerne wären.

 

Ich bin heute, in Zeiten, da unsere moderne Gesellschaft von großen Veränderungen erschüttert wird, mehr denn je davon überzeugt, daß die Lebensgeschichte und die selbstgesteckten Ziele eines Menschen von keinerlei Interesse sind. Handelt es sich um einen Menschen, der sich vor anderen um den Eindruck strenger Wissenschaftlichkeit bemüht, nun, dann mag es sinnvoll sein, daß diejenigen, die ihm zuhören, die ihn lesen, die sich womöglich von ihm beeinflussen lassen, erfahren, daß hinter aller Wissenschaftlichkeit, oder was man dafür hält, immer ein Mensch steht, der ins alltägliche Leben verwickelt ist, denn sein gesellschaftlicher Alltag hat zweifelslos entscheidend das Weltbild beeinflußt, das sich in ihm manifestiert. Doch wenn mir etwas in der Geschichte eines Lebens von Interesse zu sein scheint, dann das, was es an Universellem enthält – nicht die persönlichen «prägenden» Ereignisse, noch die «Rohmasse», die da geprägt wurde, noch schließlich die endgültige Form dieses Lebens, die doch immer nur provisorisch ist. Das, was das Universelle genannt werden könnte, ist die Art und Weise, in der der gesellschaftliche Kontext ein Individuum determiniert, in einem Maße, daß er nur mehr als ein singulärer Ausdruck ebendieser Gesellschaft erscheint.

 

Wenn mein Selbstporträt also irgendein Interesse erregen könnte (was ich bezweifle), dann indem es zeigte, wie ein Mann, ein ganz gewöhnlicher Mensch, geformt wurde durch sein familiäres Milieu, dann durch die gesellschaftliche Umgebung, seine hierarchische, kulturelle, ökonomische Schicht, wie er dieser unerbittlichen Welt nur entfliehen konnte (oder wenigstens glaubte er es), indem er sich aufs Geratewohl Wissen aneignete, und zwar, dank seines Berufs, über die fundamentalen Prozesse, die in unserem Nervensystem unser soziales Verhalten bestimmen. Alles Anekdotenhafte wäre dabei nichts als Verzierung, Illustration. Was die Libido angeht – nun, sie artikuliert sich auf einer Bühne, die von ebenso vielen Akteuren bevölkert wird, wie das Telefonbuch Namen hat. Jeder einzelne dieser Akteure ist getrieben von dem Verlangen, seine Libido zu befriedigen. In diesem engmaschigen Netz miteinander verknüpfter Libidos sehe ich eigentlich nicht die Notwendigkeit die meinige besonders hervorzuheben. Jede Libido dürfte ihren spezifischen Ausdruck gefunden haben in ihrem jeweiligen bescheidenen Ausschnitt im Raumzeitkontinuum.

 

Im übrigen ist niemand in der Lage, die Geschichte des Nervensystems eines einzelnen Zeitgenossen «nachzuerzählen», schon gar nicht, indem er ausgerechnet bei diesem einen Zeitgenossen damit beginnt. Was ein solcher Autor uns zu sagen hätte, wäre Gegenstand eines Romans, der seinerseits wieder interpretationswürdig wäre.

 

Was wir immerhin festhalten können, ist, daß wir geboren werden mit einem Instrument, unserem Nervensystem, das uns erlaubt, mit unserer Menschenumwelt in Beziehung zu treten und das bei unserer Geburt sehr dem unseres Nachbarn gleicht. Was uns als nächstes interessieren müßte, wären die Regeln, nach denen das gesellschaftliche Gefüge organisiert ist, in das die versammelten Nervensysteme der Menschen – kurzzeitige Erben der Automatismen ihrer Ahnen – das Kind bei seiner Geburt einschließen wie in einen Raum, der möbliert ist mit einem Schrank, der vollgestopft ist mit Werturteilen. Aber diese Werturteile sind ja auch nur Kopfgeburten der vorangegangenen Generationen, so daß man die Kenntnis um die Struktur und die Funktionsweise des Gehirns wirklich als das universelle Wissen bezeichnen könnte. Aber das ist eine andere Geschichte!

