Otto Rank   Technik der Psychoanalyse (III)

 

Hat die Analyse im schöpferischen Individuum die menschlichen, ja sogar untermenschlichen Triebkräfte betont, so versuche ich im Neurotiker noch den übermenschlichen, göttlichen Funken aufzuzeigen. In eine nüchternere Sprache übersetzt will das aber soviel heißen, daß das Konstruktive niemals rein individuell sein kann; das individuell Konstruktive muß zugleich kollektiv sein oder zumindest kollektiv wirken, um eben konstruktive Bedeutung zu erlangen. Früher war die Religion das kollektiv Verbindende, und zwar ideell als auch emotionell; jetzt soll die Psychologie diese Funktion übernehmen, aber dieser Versuch mußte, wie ich in meiner Studie «Seelenglaube und Psychologie» ausgeführt habe, an der Tatsache scheitern, daß die Psychologie eine rein individuelle Ideologie darstellt, ja geradezu die individuellste Ideologie, die möglich ist, während jede Art von therapeutischer Ideologie kollektiv sein muß, um konstruktiv zu wirken. Ohne kollektive Ideologie ist nicht nur Religion als Seelenheil unmöglich, sondern ebensowenig Kunst, Erziehung oder Therapie möglich.

 

Auch die Frage, warum der Mensch überhaupt sozial ist, scheint mir ein psychologisches Problem zu sein, da es sich ja letzten Grundes um ein Gefühl der Zusammengehörigkeit handelt, basiert auf der Tatsache, daß der Mensch nicht nur Individuum, sondern als solches auch Teil eines größeren Ganzen ist. Das psychologische Paradox, warum der Mensch auch in irgend einer Form geben will und geben muß, ist nur ethisch lösbar: weil wir nämlich nicht unser Eigen sind, gleichgültig, ob man die Schuld religiös gegen Gott, sozial gegen den Vater oder biologisch gegen die Mutter empfindet.

 

Der Konflikt zwischen einander widerstreitenden Tendenzen im Individuum ist ... nicht, wie es zuerst den Anschein hatte, die Ursache der Neurose, sondern die Basis des Lebens selbst und die Neurose nur der Ausdruck einer Unzufriedenheit mit dieser Lebensbedingung, d. h. aber letzten Endes eine Ablehnung des Lebens selbst. ¶

 

Der Mensch leidet eben an einem fundamentalen Dualismus (wie immer man diesen auch formulieren mag) und nicht an einem durch falsche soziale Vorurteile geschaffenen Konflikt, der später durch eine «richtige» Erziehung vermieden oder durch spätere Nacherziehung (Psychoanalyse) aufgehoben werden kann.

 

Ich glaube, daß man den Menschen niemals rein empirisch verstehen kann, was die Psychoanalyse anstrebt, anderseits scheint mir auch seine rein metaphysische Erfassung unbefriedigend, sobald sie nur auf Erkenntnis ausgeht und nicht auch das rein Menschliche berücksichtigt (wie z. B. die Religion).

 

Die Angst bei der Geburt, die wir als Lebensangst bezeichnet haben, scheint mir geradezu der Angst vor dem Lebenmüssen als isoliertes Individuum und nicht umgekehrt der Angst vor dem Verlust der Individualität (Todesangst) zu entsprechen. Das würde aber heißen, daß die Urangst einer Angst vor der Trennung vom All, also einer Angst vor der Individuation entspringt, weshalb ich sie eben Lebensangst heißen möchte, daß sie aber späterhin als Angst vor dem Verlust dieser teuer erkauften Individualität, als Angst vor dem Tode, der Wiederauflösung ins All, auftreten kann. Zwischen diesen beiden Angstmöglichkeiten, sozusagen Angstpolen, ist aber das Individuum zeitlebens hin- und hergeworfen, weshalb es auch nicht gelingen konnte, die Angst auf eine einzige Wurzel zurückzuführen und therapeutisch zu überwinden.

