Otto Rank ‹22. April 1884 Wien – 31. Oktober 1939 New York›

 

Geboren in kleinbürgerlichen Verhältnissen als Otto Rosenfeld. Eine höhere Schulausbildung war nicht vorgesehen. Der junge Otto besucht eine Gewerbeschule und wird zum Maschinenschlosser ausgebildet. Sein eigentliches Interesse gilt der Kunst, der Kultur. Er bildet sich autodidaktisch, eignet sich die Weltliteratur an, geht ins Theater, besucht Konzerte, schreibt Tagebuch, dichtet. Er liest Schopenhauer und Nietzsche und schließlich Freud.

 

Als Einundzwanzigjähriger, nach der Lektüre der «Traumdeutung» (1900) und der «Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie» (1905), verfaßt Rank, wie er sich jetzt nennt (offenbar nach einer Figur des sehr bewunderten Ibsen), die knapp hundertseitige Studie «Der Künstler. Ansätze zu einer Sexualpsychologie», in der zum ersten Mal der Versuch unternommen werden sollte, wie Rank später schrieb, «psychoanalytische Gesichtspunkte für das Verständnis der gesamten Kultur- und Menschheitsgeschichte fruchtbar zu machen». Die fulminante Studie faßt in einem ersten Teil auf virtuose Weise die «Hauptpunkte der Freudschen Normalpsychologie» zusammen, um in einem zweiten und abschließenden Teil gleichsam den Keim für Ranks gesamtes späteres Werk zu legen, das, wenn man so will, fünfundzwanzig Jahre später (1930) in die ungleich umfangreichere kulturhistorische Monographie «Kunst und Künstler. Studien zur Genese und Entwicklung des Schaffensdranges» münden sollte. Es geht um den Künstler – konkret um den «wesentlichen Kulturvermittler und -träger» – symbolisch um den schöpferischen Menschen als solchen. Schöpferisch heißt: Der Mensch lebt nicht in einer lediglich vorgefundenen Welt, sondern die biologischen, physikalischen, «historischen» Tatsachen sind immer das Ergebnis der individuellen und kollektiven Phantasietätigkeit der Menschen, Resultat einer jeweils aktuellen Deutung, die diese «Tatsachen» als «Tatsachen» überhaupt erst konstituiert. Und auch die Tatsache Mensch ist nicht einfach vorhanden, vielmehr muß der Mensch sich gleichsam in einem Selbst-Schöpfungsakt immer erst konstituieren. («Der Mensch lebt im Grunde nicht als biologisches Wesen, sondern als moralisches, und dieser Widerspruch erklärt alle seine Probleme», wird Rank später formulieren.)

 

Vermittelt durch Alfred Adler (der in der Nähe der Rosenfeldschen Wohnung als Allgemeinmediziner praktiziert) macht Otto Rank im Frühjahr 1905 Bekanntschaft mit Siegmund Freud und gibt ihm das Manuskript seiner Arbeit über den «Künstler». Freud zeigt sich beeindruckt und nimmt das junge Talent in den kleinen Kreis seiner «Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft» auf. Auf Freuds Anregung erscheint der Text 1907 in Buchform. Freud setzt sich dafür ein, daß Rank seine Reifeprüfung nachholt und studiert. 1911 schließt Rank sein Studium (Psychologie, Philosophie, Philologie, Volkskunde) mit der ersten psychoanalytischen Doktorarbeit ab: «Die Lohengrinsage. Ein Beitrag zur ihrer Motivgestaltung und Deutung». Rank wird Freuds Sekretär, sein engster Mitarbeiter und Vertrauter. 1912 erscheint die bereits 1906 verfaßte Arbeit «Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage. Grundzüge einer Psychologie des dichterischen Schaffens», Rank umfangreichstes Werk, das die gesamte Weltliteratur und die ästhetische Kritik bis auf die Gegenwart Revue passieren läßt und damit einmal mehr Zeugnis von der unglaublichen Belesenheit (und Schaffenskraft) des jungen, früh reifen Autors ablegt. Ab der vierten Auflage firmiert Rank als Co-Autor der «Traumdeutung» (für die er zwei Kapitel beisteuert). Er wird Sekretär der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, ist Mitbegründer und Leiter des Internationalen Psychoanalytischen Verlags und gibt, zusammen mit Hanns Sachs, als Redakteur die Zeitschrift «Imago» sowie die «Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse» heraus.