 

Wenn der Mensch dies verstanden hätte, wie unvollkommen auch immer, würde er begreifen, daß sein Verhalten nur von einem schlichten Motiv geprägt ist, nämlich «normal» zu bleiben. Normal nicht im Hinblick auf die große Masse, die sich unbewußt den soziokulturellen Wert- bzw. Vorurteilen unterwirft, sondern normal im Hinblick auf sich selbst. Normal zu bleiben in diesem Sinne heißt, daß es uns möglich ist, zu handeln – im Einklang mit unseren Trieben und mit unserem soziokulturell erworbenen Wissen, stets kritisch reflektiert durch unsere Imaginationskraft und unsere Kreativität. Der Raum, in dem dieses Handeln vonstatten geht, wird nun aber bereits von anderen eingenommen. Die direkte Konfrontation ist zu vermeiden, denn aus ihr wird sich automatisch eine Dominanzhierarchie ergeben, und es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß sie unsere Bedürfnisse stillen kann, denn sie entfremdet unser Bedürfnis von dem der anderen. Sich unterzuordnen heißt umgekehrt mit der Unterordnung die psychosomatischen Störungen zu akzeptieren, die zwangsläufig auftreten, wenn wir nicht unseren Trieben gemäß handeln können. Sich aufzulehnen bedeutet in unser Verderben zu laufen, denn die Revolte, wenn sie sich in der Gruppe vollzieht, führt umgehend wieder zu einer Herrschaftshierarchie, die zur Unterordnung innerhalb der Gruppe zwingt, und die Revolte selbst endet bald in der Beseitigung der Revoltierenden durch die anormale Mehrheit, die alleinig Anspruch auf Normalität erhebt. Es bleibt nichts als die Flucht.

 

Es gibt verschiedene Arten der Flucht. Einige entscheiden sich für «psychotogene» Drogen, andere gehen den Weg in die Psychose, wieder andere wählen den Selbstmord, oder sie schlagen sich als Einzelgänger durch. Es gibt noch eine weitere Möglichkeit: die Flucht in eine Welt, die nicht von dieser Welt ist, die Welt der Imagination. In dieser Welt riskiert man kaum, unterdrückt zu werden. Man kann dort ein weitläufiges Territorium in Besitz nehmen, das uns eine Befriedigung verschafft, die einige vielleicht narzißtisch nennen werden. Aber das macht nichts, denn für den Flüchtigen haben in der Welt des Realitätsprinzips fortan Unterwerfung und Revolte, Dominanzstreben und Herrschaftserhalt ihren Schrecken verloren. Er begreift sie als ein Spiel, an dem man sorglos teilnehmen kann, um gleichzeitig von den anderen als «normal» akzeptiert zu werden. Es ist uns möglich, in der wirklichen Welt mit der dominierenden Gruppe zu spielen, zu ihr auf Distanz zu gehen bis zur Zerreißprobe, oder notfalls Beziehungen zu anderen Gruppen aufzunehmen, um so unsere «imaginäre Befriedigung» zu gewährleisten, der einzig wesentlichen, der einzigen, die dem Einfluß der sozialen Gruppe entzogen ist.

 

Flucht in diesem Sinne ist die einzige Möglichkeit, «normal» zu bleiben, so lange die große Mehrheit es zu sein glaubt oder es vergeblich zu werden unternimmt, indem sie nach Dominanz strebt, individuell, als Gruppe, als Schicht, Nation, Staatenbund etc. Die Erfahrung zeigt in der Tat, daß bei Menschen, die unterdrückt werden, oder Menschen, die vergeblich nach Dominanz streben, oder bei Menschen deren Dominanz in Frage gestellt wird und die sie zu erhalten versuchen, die Hirnanhangsdrüse, die Hypophyse, oder die Nebennierenrinde alarmierende Signale aussendet, was auf Dauer kortiko-viszerale oder «psychosomatische» Erkrankungen nach sich zieht. All diese Menschen muß man daher unnormal nennen, denn es ist kaum als normal zu akzeptieren, daß wir unter Magengeschwüren, Impotenz oder Bluthochdruck leiden sollen oder einer der vielen Formen von Depressionen anheimfallen, die heute so verbreitet sind. Und eine Herrschaftsform, die stabil und keinerlei Anfechtungen ausgesetzt wäre, ist – glücklicherweise – eher selten. Sie sehen also, daß, um normal zu bleiben, bloß die Flucht vor dem allgemeinen Dominanzstreben bleibt.

 

Aber so warten Sie doch! Ich komme mit! ¶

 

<H. L., Autoportrait, in: Éloge de la fuite, Paris: Robert Laffont 1976; Übersetzung von H. A.>