 

Die neurotische Einstellung des Individuums zum Todesproblem wird letzten Endes erst aus der Willenspsychologie verständlich, die zeigt, daß der Mensch den Tod, dieses Ursymbol des «Muß», seinem Willen zu unterwerfen sucht und gewissermaßen in eigener Instanz die Todesstrafe, die aufs Leben gesetzt ist, in eine lebenslängliche Strafe, die er sich selbst auferlegt, verwandelt. Andererseits spielt dabei aber auch noch die uralte Idee des Opfers hinein, der Vorstellung, daß man durch freiwilliges Aufsichnehmen leichterer Selbststrafen der schwersten Bestrafung entgehen könne ... Auf den Neurotikertypus angewandt ergibt er nicht nur ein vertieftes Verständnis der Symptomatik im einzelnen, sondern auch der ganzen Neurose als eines individuellen Heilungsversuches gegen das Erzübel der Menschheit, die Todesangst, die durch die kollektiven Mittel früherer Zeitalter nicht mehr kuriert werden kann. ¶

 

Man könnte hier einwenden, daß die Auffassung der Selbstbestrafung als Angstverminderung nur eine andere Art der Interpretation eines Tatbestandes sei, den die Psychoanalyse «libidinös», d. h. als Erlaubnis zur Triebbefriedigung interpretierte. Gewiß hat auch dieses Phänomen, wie jedes andere, zwei Aspekte, unten denen man es betrachten kann; dies ist aber nicht nur eine Frage der Theorie, sondern heißt auch, daß jedes einzelne Individuum diesen oder jenen Aspekt in seiner Gesamteinstellung betonen, d. h. aber das Leben positiv oder negativ interpretieren kann. Spricht man aber von Typen, so scheint mir geradezu, daß der Neurotiker derjenige ist, der primär nicht auf Lustgewinn, sondern auf Angstvermeidung ausgeht; während die Verwendung der Selbstbestrafung im Dienste der Triebbefriedigung eher dem Normaltypus zu entsprechen scheint (z. B. arbeiten, um sich nachher Vergnügen gestatten zu können). ¶

 

Das Paradox, daß die Erleichterung von der Angst (durch Strafe und Triebbefreiung) zur Angst führt, erklärt sich, wie eingangs erwähnt, aus der doppelten Funktion der Angst, die einmal Lebensangst, ein andermal Todesangst ist. Von der Lebensangst führt ein direkter Weg zum Schuldbewußtsein oder der Gewissensangst, die sich allemal als Bedauern um die versäumten Lebensmöglichkeit verstehen läßt, während deren volle Ausnutzung wieder die Todesangst auslöst.

 

Die beiden Formen der Angst, die wir als Lebensangst und Todesangst differenzierten, scheinen sich bei näherer Betrachtung auf eine Urangst des Individuums zu reduzieren, die sich nur in verschiedenen Situationen auf verschiedene Weise manifestiert. Diese ambivalente Urangst, die sich als Konflikt zwischen Individuation und Generation manifestiert, entstammt einerseits der Angst, als Teil des Ganzes, losgetrennt allein leben zu müssen (Geburt), anderseits der polaren Angst, die schwer erworbene Ganzheit (als Individuum) wieder durch Totalverlust derselben (im Tode) aufgeben zu müssen.

 

Die verschieden weitgehende Fähigkeit des Individuums zur Lösung des Total-Partial-Konfliktes bestimmt auch das Verhältnis zur Realität im allgemeinen und nicht nur zum Nebenmenschen. Die sogenannte Anpassung an die Realität, um die der Neurotiker den Durchschnittsmenschen scheinbar beneidet, entspricht einer Wiedereinordnung des Individuums als eines Teiles in ein Ganzes, sei es nun biologisch die Familie, sozial die Berufsgruppe oder Nation (Rasse), ideologisch die Religion oder ein ähnliches gemeinsames Bekenntnis (Wissenschaft, Kunst usw.). Der neurotische Typ macht umgekehrt die ihn umgebende Wirklichkeit zu einem Teil seines Ich, was sein schmerzhaftes Verhältnis zu ihr erklärt. Denn alle äußeren Vorgänge, so unbedeutend sie an sich auch sein mögen, betreffen letztes Endes ihn selbst, sind Veränderungen seiner selbst, die er schmerzhaft empfindet. Diese scheinbare Egozentrizität ist aber ursprünglich genau so ein Schutzmechanismus gegen die Gefahren der Realität wie es die Anpassung an dieselbe ist; denn beide streben im Grunde nach dem Einssein, nur der angepaßte Typus, indem er sich als Teil des Ganzen (eines Ganzen) akzeptiert, der neurotische Typus, indem er selbst immer Ganzheit bleiben muß und die Realität nur als Teil derselben (seiner selbst) akzeptieren kann. Da ihm das nicht gelingt, vermag er sich auch nie als Ganzes zu fühlen und empfindet so nicht nur die Kluft zwischen sich und der Welt unüberbrückbar, sondern auch die Spaltung in sich selbst als konstantes Hindernis, um sich als Entität der Welt einzugliedern.