Auf Freuds Veranlassung hin, beginnt Otto Rank ab 1920 ebenfalls als Analytiker zu arbeiten (als erster Nicht-Mediziner).

 

1924 erscheint sein wohl berühmtestes Buch, auf jeden Fall sein folgenreichstes: «Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse» löst einen Sturm der Empörung unter Freuds Mitarbeitern aus. Rank rückt in seiner Arbeit zum ersten Mal die Mutter in den Mittelpunkt bei der Betrachtung der Entwicklung des Kindes und kommt zu dem Schluß, daß – in den Worten seines Biographen E. J. Lieberman – «Angst, neurotische wie normale, sich von der Geburt ableite – von der ursprünglichen Trennung vom sicheren Hafen des Mutterleibes. Danach kam das Trauma der Entwöhnung und anschließend erst die Kastrationsangst». Für Karl Abraham und Ernest Jones ist das Buch ein bewußter Angriff gegen den väterlichen Mentor Freud. Rank stellt ab sofort in ihren Augen eine Gefahr für die «Bewegung» dar. Der Konflikt verschärft sich, als Rank sich im Zuge der Streitigkeiten tatsächlich aufmüpfig zeigt (er unternimmt eine Amerikareise, hält Vorträge und läßt die Zurückgebliebenen toben). Schließlich kommt es zum Bruch.

 

Rank arbeitet in der Folge als Analytiker in Paris und New York (analysiert u. a. Anaïs Nin und Henry Miller) und läßt sich 1935 endgültig in New York nieder. Nach der Trennung von Freud entwickelt Rank ausgehend vom Gedanken des (selbst-) schöpferischen Menschen seine «Willenspsychologie», die jenen ominösen Schöpferdrang, der den Menschen zum Menschen macht, als «das in den Dienst des individuellen Willens gestellte Triebleben» definiert. Gleichzeitig entwickelt er eine neuartige Form der Therapie, die zeitlich begrenzt angelegt ist (Terminsetzung) und den Beziehungsaspekt zwischen Therapeut und Patient in den Mittelpunkt der therapeutischen Aufgabe stellt.

 

Es gehört sicher zu den unerfreulicheren Kapiteln der Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, daß Freud sich nicht damit begnügte, sich von Rank zu trennen, sondern daß er es zuließ, daß seine engsten Mitarbeiter den «Dissidenten» Rank versuchten mundtot zu machen, in dem sie ihn öffentlich für «krank», für «gestört» erklärten (ein Schicksal, das er mit Sándor Ferenczi teilt). Die Wirkung ist bis heute zu spüren, zumindest in Deutschland, wo erst Ende der neunziger Jahre die Wiederentdeckung des philosophischen Autors und Pioniers der Psychoanalyse einsetzt, in deren Zuge Ranks Hauptwerk, «Kunst und Künstler», siebzig Jahr nach der Niederschrift, zum ersten Mal auf deutsch erscheint (die englische Ausgabe «Art and Artist» erschien 1932 bei Knopf in New York, eine Taschenbuch-Neuausgabe 1989 bei Norton).

 

In den USA, wo Rank sich heimisch fühlte, als Analytiker praktizierte und Vorlesungen hielt (vor allem an der Pennsylvania School of Social Work), sieht die Situation etwas besser aus. Seine wichtigsten Werke waren und sind bis heute auf englisch lieferbar. Rank übte großen Einfluß auf Psychologen, Psychiater, Schriftsteller und andere Künstler aus. Doch sein Ruhm war nicht groß genug, um zu verhindern, «daß sein Werk von vielen als Steinbruch genutzt (wurde), aus dem sie das Material für ihre Neubauten geholt haben, ohne den Fundort anzugeben» (Bertram Müller).

