Fritz Mauthner   Zeit

 

Wir könnten wirklich die Zeit für eine Abstraktion vom Raume halten, wenn wir nicht das deutliche und unabweisbare Gefühl einer Dauer in unserm Innenleben hätten. Doch dieses Gefühl ist relativ, viel relativer und täuschender, als es die Raumempfindungen sind. Auch die räumlichen Empfindungen verschieben und verkürzen sich in der Perspektive, doch gewöhnlich so, daß wir die Schätzung der Distanzen nicht verlieren; bei der zeitlichen Perspektive hört das Distanzschätzen auf. Haben wird uns gut unterhalten, so müssen wir nach der Uhr sehen, also die Zeit am Raume messen, um uns zu vergewissern, daß wir nicht eine halbe Stunde, sondern drei Stunden verplaudert haben; in der Rückerinnerung schieben sich große Zeiträume zusammen, und wir brauchen künstliche Hilfen, um die wahre Größe des Zeitraums wieder herzustellen. Gesundheit und Krankheit, Jugend und Alter verlängern und verkürzen die Zeit für unser Bewußtsein. Es ist nicht unmöglich, daß ein munterer Vogel einen Tag ungleich länger fühlt als ein Mensch, daß eine Mücke, wenn sie tatsächlich mehrere tausend Flügelschläge in der Sekunde macht, die Sekunde ganz anders bewertet als wir.

Die Phantasie Baers (K. E. v. Baer, Reden I, 285f.) von einem Menschen, der nur 29 Tage oder gar nur 40 Minuten lebte, dabei aber tausend- bzw. millionenmal rascheren Pulsschlag, also in seinem ganzen Leben die menschliche Anzahl von Sinneseindrücken (einen auf 1/10 Pulsschlag) hätte, diese Phantasie ist noch lange nicht genug gewürdigt worden. Ist eigentlich viel zu wenig bekannt. Baer stellt es als phantastische Hypothese auf, daß ein solcher Monats- bzw. Minutenmensch die Natur für unveränderlich halten, die Veränderungen an einer Pflanze oder einem Tier nicht bemerken würde, daß er ferner unsere 80-Jahre-Menschen-Töne gar nicht vernehmen, dafür aber vielleicht das Licht hören würde. Ob gewisse kurzlebige Insekten dieser Phantasie nicht entsprechen? Manche Erscheinung wäre dadurch erklärt.

Nun hat Baer seine Phantasie in entgegengesetztem Sinne weiter geführt. Der Mensch lebt 80 000 Jahre und empfindet mit tausendfach verlangsamtem Pulsschlag tausendfach langsamer. Er würde dann die Ereignisse eines Jahres in einer Zeit durchempfinden, die seinem Gefühle nach acht unserer Stunden entspräche, würde die Pflanzen wachsen und die Sonne über den Himmel jagen sehen. Noch einmal tausendfach verlangsamt, würde er den Unterschied von Tag und Nacht nicht mehr wahrnehmen, die umlaufende Sonne nur als glänzenden Ring sehen und den Wechsel der Jahreszeiten als Gebilde von der Dauer weniger unserer Sekunden empfinden.

Baer benutzt seine gewaltige Phantasie, um zuerst das Scheinhafte des Individuums und aller irdischen Veränderung, dagegen das Dauernde und Feste der Naturgesetze anschaulich zu machen und um schließlich mit einem Aufschrei mehr als mit Beweisführung gegen den Materialismus der Naturwissenschaft aufzutreten.

Denkt man sich aber recht tief in seinen Traum hinein, so erfährt man, daß das Tempo des menschlichen Lebens, so wie es wirklich abläuft, eigentlich nur ein Spezialfall unter allen möglichen Fällen ist und daß die Sprache der Minutenmenschen, sowie die Sprache der Äonenmenschen, wenn sie beide unsere Sprache sprächen, doch nicht die gleiche sein könnte, daß die Sprache zuletzt von unserem Pulsschlag, von der Schnelligkeit unserer Sinneseindrücke abhängig ist. Und ich muß nicht erst meine Lehre bemühen, daß selbst die Entwicklung unserer Sinnesorgane eine Zufallsgeschichte ist, um jetzt mit Nachdruck zu wiederholen: alle unsere Erkenntnis der Wirklichkeit ist nur relativ.

 

‹F. M., Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 1. Auflage in 2 Bänden: München 1910/11 (Auszug aus dem Artikel «Zeit»); Faksimile-Nachdruck, Zürich: Diogenes 1980›