 

Die Absperrung des Neurotikers von der Realität ist also nur eine scheinbare; er ist in einer Art magischen Einheit viel mehr mit der Ganzheit des Lebens um ihn herum verbunden als der realitätsangepaßte Typus, der sich mit der Rolles eines Teiles innerhalb des Ganzen zufrieden geben kann. Der neurotische Typus hat potentiell die ganze Realität in sich aufgenommen, weswegen er sie auch gelegentlich in schöpferischer Weise aus sich herausstellen kann. Aber selbst dieses Schaffen, das wie ein Zurückfinden zur Realität aussieht (Freud), bleibt für den produktiven Typus selbst immer noch eine Schranke zwischen sich und der Welt, da das volle Kunstwerk ebenso die totale Persönlichkeit wie die totale Realität repräsentiert, das heißt im Grunde doch die eigene persönliche Totalität und nicht die äußere, wirkliche.

 

Die bekannte Todesklausel des Zwangsneurotikers: Wenn ich das tue bzw. nicht tue, dann stirbt der oder jener, ist nicht Ausdruck verdrängter Todeswünsche mit gleichzeitiger Selbstbestrafung (aus Schuldgefühl); selbst wo es so scheinen mag, ist dies doch letzten Endes nur Abwehr der eigenen Todesangst durch Tötung (Opferung) anderer. Die Zwangsklausel besagt im Grunde immer: Wenn ich irgend etwas tue, d. h. lebe, dann geschieht ein Unglück, d. h. ich sterbe. Daher wird das Leben gehemmt, um den Tod aufzuhalten, aber diese Lebenshemmung ist selbst wieder nur Tod, den auch der extreme Zwangstypus in seiner Selbstabschließung agiert, genau wie der Hysteriker in seinen Anfällen.

Aus dieser Auffassung der Neurosen als einer Selbsthemmung der Lebensfunktion zum Zwecke der Todesverhütung (Angstvermeidung) lernen wir das Wesen der normalen Hemmung als eines Selbstschutzes verstehen, der aber wie ein zweischneidiges Schwert wirkt. Indem wir uns durch alle möglichen sozialen Vorschriften, moralischen Einschränkungen und ethischen Ideale vor einem zu intensiven oder zu raschen Ausleben oder Ableben schützen, fühlen wir uns wegen des versäumten Lebens, das ungelebt in uns verkommt, schuldig. Überschreiten wir aber diese zum Selbstschutz aufgerichteten Hemmungen, so folgen Reue und Gewissensangst, die ein Ausdruck der Bedrohung durch den Tod sind, der durch das Erleben nahegerückt wird. Dieser doppelte Hemmungsmechanismus erweckt den Anschein der Selbstbestrafung, ist aber ebensosehr Selbstschutz. Alle moralische Angst, auch die Gewissensangst, die vom Über-Ich ausgeht, ist daher Angst vor dem Leben und dient dem Schutze davor, während alle äußeren Einschränkungen, wie Gesetz und moralische Konventionen, nur Objektivierungen dieser inneren Schranken darstellen, die – hinausprojiziert – das Individuum eher entlasten als hindern. Mit anderen Worten, die Konventionen im weitesten Sinne des Wortes, schreiben dem Individuum eine durchschnittliche Partialisierung und Dosierung seines Erlebens vor, das sich durch Generationen erprobt hat und in gewissen Gesetzen, Sitten und Moralvorschriften seinen Niederschlag gefunden hat. Der Durchschnittsmensch ist froh, ein solches Schema vorzufinden, dessen er sich bedienen kann, während der totale Menschentypus Schwierigkeiten hat, sich diesem Partialleben einzufügen. Er muß daher entweder seine eigene Partialhemmung im Innern etablieren (Symptom) oder zu einer Totalhemmung seine Zuflucht nehmen, die dem Tode gleichkommt. In keinem Falle ist aber die Angst, die der Neurotiker zeigt, die Folge seiner inneren Hemmung, sondern die Ursache derselben, wenngleich die neurotische Hemmung, die immer zu weit geht (total ist) ihrerseits wieder Angst auslöst; diese ist aber die Angst, nicht leben zu können, während die zur Hemmung führende Angst die vor dem Sterbenmüssen ist. ¶

