Fritz Mauthner Beiträge zu einer Kritik der Sprache (2)

 

Die zusammenhängende Geschichte der sogenannten Philosophie beginnt aber erst mit den älteren Griechen, welche mit ungeheuer kühnen falschen Analogien entweder etwas ausgedachtes Undenkbares wie nous oder eines der vier Elemente zum weltbildenden Prinzip machten, zum einzig Seienden. Dieses mußte also Ursache seiner selbst sein, ein sinnloser Begriff, wenn er auch volle zweitausend Jahre geherrscht hat. Das sahen logische Köpfe sofort ein und machten das Nichtseiende zur Ursache des Seienden, wobei doch die Metapher eigentlich einen Purzelbaum aus der Welt heraus macht. Die Sophisten zersetzten beide Begriffe und machten den Menschen zum Maßstabe der Welt; man beschimpfte sie dafür, und Sokrates mußte dafür sterben. Die Reaktion meldete sich in seinem dichterischen Schüler Platon, der die Überschätzung der metaphorischen Sprache für mehr als ein Jahrtausend, ja bis in die Gegenwart hinein auf einen Gipfel gehoben hat. Hatte er von einem Vorgänger das Trügerische des Wirklichkeitsbildes begriffen (Alles ist im Flusse begriffen), so gelangte er dadurch nicht wie Sokrates zum Eingeständnise des Nichtwissens, sondern personifizierte die Abstraktionen der Sprache, machte die Ideen zu den Müttern der Welt. Die Zeit wird auf den Kopf gestellt, das Letzte wird das Erste genannt, die von Einzeldingen abstrahierten Begriffe heißen die Ursache der Einzeldinge.

 

Aristoteles mag die Ungeheuerlichkeit dieser falschen Analogie durchschaut haben, die doch wieder nur das Nichtseiende zur Ursache des Seienden machte. Er erklärte darum die Ideen für immanent; man hat das dann im Mittelalter so ausgedrückt, daß er statt der Universalien ante rem die Universalien in re gesetzt habe. Es war eine Zersetzung der Ideenmetapher. Aber mit einem noch viel gefährlicheren, viel weniger durchsichtigen Anthropomorphismus machte er nun seinerseits den Zweckbegriff zur Ursache der Welt, zur Seele, zum Formprinzip des Stoffs. Zu diesen Vorstellungen brachten das Christentum und die ihm vorausgehenden Epigonenschulen der griechischen Philosophie den religiösen Gottesbegriff, und durch Jahrhunderte bissen sich die Scholastiker daran die Zähne aus, die Kette dieser ineinander verschlungenen Metaphern zu zernagen. Der mittelalterliche Nominalismus ist der erste Versuch der wirklichen Selbstzersetzung des metaphorischen Denkens. Er konnte sich trotz aller Ketzereien von der Theologie nicht befreien. In diesem Zusammenhange erscheint auch Descartes als ein Theologe mit ausgebissenen Zähnen. Er löst viele niedere Metaphern auf, betet aber die oberste Metapher an, den Deus, dem nun eine viel schwierigere Arbeit als in der Religion zugewiesen wird. Die Welt wird eine Republik mit dem Großherzog an der Spitze. Soweit Spinoza durch Sprache und Logik in diesen Zusammenhang gehört, ist auch er, trotzdem er Gott mit der Substanz identifiziert, ein Scholastiker. Wo er jedoch, als einziger, die Wahrheit sieht, wo er in der Wirklichkeitswelt zufällige Notwendigkeit erblickt – wie Leibniz das später genannt hat –, da steht Spinoza in einsamer Größe eigentlich außerhalb der zusammenhängenden Geschichte der Philosophie.

 

Dieser Zusammenhang ließe sich schematisch so darstellen, daß mit Platon und Aristoteles und noch mehr mit ihren einseitigen Auslegern die große Gabelung beginnt; beide Geistesrichtungen wollen ein Nichtseiendes zur Ursache alles Seienden machen, die Platoniker die begrifflichen Ideen, die Aristoteliker die Zweckbegriffe. Die Scholastik, welche in ihren Ausläufen bis zu Kant und Schopenhauer herabreicht, ist in allen freien Köpfen ein staunenswert scharfsinniger Versuch, Platons Ideenlehre zu zersetzen und den geistesmörderischen Wortrealismus zu überwinden. An der Wirksamkeit der Zweckbegriffe zweifelt innerhalb der Reihe dieser Denker eigentlich niemand, da noch Kant seine praktische Philosophie auf Zweckbegriffe aufbaut und auch Schopenhauer das Monstrum eines zwar dummen, aber dennoch zweckdenkenden Willens in der Natur lehrt. Die Bestrebungen, diesen ebenfalls wortrealistischen Irrtum zu überwinden, lassen sich am besten an die Entwicklung der Philosophie knüpfen, die von den Engländern ausgegangen ist und schließlich ebenfalls in dem umfassenden Geiste Kants mündet. Das Ende beider Denkrichtungen kann nur eine Sprachkritik sein, welche wieder den Nominalismus des Mittelalters dadurch übertrifft, daß sie nicht mehr nur gegen das Gespenst des Wortrealismus polemisiert, sondern die Vernunft als Sprache selbst erkennt, das heißt als das Gedächtnis der Menschheit mit all den Unvollkommenheiten und Grundgebrechen, welche dem Gedächtnis und seinen Dienern und Herren, den Zufallssinnen, wesentlich anhaften.