 

Otto Rank starb im Alter von fünfundfünfzig Jahren – einen Monat nach Sigmund Freud – in New York an einer Infektion.

 

*

 

Viele von Ranks Werken sind heute in «Reprints» erhältlich. Hier eine Top-10-Liste in meiner ganz persönlichen Rank-Ordnung:

 

«Kunst und Künstler. Studien zur Genese und Entwicklung des Schaffensdranges», hg. von Hans-Jürgen Wirth unter Mitarbeit von Ludwig Janus, E. James Lieberman, Elke Mühlleitner und Bertram Müller, Gießen: Psychosozial-Verlag 2000.

 

«Technik der Psychoanalyse. Band I – III», hg. von Ludwig Janus und Hans-Jürgen Wirth, mit einer Einführung von Ludwig Janus, Gießen: Psychosozial-Verlag 2006 (Bd. II und III sind in Amerika unter dem Titel «Will Therapy» mit einem Vorwort von Jessy Taft erschienen).

 

«Wahrheit und Wirklichkeit. Entwurf einer Philosophie des Seelischen», Graz: Edition Geheimes Wissen 2015.

 

«Seelenglaube und Psychologie. Eine prinzipielle Untersuchung über Ursprung, Entwicklung und Wesen des Seelischen», Graz: Edition Geheimes Wissen 2015.

 

«Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie», Graz: Edition Geheimes Wissen 2015.

 

«Der Mythus von der Geburt des Helden. Versuch einer psychologischen Mythendeutung», Wien: Verlag Turia + Kant 2000.

 

«Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse», mit einem Vorwort von Peter Orban, Frankfurt a. M: Fischer Taschenbuch 1988 (antiquarisch erhältlich; eine Neuausgabe außerdem im Psychosozial-Verlag).

 

«Beyond Psychology», New York: Dover Publications 2015. (Das auf englisch verfaßte Buch erschien zuerst 1941 als Privatdruck).

 

Erfreulich ist, daß sich im «Internet Archive» (archive.org) die wichtigsten deutschen Originalausgaben von Otto Rank im PDF-, Kindle- oder sonstigem Format lesen und (gratis oder gegen Spende) herunterladen lassen. Ich empfehle die sonst nur teuer antiquarisch erhältlichen: «Grundzüge einer Genetischen Psychologie», I. und II. Teil.

 

 

*

 

Im Zuge der Herausgabe der deutschen Fassung von «Kunst und Künstler» ist auch die glänzende Biographie von E. James Lieberman («Acts of Will», 1984; Taschenbuch-Neuausgabe 1993), übersetzt von Anni Pott, im Psychozial-Verlag erschienen: «Otto Rank. Leben und Werk» (Gießen 1997).

 

Bereits 1982 erschien im Kindler Verlag die Monographie «Otto Rank. Das Lebenswerk eines Dissidenten der Psychoanalyse» von Anton Zottl, der im ersten Teil des Buches einen ebenso gedrängten, wie informationsreichen biographischen Abriß bietet und im zweiten und dritten Teil den Versuch einer Systematisierung und gleichsam «Harmonisierung» der Rankschen Gedanken unternimmt. Rank selbst hätte ein solches Unterfangen höchstwahrscheinlich tunlichst vermieden, wenn ihm denn noch mehr Lebenszeit vergönnt gewesen wäre. Ranks Gedanken handeln nicht nur von dynamischen, nie fixierbaren Prozessen, sondern sie sind selber auffallend dynamisch, lebendig vorgetragen und entwickeln sich im Grund von Buch zu Buch in einer Art «work in progress». Rank wußte selbstverständlich auch: «So unbefriedigend es sein mag, diese dynamischen Vorgänge in typologische Formeln zu fassen, so bleibt es doch der einzige Weg einer verständlichen Darstellung – wenn man die dabei notwendige Simplifizierung nicht vergißt.» (Auf die Frage, ob man seine Bücher lesen müsse, wenn man von ihm behandelt werden wolle, antwortete er einmal: «Lesen Sie sie, wenn Sie mögen, aber vergessen Sie sie, handeln Sie nicht danach. Lesen sie ‹Huckleberry Finn› – da steht alles drin.»)