 

Die menschlichen Erzübel, die Buddha als Alter, Krankheit und Tod in eine Reihe stellte, können vom selbstbewußten Individuum nicht als natürliche Folge des Lebensprozesses akzeptiert werden; und da Altern und Sterben sich jeder Beeinflussung widersetzen, greift der Mensch die Krankheit als das zu bekämpfende Übel heraus, um an ihm seine Macht über die Natur zu erweisen. Ein vertieftes Verständnis des menschlichen Seelenlebens hat uns aber gelehrt, daß die Krankheit nicht nur biologisch notwendig, ja als partiales Sterben sogar heilsam ist, indem sie das totale Weiterleben ermöglicht; sondern sie dient auch psychologisch, eben als eine Art der Abzahlung, der Entlastung von Schuldgefühl, in weiterer Folge der Angstentspannung.

 

Es scheint somit, daß es sich bei der neurotischen Erkrankung um eine Vergewaltigung der Natur durch den Menschen handelt, d. h. aber um eine Vergewaltigung seiner selbst als eines Stückes der Natur. So klar dieser Sachverhalt nun liegt, so wenig schien es einsichtig, wer oder besser gesagt was dieser Vergewaltiger eigentlich ist und welchem Zwecke dieser ganze Prozeß dienen soll. Beim Studium der Neurosen wurde mir nun klar, daß die Freudsche Psychoanalyse, obwohl sie zur Erkenntnis dieses paradoxen Tatbestandes geführt hatte, ihn doch nicht völlig verstehen konnte, weil sie einen wesentlichen Faktor im Seelenleben unberücksichtigt gelassen hatte: nämlich den individuellen Willen. Daher bleibt sie im Verständnis der Neurosen auch bei der Selbtsbestrafung stehen, einem Begriff, der ja der Fremdbestrafung nur nachgebildet, auch noch den moralischen Beigeschmack derselben hat; ebenso ist die Instanz, die diese Selbstbestrafung ausübt, das Über-Ich Freuds, auch nur eine innere Repräsentanz äußerer Machtfaktoren (Vater, Gesellschaft), die einmal gestraft haben oder potentiell strafen können. Demgegenüber habe ich schon in meiner ersten Arbeit («Der Künstler», 1905) eine dem Triebleben selbst inhärente Triebhemmung, beinahe einen Hemmungstrieb, angenommen, den ich allerdings erst später als Willen diagnostizieren konnte, nachdem ich seine positive Seite als Kontrollorgan des gegebenen Trieb-Ich und seine konstruktive Seite zur Beherrschung, Entwicklung und Veränderung nicht nur der Umwelt, sondern auch des eigenen Selbst erkannt hatte. ¶

 

Als erster hat wohl Schopenhauer klar erkannt, daß der Mensch den Willen auch zum Nichtwollen verwenden kann, eine Entdeckung, die allerdings viel von ihrer Paradoxie verliert, wenn man verstehen gelernt hat, daß der Wille des Individuums ursprünglich ein Nichtwollen ist, aber nicht nur von äußerlich Aufgezwungenem, sondern auch von innerlich Gemußtem.

 

Die Unzufriedenheit mit dem gegebenen Selbst, die den modernen Menschen charakterisiert, ist nicht etwa das Resultat zu hoch gespannter Idealsetzungen; sondern die Nichtakzeptierung des Selbst ist eine Folge der Angst, die das Individuum vor dem Leben flüchten läßt: sei es in eine Idealbildung, wie sie die künstlerische Irrealität darstellt, sei es in eine Symptombildung, wie sie die neurotische Irrealität darstellt.

 

Die Angst, die im Gefolge der Individualisierung auftritt, ist die Angst des Alleinseins, der Einsamkeit, des Verlustes eines Zusammengehörigkeitsgefühls mit den anderen, in letzter Linie mit dem All.

 

Auch der produktive Typus wendet sich, allerdings in einer weniger direkten Weise an die anderen, die er aber mehr von sich abhängig macht, als sich an sie zu binden; er gibt mit dem Werk und nicht sich selbst wie der Normaltypus, der eben viel unmittelbarer mit dem Leben verbunden bleibt. Der Neurotiker dagegen bleibt im Gegensatz zu beiden ichgebunden, d. h. nicht nur seine destruktiven, sondern auch seine produktiven Tendenzen bleiben auf das eigene Selbst gerichtet, von dessen Totalität er entweder gar nicht oder nur durch zu weitgehende Spaltung loskommen kann.