 

Diese englische Denkrichtungen hat ihren ersten vollendeten Ausdruck in Locke gefunden, der in der Kritik der konkreten Begriffe alles Wichtige schon gesagt hat, der aber bezüglich der komplexen Ideen trotz aller seiner Sprachkritik noch im Wortaberglauben befangen ist, so daß sein Kritiker Leibniz nicht ohne einen Schein der Berechtigung die Psychologie Lockes und die Metaphysik Descartes’ zusammenschmeißen und seine metaphorische Monadenlehre aus den Worten dieses Mischmasch konstruieren konnte. In England blieb die Bewegung aber bei Locke nicht stehen. Was bei Berkeley noch als Versuch erscheint, die menschlich Vernunft durch einen radikalen Idealismus ad absurdum zu führen, das wird bei Hume die größte ernsthafte Tat des Zweifels: Kritik des Kausalitätsbegriffs. Der Begriff der Ursache wird als eine menschliche Metapher erkannt, das Nichtseiende soll das Seiende nicht mehr erklären.

 

In Kant hat sich der Scharfsinn der ehrlichsten Scholastiker mit dem nüchternen Zweifel der Engländer vereinigt. Kant hat die Welt bis zur Gegenwart geführt. Er weiß – bis auf den sprachkritischen Punkt freilich nur –, daß den menschlichen Begriffen immer bildliche Vorstellungen anhängen, daß wir bis zur Erkenntnis der Wirklichkeitswelt, des Ding-an-sich, niemals vordringen können, weil unser Denken – wie wir ihn ohne Zwang sagen lassen können – metaphorisch ist, anthropozentrisch. Es ist nicht das kleinste Verdienst Kants, daß er durch das überwältigende Aussprechen Lockescher Vorstellungen der neueren Untersuchung der menschlichen Sinnesorgane die Wege gewiesen hat. Man könnte aus Kants Werken eine unangreifbare kritische Erkenntnistheorie des Nichtwissens zusammenstellen, eine noch freiere als die einst berühmte «docta ignorantia» des Nicolaus Cusanus. In seinem negativen Denken ist Kant bereits der Alleszertrümmerer*; wir beugen uns vor dem Geiste, der in seinen stärksten Stunden die Riesenarbeit begonnen hat, welche als Selbstzersetzung der Sprache oder des Denkens notwendig war.

 

Aber Kants letzte Weltanschauung ist dennoch nur die einer Übergangszeit; oder vielleicht hat ihn gerade das Bewußtsein seiner Riesenkraft dazu verführt, der negativen Tat ein positives System folgen zu lassen. Jedenfalls steht er der absoluten Vernunft etwa so gegenüber wie Graf Mirabeau dem absoluten Königtum. Er will sie in bestimmte Grenzen zurückweisen, er will ihren Mißbrauch abschaffen, er will sie zuerst von ihrem Throne stürzen, um sie nachher durch ein unlogisches Vetorecht wieder zu retten. Dieser Zwiespalt im Kopfe Kants ließe sich an der inneren und äußeren Geschichte seiner «Kritik der reinen Vernunft» nachweisen. Ich muß hier darauf verzichten. Kant wollte sein Werk ursprünglich nennen «Die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft». Er hat unerreicht klar über die Grenzen der Vernunft geschrieben, aber die Doppelbedeutung des Wörtchens «über» hat er dabei übersehen; unbewußt hat auch er noch die Vernunft als eine mythologische Person, als ein personifiziertes Seelenvermögen aufgefaßt, hat das logische Denken in menschlicher Sprache von der menschlichen Vernunft unterschieden und hat nicht bemerkt, daß es über unser Kraft geht, über die Vernunft oder Sprache zu sprechen oder zu denken. So gelangt er dazu, die Kategorien des Denkens schließlich doch wieder – sehr vorsichtig freilich – auf das Undenkbare, auf das Ding-an-sich anzuwenden. Sein Sündenfall besteht darin, daß er nach zehnjähriger Vorarbeit nicht die Grenzen der Vernunft überhaupt, sondern die Grenzen einer reinen Vernunft kritisierte, daß er eine reine Vernunft, das heißt eine Vernunft vor aller Erfahrung der anderen Vernunft gegenüber stellte, daß er die von Locke ausgerotteten angeborenen Ideen auf diesem Umwege wieder auf den Thron setzte und ihnen Vetorecht gab. Die reine Vernunft war die Glaubenssache und die große Metapher Kants. Ihm stand für die Begriffe der reinen Vernunft das Wort «intelligibel» zur Verfügung; ist aber im Verstande nichts, was nicht vorher in den Sinnen war, in der Erfahrung, so kann im Verstande nichts Intelligibles sein, nichts Unerfahrenes, nach Kants Sprachgebrauch, so ist alles Intelligible nicht nur unvorstellbar und unverständlich, sondern undenkbar. Drei mögliche Wege sah Kant: den Dogmatismus der Scholastiker, den Zweifel Humes und seinen eigenen Weg; im Kampfe gegen den Dogmatismus war er siegreich, im Kampfe gegen den Skeptizismus ist er unterlegen.