 

(Ein eigener kleiner biographischer Abriß und Deutungsversuch erschien unter dem Titel «Wissenswertes über Rank» in der Zeitschrift ‹Konkret› im Okt. 2016; hier nachzulesen.)

 

Nicht unerwähnt bleiben soll ein Buch, das mich überhaupt erst zu Rank geführt hat. Der Titel der deutschen Ausgabe ist irreführend, ja dummdreist: «Die Überwindung der Todesfurcht». Das Buch wird auch unter dem Titel «Dynamik des Todes» geführt, was der Sache schon näher kommt, und heißt auf englisch tatsächlich und zutreffend «The Denial of Death». Es stammt von Ernest Becker und wurde 1974 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Darin entwickelt Becker den Gedanken, daß es gerade die Unmöglichkeit, die Todesangst zu überwinden, ist, die den Menschen zur Kultur antreibt, die ihrerseits eine einzige große Todesabwehr-und-Verleugnungsideologie ist. Diesen Gedanken hatte Becker von Rank, und Beckers Buch (obwohl es eigentlich darauf ausgeht, die Psychoanalyse «auf den noch immer einzig dastehenden Kierkegaard zurückzuführen») ist denn auch nicht zuletzt eine große Hommage an den großen Rank, wie Becker in seinem Vorwort ausdrücklich bemerkt, aus dem ich abschließend einen Passus zitiere:

 

«Die Auseinandersetzung mit Ranks Werk ist überfällig, und wenn sie mir gelungen ist, hat sich wahrscheinlich die Hauptaufgabe des vorliegenden Buches erfüllt.

Weil Ranks Thesen in diesem Buch eine derart prominente Stellung einnehmen, werden einige wenige Worte der Einführung nützlich sein. Frederick Perls hat einmal gesagt, Ranks Schrift ‹Kunst und Künstler› sei ‹über jede Kritik erhaben›. Ich entsinne mich genau, seinerzeit derart von diesem Urteil überrascht gewesen zu sein, daß ich mir das Buch gleich besorgte, denn ich konnte mir einfach nicht vorstellen, etwas Wissenschaftliches könne ‹über jede Kritik erhaben› sein. Auch das Werk Freuds war für mich – als ein Produkt des menschlichen Geistes – selbstverständlich kritisierbar. Aber Perls hatte recht: Rank war in der Tat – wie die jungen Leute sagen – einsame Spitze. Es genügt nicht, nur dieses oder jenes in seinem Werk zu loben, denn das ganze Werk ist in seiner Einmaligkeit einfach phantastisch. Es ist wie ein Geschenk: jenseits des Notwendigen. Ich vermute, einer der Gründe hierfür, abgesehen von seiner Genialität, war, daß Ranks Thesen immer mehrere Wissensgebiete umfaßten; sprach er zum Beispiel von ethnologischen Fakten, und man erwartete ethnologische Einsichten, so bekam man etwas anderes, was darüber hinausging. Heute, in unserer Welt der Überspezialisierung, erwarten wir solche freudigen Überraschungen nicht mehr.

Ich hoffe vor allem eins: daß meine Auseinandersetzung mit Rank andere zu seinen Büchern führt. Für ihre Lektüre gibt es keinen Ersatz.»

 

 

Otto Rank (li.) im Kreis des ‹Geheimen Komitees›, mit S. Freud, K. Abraham, M. Eitingon, S. Ferenczi, E. Jones, H. Sachs (1922)
Otto Rank (li.) im Kreis des ‹Geheimen Komitees›, mit S. Freud, K. Abraham, M. Eitingon, S. Ferenczi, E. Jones, H. Sachs (1922)