Unter diesem Gesichtspunkt ist der Neurotiker unheilbar im Sinne der Normalisierung eines anders eingestellten Typus, wie sie die ideologische Therapie Freuds anstrebt. Seine Formel von der «Wiederherstellung der Leistungs- und Genußfähigkeit» trifft in keinem Punkt auf den Neurotiker zu (wie übrigens auch schon von anderer Seite kritisch bemerkt wurde). Vor allem handelt es sich um keine Wiederherstellung, denn der Neurotiker war niemals im normalen Sinne leistungs- und genußfähig, und er kann auch nicht auf dieses bürgerliche Ideal gebracht werden; er kann lebensfähig werden, d. h. die Angst so weit überwinden, daß sie ihn nicht ständig vom Leben abhält, im günstigsten Falle kann er sogar produktiv (oder wieder produktiv) werden, was aber nicht identisch ist mit Leistungsfähigkeit. Die Heilung von einem Krankheitsprozeß scheint mir fast immer, gewiß aber in «neurotischen» Fällen, mehr als eine bloße Restauration zu bedeuten; wenn der Mensch überhaupt gesund wird, so wird er meist gesünder, als er vor der Krankheit war oder ohne dieselbe hätte sein können, vorausgesetzt, daß nicht die Behandlung (eine organische ebensooft als eine analytische) diese selbstschöpferische «Überheilung» stört; wenn der Mensch nur «wiederhergestellt» wird, so ist er in der Regel noch krank, was auch heißen kann, daß er leicht kleineren Übeln verfällt. Es gibt viele Menschen, die in dieser Weise «kränkeln», ohne je die Kraft oder den Mut zu einer wirklichen Krankheit aufzubringen, die sie ganz gesund machen, wohl aber auch ganz vernichten könnte. ¶

 

Für den Neurotiker ist eben Gesundheit kein medizinischer, sondern ein moralischer Begriff; gesund sein heißt normal sein, heißt anders sein. ¶

 

Wir haben gesehen, wie zu der ursprünglich biologischen Dualität von Trieb und Angst beim Menschen der psychologische Faktor katexochen, der individuelle Wille hinzutritt, der sich teils negativ als Hemmung (Kontrolle), teils positiv als Schöpferdrang manifestieren kann. Dieser Schöpferdrang, den wir auch im Krankheitsprozeß am Werke sahen, ist aber nicht die Sexualität, wie die Psychoanalyse annahm, sondern eine geradezu antisexuelle Tendenz im Menschen, die wir als willensmäßige Beherrschung des Trieblebens charakterisierten. Präziser formuliert verstehe ich unter dem Schöpferdrang das in den Dienst des individuellen Willens gestellte Triebleben, das natürlich auch die Sexualität einschließt. Wenn die Psychoanalyse von Sublimierung des Sexualtriebs spricht, womit seine Ablenkung von der rein biologischen Funktion und seine Hinlenkung auf höhere Ziele gemeint ist, so war dabei die Frage, was ablenkt und was hinlenkt, mit dem Hinweis auf die Verdrängung erledigt worden. Die Verdrängung ist aber ein negativer Faktor, der vielleicht ablenken, niemals aber hinlenken kann, wobei auch noch die weitere Frage offen bleibt, was ursprünglich zur Verdrängung selbst führt. Diese Frage wurde bekanntlich mit dem Hinweis auf die äußere Versagung beantwortet, die auch nur eine negative Hemmung bedeutet, während ich die Auffassung vertrete, daß wenigstens von einem bestimmten Punkte der individuellen Entwicklung an, die willensmäßige Kontrolle an Stelle der Verdrängung tritt und die eigenmächtige Verwendung des Sexualtriebs im Dienste dieses Willens die Sublimierung bewirkt. ¶

 

So unbefriedigend es auch ist, diese dynamischen Vorgänge in typologische Formeln zu fassen, so bleibt es doch der einzige Weg zur Annäherung an eine Verständlichmachung dieses komplizierten Sachverhalts. ¶

 