 

Vor den Pforten der Wahrheit ist Kant stehen geblieben. Die Sprachkritik allein kann diese Pforten aufschließen und mit lächelnder Resignation zeigen, daß sie aus der Welt und dem Denken hinaus ins Leere führen. Die deutschen Nachfolger Kants aber sind umgekehrt. Namentlich in Hegels erstaunlich scharfsinniger Dialektik feiert der alte Wortaberglaube die tollsten Orgien. Es begnügt sich nicht damit, das Nichtseiende zur Ursache des Seienden zu machen, er streicht die Welt aus der Welt und macht die Logik, diese Klassifikation des Nichtseienden, zum einzig Seienden. Schopenhauer, sein wilder und mächtiger Gegner, hat den Weg Kants wiedergefunden und rüttelt oft und stark an den Pforten der Sprachkritik. Aber auch sein System gipfelt schließlich in Wortaberglauben, in einer mythologischen Person, in dem Willen, der nachher von Eduard von Hartmann den selbstverräterischen Namen «das Unbewußte» erhalten hat.

 

Schopenhauer ist – abgesehen von den Schwächen seines Systems – einer der größten philosophischen Schriftsteller geworden, weil er im Gegensatze zu Hegel die Welt wieder in ihr Recht einsetzte, weil er anschaulich zu denken versuchte. Man liest ihn darum mit Bewunderung, wie man einst Platon gelesen hat. Wer von der Philosophie nicht mehr verlangt, als die denkbar höchste Anschaulichkeit, die lebendigste metaphorische Darstellung abstrakter Begriffe, der muß ihn einen gewalten Denkdichter nennen. «Das geschlossene Auge sieht nur Phantasmen. Das menschliche Denken lebt von der Anschauung, und es stirbt, wenn es von seinen eigenen Eingeweiden leben soll, den Hungertod» (Trendelenburg, Logische Untersuchungen I, 96). Unsere Sprachkritik aber hat uns gelehrt, daß auch der konkreteste Begriff noch keine Anschauung gewährt, sondern nur den Schein einer Anschauung, daß also auch der blendene Bilderreichtum eines Denkdichters über die Grenzen der Sprache nicht hinaus gelangen kann. Nicht eine Kritik der reinen Vernunft kann da helfen, sondern nur die Kritik der Vernunft überhaupt, die Kritik der Sprache. Denn der Mensch hat keine andere Vernunft als die Sprache. Nur handelnd verstehen wir die Wirklichkeitswelt, nur wenn wir selbst wirkend mitten in der Wirklichkeit stehen, niemals wenn wir uns ihr denkend gegenüberstellen wollen. Was der Mensch mit übermenschlicher Kraft auch wagen mag, um Wahrheit zu entdecken, er findet immer nur sich selbst, eine menschliche Wahrheit, ein anthropomorphisches Bild der Welt. Das letzte Wort des Denkens kann nur die negative Tat sein, die Selbstzersetzung des Anthropomorphismus, die Einsicht in die profunde Weisheit des Vico: homo non intelligendo fit omnia.

 

* Als ein Beitrag zu der Art, wie geflügelte Worte entstehen können, mag es hier verzeichnet werden, daß der arme Mendelssohn Kant «den alles zermalmenden» nannte in einem Satz («Morgenstunde», Vorrede), in dem er zugeben muß, keines der kritischen Werke Kants gelesen zu haben. ¶

 

‹F. M., Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Zweiter Band: Zur Sprachwissenschaft; zweite, überarbeitete Auflage, Stuttgart und Berlin 1912; Faksimile-Ausgabe, Frankfurt a. M.  und Berlin: Ullstein 1982›