Ganz schematisch könnte man vielleicht formulieren, daß beim Neurotiker die Angst die Oberhand hat, beim Psychopaten der Trieb und beim Produktiven der Wille, obwohl diese extremen Typen praktisch meist gemischt auftreten und auch dynamisch nicht konstant bleiben. Anderseits scheint klar, daß ein vollwertiges Liebesleben, dessen keiner der drei genannten Typen fähig ist, alle drei Faktoren in harmonischer Weise vereinigt: das Triebleben wird in der Sexualität befriedigt, der individuelle Wille setzt sich in der Wahl des Partners und dessen schöpferischen Umgestaltung durch, während die Angst durch die Liebeshingabe überwunden wird. Hiebei wird auch am wenigsten Schuldgefühl produziert, weil die verschiedenen Teile der Persönlichkeit, das Trieb-Ich, das Willens-Ich und das Angst-Ich miteinander, satt gegeneinander arbeiten und weil sowohl die biologische Schuld an die Gattung als auch die soziale Schuld an den Nebenmenschen durch williges, ja freudiges Geben beglichen wird. ¶

 

Hier wird verständlich, daß das Gefühlsleben eigentlich eine Art konventionellen Zahlungsmittels darstellt (ähnlich unserem Papiergeld), das daher auch nur im Verkehre, d. h. im wechselseitigen Austausch, für bare Münze genommen wird. Denn das Gefühl ist niemals ein wirklicher Verlust, sondern nur ein fiktiver, kein wirkliches Geben, da es ja vor allem immer mein bleibt ... außerdem aber in der Regel nur Ausdruck findet, wenn es vom andern erwidert, d. h. zurückgegeben wird. Ansonsten ist das Gefühl, auch wo es hingebender Art ist, immer nur ein Scheingeben, denn es verbleibt entweder gänzlich im Ich oder wird ihm sofort ersetzt; und auch dabei wird gewöhnlich nur das und nur soviel gegeben als man sicher ist vom andern zurückzuerhalten. Mit anderen Worten, es besteht im Individuum auch die Tendenz zur Aufrechterhaltung eines bestimmten Gefühlsquantums, mittels dessen das Ich momentane Verlust ersetzen, d. h. aber Angstreaktionen vermeiden oder vermindern kann. Dies erklärt manches Rätsel des Gefühlslebens, z. B. warum das Individuum sich wegen seines Gefühls für einen anderen schuldig fühlen kann: weil es eben nur Gefühl und nicht mehr, d. h. nicht wirkliches Geben ist, nur eine Geste, die Geben vortäuscht, um damit das Individuum von seiner Schuld zu befreien, die sie in Wirklichkeit nur vermehrt. Daher findet man oft sehr egoistische Menschen, wie die Neurotiker, starker Gefühlsempfindung fähig, bei völliger Unfähigkeit der Gefühlsäußerung.

 

Der Neurotiker sehnt sich nach einem «normalen» Gefühlsleben als seinem Ideal, ohne zu wissen, daß der Normale seine Gefühle viel mehr als Schutz vor dem wirklichen Erleben, denn als Mittel dazu benützt.

 

Der Naturmensch ist naiverweise von seiner dauernden Existenz überzeugt und schreibt Krankheit und Tod der unheimlichen Wirkung eines von außen in ihn eingedrungenen schädlichen Stoffes zu; seine Therapie besteht darin, diesen Stoff wieder auszuscheiden und dadurch unschädlich zu machen. Die Entfernung des Giftstoffes aus dem Körper erfolgt entweder durch Blutentziehung (wie z. B. bei vielen südamerikanischen Völkern) oder durch Einnahme eines Brechmittels (wie bei verschiedenen nordamerikanischen Indianerstämmen). Mehr symbolischen Charakter trägt schon das Ablegen von Kleidungsstücken (als Teilen des Ichs) oder Waschungen, endlich das bekannte Herausziehen des krankheitsverursachenden Fremdkörpers durch den Medizinmann, das eine erstaunliche Suggestivheilkraft haben soll. Diese Abgaben von Ichteilen oder Körperteilen an Stelle des ganzen Ich (Sterben), die ich als ein Opfer im Sinne der Partialloskaufung auffassen möchte, führte schließlich in der kirchlichen Buße des Mittelalters zu leichteren und schwereren Werken der «Abtötung». Worauf ich hier hinweisen möchte, ist die Tatsache, daß auch die seit ältesten Zeiten geübte magische Beichte, welche die Krankheit durch Wortzauber bannen will, ein solches Herausgeben des Giftstoffes aus dem Innern bedeutet. Denn, sagen die Kagaba, «beichten heißt nichts anderes, als bekennen, was drinnen ist». Also auch die verbale Fassung der Krankheit ist ein Ausscheiden derselben im Wort, wobei allerdings der Sündenbegriff schon vorausgesetzt wird, der dem ursprünglichen Krankheitszauber zu fehlen scheint. Denn anfangs werden Krankheit und Tod von außen, ohne eigenes Verschulden, durch die Bosheit anderer verursacht; aber die Unvermeidlichkeit dieser Ereignisse scheint zur Auffassung der eigenen Schuld geführt zu haben, die dann als Vergehen (Sünde) spezifiziert wurde, am häufigsten als sexuelles Vergehen, weil eben im Sexualakt als einem potentiellen Tod der Körper geschwächt wird.

 

Während ... in der ideologischen Therapie der Analytiker geneigt ist, den Zustand des Patienten, seinen Fortschritt oder die noch zu leistende Aufgabe nach dem zu bemessen, was in der Analyse «herausgekommen» ist, beurteilt die dynamische Therapie die therapeutische Situation jeweils danach, was die Analyse dem Patienten überhaupt und speziell im gegenwärtigen Moment bedeutet; mit andern Worten, was er daraus gemacht, welche Art Geschichtsbildung er damit vorgenommen und welche Rolle er darin sich und dem Analytiker zugewiesen hat. Ich glaube aber nicht, daß es immer notwendig, ja sogar heilsam sei, diese Illusion des Patienten mit Rücksicht auf die Schwierigkeiten der anders gearteten «Realität» zu zerstören und ihm zu zeigen, wie er ... das analytische Erlebnis post festum zu verfälschen sucht. Denn die Realität ist im Grunde nicht anders eingerichtet, nur daß in ihr kollektive oder zumindest sozial anerkannte Illusionen an Stelle der individuellen, wie in der Therapie, fungieren. Was der Patient zunächst aber lernen kann und muß, ist leben überhaupt, und dies scheint eben nur mit Illusionen möglich. Die Analyse spricht hier vornehm von «Sublimation», kann aber damit nur Illusion meinen, denn die eine basiert auf der andern, ist im Grunde dasselbe. Denn der Begriff der Sublimierung schließt den Verzicht auf etwas anderes ein, das zwar primitiver sein mag, aber vielleicht dem Leben näher steht, wirklicher ist und so die Sublimierung zu einer Selbsttäuschung nach dem Prinzip der sauern Trauben stempelt. Es scheint mir aber, daß kein Mensch und kein Menschentypus auf der primitiven Ebene leben kann oder leben will, und daß es nur darauf ankommt, auf welcher Illusionsebene man lebt. Man verweise nicht auf den sogenannten Naturmenschen, der, so primitiv er auch in gewisser Hinsicht sein mag, doch in weit größerem Ausmaß als wir auf einer überrealen Ebene lebt, in die ihn seine magische Weltanschauung hinaufhebt. Es würde hier zu weit führen ..., die verschiedenen Illusionsebenen zu besprechen, die kultivierte Zeiten und Völker, bis in unsere moderne Zivilisation hinein, für die verschiedenen Typen und Klassen von Menschen bereithalten; wir erinnern nur an die Religion, die Kunst, das Spiel, den Sport und gewisse Berufsideologien, die den Menschen nicht nur aus seinem Alltag, sondern aus seinem Selbst herausheben; nicht weil er Erholung, Ablenkung, Zerstreuung, Höheres braucht, sondern weil er auf der Ebene seines eigenen primitiven Selbst überhaupt nicht existieren könnte.

 

In diesem Sinne wäre alles in das Gebiet der Sublimierung fallende Tun und Fühlen, vom rein Ästhetischen bis zum einfach Emotionalen, nicht von außen aufgezwungener Ersatz des wirklichen Lebens und Erlebens, sondern selbst gewollte Schöpfung einer Illusionssphäre, in der ein Scheinleben mit weniger Aufwand und daher auch mit weniger Angst, d. h. aber mit einem lustvollen Gewinn möglich ist.

 

Gewiß muß der Mensch erst lernen, die Realität «therapeutisch» zu verwenden ...

 

Der Neurotiker hat ein schlechtes Verhältnis zur Realität nicht weil sie schlecht ist, sondern weil er sie schaffen, anstatt benützen will. Dasselbe macht oder versucht er ja auch mit sich selbst, indem er sich umzuschaffen sucht, anstatt sich zu akzeptieren und das ihm gegebene Selbst auszunützen. Man wende gegen diese «optimistische» Auffassung der Wirklichkeit, die, wenn richtig benützt, einen helfenden Heilfaktor darstellt, nicht ein, daß der Mensch scheinbar immer eine zweite «bessere» Welt neben der gegebenen imaginieren oder erschaffen mußte, um in der Wirklichkeit und mit ihr leben zu können. Das scheint mir weniger aus dem Bedürfnis nach einer besseren Welt neben der unbefriedigenden Realität erklärbar, als aus der Notwendigkeit, neben der einen gegebenen Welt noch ein andere, zweite zu haben, mittels deren wir die fundamentale Ambivalenz unseres Innenlebens ausbalancieren können. Gewiß ist diese zweite Welt selbstgeschaffen, aber das will noch nicht heißen, daß sie besser ist, verglichen mit der ersten, nur anders, unseren jeweiligen Bedürfnissen und Nöten entsprechend. Um es einfach auszudrücken, wir würden diese andere Welt nicht mit dieser vertauschen, sondern wir brauchen beide, um überhaupt leben zu können. Mit einem Wort, es handelt sich nicht um einen Ersatz dieser Wirklichkeit durch eine andere, sondern um ihre Ergänzung im Sinne der menschlichen Ambivalenz; nicht um Substitution, sondern um Komplettierung. ¶

 

Die viel diskutierte Akzeptierung der Realität ist in Wirklichkeit niemals ein passives Hinnehmen des Gegebenen, sondern ein aktives Sich-Aneignen derselben für die individuellen Zwecke, ein Zueigenmachen derselben. In besonders günstigen Fällen mag diese willensmäßige Aneignung zu einer Um- und Neuschaffung der Realität führen, aber auch für gewöhnlich handelt es sich beim gut angepaßten Individuum um eine Benützung der gegebenen Realität, die therapeutisch wirkt, indem sie mit dem Ich eins wird.

 

Ich habe Neurosen oder besser gesagt neurotisch anmutende Erscheinungen gesehen, die ich viel eher als gesunde Reaktionen auf eine ungesunde Situation denn als Krankheitssymptome bezeichnen möchte. Ja, man kann vielleicht sogar, wie es neuerdings Freuds Ansicht zu sein scheint («Das Unbehagen in der Kultur», 1930), die Neurose überhaupt als eine letzte Reaktion des gesunden Instinkts gegen eine sie vergewaltigende Zivilisation ansehen ... Hier muß das Individuum mehr an der Realität als an sich selbst ändern, um das verlorene Gleichgewicht oder ein neues herzustellen.

 

Das analytische Ziel der rein psychischen Ausbalancierung des Individuums ist ein Ideal, das nicht nur unerreichbar, sondern irreführend ist. Die sozialen Faktoren, so sehr sie auch das Individuum beeinträchtigen mögen, sind doch schließlich die einzigen therapeutisch wirksamen, d. h. diejenigen, die dem Individuum helfen, seine inneren Konflikte und seine ursprüngliche Ambivalenz zu objektivieren. Dazu braucht man aber Personen und Situationen, die außerhalb des eigenen Selbst liegen.

 

Denn die einzige Therapie ist das wirkliche Leben und der Patient muß leben lernen: leben mit seiner Spaltung, seinem Konflikt, seiner Ambivalenz, die ihm keine Therapie wegnehmen kann, denn selbst, wenn sie es könnte, würde sie ihm damit die eigentliche Lebensquelle nehmen. Je stärker die Ambivalenz ausgeprägt ist, desto mehr Leben und Lebensmöglichkeiten wird der Mensch haben, aber auch brauchen, wenn er es nur versteht, in Harmonie mit dem Unvermeidlichen zu leben; aber mit dem Unvermeidlichen in sich selbst, nicht draußen. Dann wird er auch imstande sein, die Realität zu akzeptieren wie sie ist, was aber kein fatalistisches und passives Hinnehmen, sondern ein positives und konstruktives Verarbeiten darstellt.

 

‹O. R., Technik der Psychoanalyse. III. Die Analyse des Analytikers und seiner Rolle in der Gesamtsituation, Leipzig und Wien 1931›